Diese Argumentation ist aus der Soziologie als "die normative Kraft des Faktischen" bekannt. Sie verkennt die conditio humana und sieht den Gesetzgeber lediglich als einen Notar des Volkswillens an.Tritonus hat geschrieben:Gut zusammengefasst, finde ich.Raphael hat geschrieben:Einmal ganz säkular argumentiert:
Gesetze wirken bewußtseinsbildend!
Die jeweilige menschliche Gesellschaft, die diese Gesetze verabschiedet hat, verpflichtet mit der Verabschiedung naturgemäß die Mitglieder ebendieser Gesellschaft zu deren Einhaltung. In den Gesetzen ist immer ein Urteil über den Unwert der inkriminierten Taten enthalten. Cum grano salis weiss also jedes Mitglied der Gesellschaft, wie es sich nach der Verabschiedung eines Gesetzes verhalten soll bzw. wie es sich besser nicht verhalten sollte. Dies gilt insbesondere für Gesetze, die das Leben (bzw. Straftaten gegen das Leben) als moralischen Höchstwert einer jeden Gesellschaft zum Gegenstand haben.
Trotzdem muss ich gestehen, dass mein eigenes Empfinden, wonach das Gut oder Böse meiner Taten zu beurteilen ist, ein ganz anderes ist, und dass dieses Empfinden reichlich wenig vom Strafgesetzbuch geprägt ist.
Warum unterlasse ich bestimmte Taten? Weil sie illegal sind und ich mit Strafe bedroht werden? -- Ich muss sagen: Nein, denn falls es Taten gäbe, die illegal wären, die ich aber für legitim oder gar für geboten hielte, dann würde ich nicht zögern, sie zu tun, dann eben möglichst ohne mich erwischen zu lassen, egal was das StGB dazu sagt.
(Ein reichlich triviales Beispiel aus der jüngeren Geschichte: Die Prohibitionsgesetzgebung in den USA. Alkoholausschank war illegal, aber niemanden kümmerte das; das Gesetz änderte überhaupt kein Bewusstsein, es machte nichts besser, sondern förderte im Gegenteil geradezu explosionsartig den Aufbau organisierter Kriminalität, bis schließlich das Gesetz aufgehoben wurde.)
Das zeigt: Es reicht nicht, einfach ein Gesetz einzuführen, um das Bewusstsein einer Gemeinschaft zu ändern. Entweder ist ein Gesetz bereits im allgemeinen Bewusstsein und wird in seinen Grundzügen akzeptiert, lange bevor es überhaupt ratifiziert wird; dann hat das Gesetz auch eine Chance, ernstgenommen und befolgt zu werden. Oder es wird nicht akzeptiert, dann kann die Legislative Bände von Gesetzbüchern und Kommentaren damit füllen, und der Verstoß gegen das Machwerk bleibt doch im Bewusstsein der Mehrheit ein "Kavaliersdelikt".
Derselbe Mechanismus spielt sich bei der Abschaffung von Gesetzen ab: Dass ich persönlich Abtreibungen ablehnend gegenüberstehe, hat doch nullkommanix damit zu tun, dass Abtreibung nach Paragraph Sowieso irgendeines Gesetzesschinkens illegal ist, sondern ausschließlich mit meinen Wertvorstellungen, die sich an christlichen Grundwerten orientieren. Ich brauche das Gesetz also nicht. Falls jemand Abtreibungen nicht prinzipiell, d.h. aus sich selbst heraus ablehnt, dann kann auch kein Gesetzbuch ihn (oder in diesem Fall besser gesagt: sie) daran hindern, eine Abtreibung durchführen zu lassen, dann eben heimlich oder mit Hausmittelchen oder im Ausland, so wie es hier früher ablief. Diese Person braucht auch kein Gesetz.
Zusammenfassung: Ich schließe nicht aus, dass Gesetze bewusstseinsbildend wirken können. Aber auch das wäre keine Einbahnstraße, es geht immer auch anders herum: Das mehrheitliche Bewusstsein wirkt gesetzbildend. Deshalb halte ich es für wesentlich zielführender, am Bewusstsein der Menschen neu anzusetzen (Mission), als den Verlust von "guten alten Gesetzen" zu beklagen.
Biblisch betrachtet ist jedoch Anderes richtig: Nachdem Moses die 10 Gebote auf dem Berg Sinai erhalten hatte und das Volk in gotteslästerlicher Weise das Goldene Kalb anbetete, zerbricht Moses die Gesetzestafeln. Aber - und das ist der Clou der Geschichte - er bekommt sie eine zweites Mal von Gott gegeben. Die Gesetze gelten also trotz des Unwillens des Volkes!
Und Jesus höchstselbst äußert zum Thema folgendes:
Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
(Mt 5, 17 ff.)