Ich habe jetzt mal einige zu verschiedenen Aspekten des hier diskutierten Themas passende Stellen aus dem von Williamson inkriminierten bzw. in der Presse kolportierten 2. Bd. von Ratzingers Jesus von Nazareth herausgesucht und zusammengestellt. Das ist vielleicht als Grundlage besser als die Pressefitzel oben.Robert Ketelhohn hat geschrieben:Ich weiß nicht, was Benedikt geschrieben hat, (...)
Falls das hier zu lang sein sollte oder wenn urheberrechtliche Bedenken bestehen (die wären aber glaube ich unbegründet, es sind ja nur Zitate, auf die sich die Diskussion hier bezieht) oder wenn es besser in einen anderen Strang passen sollte, bitte ich einen Moderator, es einfach zu löschen bzw. zu verschieben
Joseph Ratzinger hat geschrieben:S. 208-209 („die Juden“ und der „Ochlos“)
Aber fragen wir zunächst: Wer genau waren die Ankläger? Wer hat auf das Todesurteil Jesu gedrängt? In den Antworten der Evangelien gibt es Differenzen, die wir bedenken müssen. Nach Johannes sind es einfach „die Juden“. Aber dieser Ausdruck bezeichnet bei Johannes keineswegs – wie der moderne Leser vielleicht zu lesen geneigt ist – das Volk Israel als solches, noch weniger hat er „rassistischen“ Charakter. Schließlich war Johannes vom Volk her selbst Jude, genauso wie Jesus und all die Seinigen. Die ganze Urgemeinde bestand aus Juden. Bei Johannes hat dieses Wort eine präzis und streng umgrenzte Bedeutung: Er benennt damit die Tempel-Aristokratie. So ist der Kreis der Ankläger, die den Tod Jesu betreiben, im vierten Evangelium genau umschrieben und klar begrenzt: eben die Tempel-Aristokratie – auch sie freilich nicht ausnahmslos, wie der Hinweis auf Nikodemus (7,50ff) zeigt.
Bei Markus erscheint im Kontext der Pascha-Amnestie (Barabbas oder Jesus) der Kreis der Kläger ausgeweitet: Der „Ochlos“ tritt in Erscheinung und optiert für die Freigabe des Barabbas. „Ochlos“ bedeutet zunächst einfach einen Haufen Leute, „die Menge“. Das Wort hat nicht selten einen negativen Beiklang in Richtung „Pöbel“. Jedenfalls ist damit nicht „das Volk“ der Juden als solches bezeichnet. Bei der Pascha-Amnestie (die wir freilich aus anderen Quellen nicht kennen, an der aber nicht zu zweifeln ist) hat das Volk – wie bei solchen Amnestien üblich – ein Vorschlagsrecht, das in der „Akklamation“ zum Ausdruck kommt: Der Zuruf des Volkes hat in diesem Fall rechtlichen Charakter (vgl. Pesch, Markusevangelium II, S. 466). Faktisch handelt es sich bei diesem „Haufen“ um die für die Amnestie mobilisierte Anhängerschaft des Barabbas, der als Aufrührer gegen die römische Macht natürlich auf eine Anzahl von Freunden rechnen durfte. Anwesend waren also die Parteigänger des Barabbas, der „Haufe“, während die Anhänger Jesu aus Furcht verborgen blieben (…)
Joseph Ratzinger hat geschrieben:S. 210-211 (zu Matthäus 27,11-26: die Hartnäckigkeit des „ganzen“ jüdischen Volks und der „unschuldige“ Pilatus)
Matthäus drückte damit sicher nicht einen historischen Befund aus: Wie hätte das ganze Volk in diesem Augenblick anwesend sein und nach Jesu Tod rufen können? Die historische Realität erscheint offenkundig richtig bei Johannes und bei Markus. Die eigentliche Klägergruppe sind die bestehenden Tempelkreise und im Rahmen der Pascha-Amnestie gesellt sich ihnen der „Haufe“ der Parteigänger des Barrabas bei.
Man wird wohl Joachim Gnilka darin recht geben dürfen, dass Matthäus – das Historische übersteigend – eine theologische Ätiologie formulieren wollte, mit der er sich das furchtbare Geschick Israels im Jüdisch-Römischen Krieg erklärt, in dem Land, Stadt und Tempel dem Volk genommen wurden (vgl. Matthäusevangelium II, S. 459).
Matthäus denkt dabei wohl an Jesu Worte, in denen dieser das Ende des Tempels vorhersagt: „Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt. Darum wird euer Haus verlassen …“ (Mt 23,37f; vgl. bei Gnilka den ganzen Abschnitt „Gerichtsworte“, S. 295–308).
