Robert Ketelhohn hat geschrieben:Sehr geehrte Damen und Herren,
auf die Gefahr hin, des einen oder andern Lesers Geduld arg zu strapazieren, möchte ich der schier endlosen Debatte um das pro multis der Wandlungsworte eine weitere Wortmeldung beifügen; „für viele“ oder „für alle“, das ist die Gretchenfrage, an die mancher seine Seligkeit gehängt zu haben scheint.
Zunächst zum philologischen Aspekt der Frage. Vorab eine Klarstellung, zumal allenthalben mit deutschen, lateinischen, griechischen, aramäischen und französischen Versionen jongliert wird: Maßgeblich ist in der Lateinischen Kirche allein der lateinische Text des Meßbuchs, nicht etwa der Bibeltext. Immerhin ist die Liturgie älter als die Heilige Schrift. Gleichwohl beruhen beide auf demselben Fundament, dem Zeugnis der Apostel. Insofern ist auch der Blick in den biblischen Text berechtigt. Auch hier gilt aber, daß maßgeblich in der Lateinischen Kirche allein der approbierte lateinische Text ist, nicht der griechische Urtext. Dies zur rechten Einordnung der nachfolgenden Ausführungen. – Was die Überlegungen betrifft, welche Worte Jesus damals denn auf aramäisch tatsächlich – im Original sozusagen – gebraucht habe, so sind sie zwar interessant, führen in der hier zu erörternden Frage aber nicht weiter; es ist noch nicht einmal bewiesen – nur sehr wahrscheinlich –, daß er sich beim letzten Abendmahl, als er die Eucharistie und das Priesteramt einsetzte, überhaupt des Aramäischen bedient habe, denn einerseits beherrschte er gewiß das Griechische, andererseits könnte auch Hebräisch als jüdische Kultsprache in Betracht kommen.
Maßgeblich also ist das Latein, und dort heißt es pro multis, nie und nirgends pro omnibus. Also „für viele“, nicht „für alle“. Die heute übliche, approbierte deutsche Fassung ist also eine Fehlübersetzung und darum zu revidieren. Basta! Damit könnte man die Diskussion beenden. Dennoch – die philologischen Einwände verdienen es, ernst genommen zu werden. Gelegentlich wird ins Feld geführt, daß das Lateinische auf Grund seines Mangels an Artikeln griechische Texte mitunter nicht exakt wiederzugeben vermöge; in der Tat kennzeichnet im Griechischen – ähnlich wie im Deutschen – der Artikel die bestimmte oder unbestimmte Geltung eines Nomens. Auf lateinisch wird diese Unterscheidung meist erst durch den weiteren Kontext deutlich. Konkret wird nun behauptet – von ebenso hochwürdigen wie hochgelehrten Prälaten etwa habe ich es so vernommen –, das griechische οἱ πολλοί – wörtlich „die vielen“, also mit bestimmtem Artikel – bedeute „alle“, während das artikellose πολλοὶ unserem „viele“ entspreche. Da nun das Latein keinen Artikel kenne, übersetze es beides schlicht mit multi, was jedoch im ersteren Falle falsch sei: Dort müsse es korrekterweise omnes heißen. Bemerkenswerterweise hat die französische Fassung pour la multitude („für die Vielheit, für die Menge“), womit dem genannten Argument Rechnung getragen werde soll, daß es wörtlich korrekt „die vielen“ heiße, ohne aber textentstellend ein andere Vokabel – nämlich „alle“ – zu wählen.
Dagegen ist zweierlei einzuwenden: Erstens wird in der griechischen Version der Wandlungsworte überhaupt kein Artikel gebraucht, weder in der Liturgie noch in der Schrift; es heißt schlicht ὑπὲρ πολλῶν oder περὶ πολλῶν – eben pro multis oder „für viele“. Auch das französische pour la multitude mit bestimmtem Artikel ist also schlicht falsch. Zum andern ist es zwar richtig, daß griechisches οἱ πολλοὶ eine Gesamtheit bezeichnet, so als ob ich auf deutsch „die vielen“ sagte, es wird aber dennoch eine vom Begriff „alle“ – griechisch πάντες – verschiedene Vokabel gebraucht, so daß die einzig zutreffende deutsche Übersetzung „die vielen“ wäre, nicht aber „alle“. Die französische Fassung käme dem also immerhin nahe, wenn denn im Griechischen der bestimmte Artikel stünde. Wo dieses οἱ πολλοὶ verwendet wird, drückt es immerhin aus, daß eine große Zahl gemeint ist, während πάντες auch schon auf eine Gesamtheit von dreien oder vieren angewendet werden kann; welche Gesamtheit aber gemeint ist, ergibt sich erst aus dem Kontext, es ist also keineswegs a priori klar, daß etwa von der ganzen Menschheit die Rede sei. Wie auch immer, in den Wandlungsworten ist recht indifferent nur von „vielen“ die Rede. Philologisch läßt sich also weder das „für alle“ noch ein eventuell alternatives »für die vielen« begründen.
Damit kommen wir zur dogmatischen Seite der Frage. Von Verfechtern des „für alle“ wird behauptet, Jesus habe sein Blut doch für alle vergossen, nicht bloß für viele, darum müsse man, um den wahren Glauben richtig auszudrücken, eben „für alle“ sagen. Solche Argumentation offenbart allerdings eine erschreckende Mißachtung der eigenen Worte Christi, wie sie von der Liturgie der Kirche und von den inspirierten Evangelisten treulich überliefert sind, ja sie stellt die Kirche nicht bloß der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart – denn in der lateinischen Fassung steht ja nach wie vor pro multis – wenigstens implicite unter Häresieverdacht. Wie absurd eine solche Haltung ist, braucht nicht eigens dargelegt zu werden; sie wandelt selbst gefährlich nah am Rand der Häresie.
