Lieber Werner!
Nicht Theokratie – aber wie wäre es mit kultureller Differenzierung?
Ausgangspunkt der ganzen Überlegung war die wohlfeile Entrüstung über die Türkei und den Versuch, ein Gesetz zur Strafbarkeit des Ehebruchs einzurichten.
Nach den Äußerungen des türkischen Justizministers konnte ich das durchaus auch so verstehen, daß es sich um eine rechtliche Bestimmung zum Schutz der Monogamie handelt. Während das säkulare Staatswesen der Türkei die zivilrechtliche Einrichtung der Polygamie nicht mehr kennt, führen örtliche Imame immer noch religiöse Trauungen von bereits verheirateten Männern durch. (Quelle: Christ in der Gegenwart*)
Was in unserer Lesart nach Restriktion klingt, kann für örtliche Sitten durchaus liberalisierenden, Rechtssicherheit (für Frauen!) stiftenden Charakter haben.
Weder Robert noch Nietenolaf haben, wenn ich beide richtig verstanden habe, sich für eine Einführung ähnlicher Rechtsnormen nach göttlichem Recht ausgesprochen. (Wenn ich mich nicht irre, hat sogar Robert darauf verwiesen, daß für ein ähnliches Gesetz in Deutschland keine gesellschaftliche Akzeptanz bestünde!) Politiker, die ein solches Gesetz für Deutschland ausfechten wollten, müßten ohnehin ihre Abewahl fürchten, weil sie nach dem Ende ihrer Immunität aus dem Gefängnis nicht mehr herauskämen …
Es ging, richtige Interpretation der Beiträge unserer Freunde vorausgesetzt, darum, den Finger auf die Wunde zu legen und anzufragen, was wir zur Zeit für die konstituierenden Werte Europas halten.
Ich fasse zusammen: weder ist meiner Ansicht nach die Gestzesvorlage in der Türkei unbedingt theokratisch – sogar im Gegenteil! – aber das sollte jemand analysieren, der sich mit der Türkei auskennt, noch ist es die Auffassung der beiden Teilnehmer Robert und Nietenolaf.
Ich könnte ja vielleicht auch einmal provozierend fragen, was denn am «theokratischen Denken» so schlimm sein soll. Letztlich ist ja die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Grundgesetz, in der Abwägung der Werte nicht dem Kollektiv, sondern der unveräußerlichen Würde des Einzelnen Priorität einzuräumen, «theokratisch» – vom Naturrecht her – zu denken und zu verstehen.
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*Den «Christ in der Gegenwart» halte ich an dieser Stelle für sehr vertrauenswürdig. Es würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, ihm ein Übermaß an Katholizität zuzuordnen … (Hehehe.)