Wenn nach Matthäus das „ganze Volk“ gesagt haben habe: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (27, 25), dann wird der Christ sich daran erinnern, dass Jesu Blut eine andere Sprache spricht als das Blut Abels (Hebr 12,24): Es ruft nicht nach Rache und Strafe, sondern es ist Versöhnung. Es wird nicht gegen jemand vergossen, sondern es ist Blut, vergossen für viele, für alle. „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren.
Ihn (Jesus) hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut“, sagt Paulus (Röm 3,23.25). Wie man den Spruch des Kaiphas über den notwendigen Tod Jesu vom Glauben her ganz neu lesen muss, so auch das Matthäus-Wort vom Blut: Vom Glauben her gelesen heißt es, dass wir alle die reinigende Kraft der Liebe brauchen, die sein Blut ist. Es ist nicht Fluch, sondern Erlösung, Heil. Nur von der Abendmahls- und Kreuzestheologie des ganzen Neuen Testaments her erhält das matthäische Blutwort seinen richtigen Sinn.
Was das Thema Judenmission betrifft, nimmt Ratzinger Bezug auf Bernhard von Clairvaux und lässt dessen Biografin Hildegard Brem zu Wort kommen:Joseph Ratzinger hat geschrieben:S. 223-224 („Ecce homo“, Menschenwürde, Pilatus’ Verantwortung)
Als diese Spottgestalt wird Jesus zu Pilatus geführt, und Pilatus stellt ihn der Menge – der Menschheit – vor: „Ecce homo – Seht den Menschen“ (Joh 19,5). Der römische Richter ist wohl erschüttert über die geschlagene und verhöhnte Gestalt dieses geheimnisvollen Angeklagten. Er zählt auf das Mitleid derer, die ihn sehen.
„Ecce homo“ – das Wort erhält von selbst eine über den Augenblick hinausreichende Tiefe. In Jesus erscheint der Mensch überhaupt. In ihm erscheint die Not aller Geschlagenen, Zerschundenen. in seiner Not spiegelt sich die Unmenschlichkeit menschlicher Macht, die den Machtlosen so niedertritt. In ihm spiegelt sich, was wir Sünde nennen: wie der Mensch wird, wenn er sich von Gott abwendet und die Weltherrschaft selbst in die Hände nimmt.
Aber auch das andere gilt: Seine innerste Würde kann Jesus nicht genommen werden. Der verborgene Gott bleibt in ihm gegenwärtig. Auch der geschlagene und erniedrigte Mensch bleibt Bild Gottes. Seit Jesus sich schlagen ließ, sind gerade die Verwundeten und Geschlagenen Bild des Gottes, der für uns leiden wollte. So ist Jesus mitten in seiner Passion Bild der Hoffnung: Gott steht auf Seiten der Leidenden.
Am Ende setzt sich Pilatus auf den Richterstuhl. Noch einmal sagt er: „Seht euren König!“ (Joh 19,14). Dann spricht er das Todesurteil.
Zwar war ihm die große Wahrheit, von der Jesus gesprochen hatte, unzugänglich. Aber die konkrete Wahrheit dieses Falls kannte er genau. Er wusste, dass dieser Jesus kein politischer Verbrecher war und dass das von ihm beanspruchte Königtum keine politische Gefahr darstellte - dass er also freizusprechen war.
Als Präfekt vertrat er das römische Recht, auf dem die Pax Romana beruhte - der Friede des die Welt tonspannenden Reiches. Dieser Friede war zum einen durch die militärische Macht Roms gesichert. Aber durch militärische Macht allein kann man keinen Frieden herstellen. Friede beruht auf Gerechtigkeit. Die Stärke Roms war sein Rechtssystem, die Rechtsordnung, auf die die Menschen sich verlassen durften. Pilatus - wiederholen wir es - kannte die Wahrheit, um die es in diesem Fall ging, und wusste daher, was die Gerechtigkeit von ihm verlangte.
Aber am Schluss siegte in ihm die pragmatische Auffassung des Rechts: Wichtiger als die Wahrheit des Falls ist die friedenstiftende Kraft des Rechts, mochte er denken und sich innerlich rechtfertigen. Eine Freisprechung des Unschuldigen konnte nicht nur ihm persönlich Schaden bringen - die Furcht davor war gewiss ein entscheidendes Motiv seines Handelns -; sie konnte auch weiteren Ärger und Unruhen hervorrufen, die gerade in den Pascha-Tagen vermieden werden mussten.
Der Friede ging ihm in diesem Fall über die Gerechtigkeit. Nicht nur die große, unzugängliche, sondern auch die konkrete Wahrheit des Falls musste zurücktreten: So glaubte er, den eigentlichen Sinn des Rechts zu erfüllen – seine friedenstiftende Funktion. So mochte er sein Gewissen beruhigen. Im Augenblick schien alles gut zu gehen. Jerusalem blieb ruhig. Aber dass der Friede letztlich nicht gegen die Wahrheit geschaffen werden kann, sollte sich später zeigen.