Leider hört man von der „Gegenseite“ (zum Teil sedisvakantistischer Provenienz) mitunter Argumente, die nicht besser sind. Wohl um Irrlehren von einer „Apokatastasis“ abzuwehren, einer Allversöhnung am Ende der Dinge, nach der es keine Verdammnis mehr geben soll – schon der Erzketzer Origenes hatte solches behauptet, und viele suchen heute nach derlei Ohrenkitzel –, wird da suggeriert, Jesus habe sein Blut eben nicht für alle vergossen, sondern bloß für die, die gerettet werden, und dies seien nun einmal nicht alle, vielmehr fielen diejenigen, die die Erlösung nicht annähmen, der Verdammnis anheim. – Zwar ist die Hölle real, es gibt auf ewig Verdammte, und wer von der massa damnationis spricht, hat viele große Heilige zu Zeugen; soweit haben sie recht. Gleichwohl stehen sie mitten in der Häresie, die mit solchen Argumenten gegen das „für alle“ zu Felde ziehen, denn sie bezichtigen letztlich die beständige Lehre der Kirche, ja die Heilige Schrift selbst des Irrglaubens. Jesus Christus hat in Wahrheit sein Blut für alle vergossen. Das ist immer wieder von Ketzern bestritten worden, immer wieder hat die Kirche dagegen die gesunde Lehre dargelegt; am klarsten vielleicht in der Erklärung der Synode von Quierzy (Concilium Carisiacum) aus dem Jahre 853 »Über den freien Willen des Menschen und über die Vorherbestimmung«. Es lohnt sich, diese Erklärung insgesamt zu lesen:
»1. Gott der Allmächtige hat den Menschen ohne Sünde, rechtschaffen und mit freiem Willen ausgestattet erschaffen und ins Paradies gestellt; er wollte, daß dieser in der Heiligkeit der Gerechtigkeit bleibe. Weil der Mensch von dem freien Willen übel Gebrauch machte, sündigte er und ist gefallen und ward zur „Masse der Verdammnis“ [vgl. Augustinus, Epist. 190,3,9; ders., De dono perseverantiæ 14,35] des ganzen menschlichen Geschlechts. Der gute und gerechte Gott aber hat aus eben dieser Masse der Verdammnis gemäß seinem Vorherwissen erwählt, welche er durch die Gnade vorherbestimmt hat [Rm 8,29 ff.; Eph 1,11] zum Leben, und hat ihnen das ewige Leben vorherbestimmt; von den übrigen jedoch, die er durch gerechtes Urteil in der Masse der Verdammnis beließ, wußte er vorher, daß sie ins Verderben gehen würden, aber er hat ihnen nicht vorherbestimmt, ins Verderben zu gehen; doch er hat ihnen, weil er gerecht ist, ewige Strafe vorherbestimmt. Und darum sagen wir, daß es nur eine einzige Vorherbestimmung gibt, die entweder auf das Geschenk der Gnade abzielt oder auf gerechte Vergeltung.
»2. Die Freiheit des Willens haben wir im ersten Menschen verloren, und wir haben sie durch Christus unsern Herrn empfangen; wir haben sowohl den freien Willen zum Guten, unter Vorausgang und Hilfe der Gnade, als auch den freien Willen zum Bösen in Ermangelung der Gnade. Den freien Willen aber haben wir, weil er durch die Gnade befreit und durch die Gnade von der Verdorbenheit geheilt ist.
»3. Gott der Allmächtige „will, daß alle Menschen“ ohne Ausnahme „gerettet werden“ [I Tim 2,4], wiewohl nicht alle gerettet werden. Daß aber manche gerettet werden, ist Geschenk dessen, der rettet; daß hingegen manche ins Verderben gehen, ist das Verdienst derer, die ins Verderben gehen.
»4. Wie es keinen Menschen gibt, gab oder geben wird, dessen Natur in Christus Jesus unserm Herrn nicht angenommen wäre, so gibt, gab und wird es keinen Menschen geben, für den er nicht gelitten hätte, wiewohl nicht alle durch das Mysterium seines Leidens erlöst werden. Daß nun aber nicht alle durch das Mysterium seines Leidens erlöst werden, liegt nicht an der Größe und Fülle des Lösepreises, sondern ist denen anzulasten, die untreu sind und nicht glauben mit dem Glauben, „der durch die Liebe wirkt“ [Gal 5,6]. Denn der Kelch des menschlichen Heils, welcher bereitet ist aus unserer Schwäche und göttlicher Kraft, hat es zwar an sich, allen zu nützen; doch wenn er nicht getrunken wird, heilt er nicht.« (DS 621 – 624; Übersetzung des Verfassers).
Es ist also dogmatisch völlig korrekt, die Formel „für alle“ zu gebrauchen. Ob es auch opportun ist, das ist eine andere Frage – die ich entschieden verneine. Gleichwohl muß in der Debatte berücksichtigt werden, daß auch die volkssprachlichen Meßbücher, die sich für jenes „für alle“ entschieden haben, von Rom approbiert sind. Man darf, ja man soll sich für eine Revision der fehlerhaften Übersetzungen einsetzen, und nicht nur hier: An anderen Stellen wird man noch viel „dickere Hunde“ finden. Aber stets mit Liebe zur Kirche!
Mit freundlichem Gruß
Robert Ketelhohn