Joseph Ratzinger hat geschrieben:S. 60 (Juden- und Heidenmission)
Dabei steht stets auch die Frage nach der Sendung Israels im Hintergrund. Wir sehen heute mit Erschütterung, wie viele folgenschwere Missverständnisse hier die Jahrhunderte belastet haben. Eine neue Besinnung kann aber doch erkennen, dass bei allen Verdunklungen immer wieder Ansätze des rechten Verstehens zu finden sind.
Ich möchte hier auf das verweisen, was Bernhard von Clairvaux seinem Schüler Papst Eugen III. zu diesem Punkt mit auf den Weg gegeben hat. Er erinnert den Papst daran, dass ihm nicht nur die Sorge für die Christen aufgetragen ist, sondern: Du bist „auch der Schuldner der Ungläubigen, der Juden, der Griechen und Heiden“ (De cons. III/I,2). Gleich darauf aber verbessert er sich und präzisiert: „Zugegeben, hinsichtlich der Juden entschuldigt dich die Zeit, für sie ist ein bestimmter Zeitpunkt festgelegt, dem man nicht vorgreifen kann. Die Heiden müssen in voller Zahl vorausgehen. Doch was sagst du bezüglich der Heiden selbst? ... Was kam deinen Vorgängern in den Sinn, dass sie ... die Glaubensverkündigung unterbrachen, solange der Unglaube noch verbreitet ist? Aus welchem Grund ... ist das rasch dahineilende Wort zum Stillstand gekommen?“ (De cons. III/I,3, zit. nach Winkler I, S. 707).
Hildegard Brem kommentiert diese Stelle so: „Im Anschluss an Röm 11,25 muss sich die Kirche nicht um die Bekehrung der Juden bemühen, da der von Gott dafür festgesetzte Zeitpunkt 'bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben' (Röm 11, 25) abgewartet werden muss. Im Gegenteil, die Juden sind selbst eine lebendige Predigt, auf die die Kirche hinweisen muss, da sie das Leiden des Herrn vergegenwärtigen ...“ (Winkler I, S. 834).
Die Ankündigung der Zeit der Heiden und der darin enthaltene Auftrag ist ein Kernstück der eschatologischen Botschaft Jesu. Der besondere Auftrag zur Heidenmission, den Paulus vom Auferstandenen empfangen hat, ist fest verankert in der Botschaft, die Jesus vor seinem Leiden seinen Jüngern übergab. Die Zeit der Heiden – „die Zeit der Kirche“ –, die, wie wir gesehen haben, Überlieferungsgut aller Evangelien ist, stellt ein wesentliches Element der eschatologischen Botschaft Jesu dar.
Joseph Ratzinger hat geschrieben:S. 197-198 (Sammlung der Kinder Israels)
Johannes hat dem Wort des Kajaphas, das faktisch einem Todesurteil gleichkam, noch einen Kommentar aus dem Blickfeld des Glaubens der Jünger hinzugefügt. Er betont zunächst – wie schon gesagt –, dass das Wort vom Sterben für das Volk aus prophetischer Eingebung gekommen sei, und fährt dann fort: „Aber er sollte nicht nur für das Volk sterben, sondern auch, um die getrennten Kinder Gottes in eins zu sammeln“ (11,52). Dies ist zunächst durchaus jüdische Sprechweise. Sie drückt die Hoffnung aus, die über die Welt hin zerstreuten Israeliten würden in der Zeit des Messias im eigenen Land gesammelt (vgl. Barrett, S. 403).
Aber im Mund des Evangelisten nimmt das Wort eine neue Bedeutung an. Die Sammlung richtet sich nicht mehr auf ein geographisch bestimmtes Land, sondern auf das Einswerden der Kinder Gottes: Das Stichwort des Hohepriesterlichen Gebets Jesu klingt hier schon an. Die Sammlung zielt auf die Einheit aller Glaubenden und verweist so auf die Gemeinschaft der Kirche und freilich über sie hinaus auf die endgültige eschatologische Einheit.
Die zerstreuten Kinder Gottes sind nicht mehr bloß Juden, sondern Kinder Abrahams in dem tiefen Sinn, wie ihn Paulus entwickelt hat: Menschen, die wie Abraham Ausschau halten nach Gott; Menschen, die bereit sind, auf ihn zu hören und seinem Anruf zu folgen – adventliche Menschen, könnten wir sagen. Die neue Gemeinschaft aus Juden und Heiden wird sichtbar (vgl. Joh 10,16). So öffnet sich von hier aus auch wieder ein Zugang zum Abendmahlswort von den „vielen“, für die der Herr sein Leben gibt: Es geht um die Sammlung der „Kinder Gottes“, das heißt aller, die sich von ihm rufen lassen.