Angesichts solch billiger Kriegshetze möchte ich versuchen, einmal ein paar
nüchterne Informationen zusammenzustellen. Zunächst dies: Iran ist ein gro-
ßes Land, mit einer – immer noch relativ schnell wachsenden – Bevölkerung
von über 70 Mio. Menschen, also nicht viel weniger als Deutschland hat, und
einer Fläche, die etwa viereinhalb mal so groß ist wie die heutige Bundesre-
publik Deutschland.
Die geographische Lage, verbunden auch mit dem Ölreichtum, ebenso jedoch
auch mit der Lage im Schnittpunkt verschiedenster Verkehrs- und Handels-
wege prädestinieren das Land für eine Rolle als regionaler Hegemon.
Das persische Militär dürfte insgesamt eine Mannstärke von rund einer Drei-
viertelmillion haben. Das Schwergewicht liegt auf den Landstreitkräften. Die
Marine und auch die Luftwaffe hinken wohl noch etwas hinterher. Allerdings
hat der Iran in jüngerer Zeit insbesondere die Luftabwehr durch modernste
Boden-Luft-Systeme russischer Bauart erheblich verstärkt (bisher überwogen
veraltete amerikanische Systeme).
Die ballistischen Boden-Boden-Kapazitäten sind eher begrenzt und überwie-
gend auf den Kurz- und Mittelstreckenbereich beschränkt. Im Langstrecken-
bereich hat Persien in den letzten Jahren maximal einige Dutzend nordkorea-
nische Nodong-Raketen sowie ukrainische Marschflugkörper gekauft, die je-
doch so von Experten als nicht einsatzfähig angesehen werden. Es wird aller-
dings mit Hilfe angeworbener russischer Wissenschaftler an der Weiterent-
wicklung dieser Systeme geforscht.
Militärisch sinnvoll erscheinen solche Systeme zum Einsatz gegen entfernte
Luftwaffen- und Raketenbasen, von denen aus Iran erreicht werden kann. Zu
denken ist dabei neben israelischen Basen, von denen aus Angriffe geflogen
werden können, vor allem an seegestützte amerikanische Basen, also Flug-
zeugträger und sonstige Kampfschiffe. Dies liegt besonders darum nahe, weil
die iranische Marine und Luftwaffe im Kriegsfall nicht in der Lage sein wer-
den, eine amerikanische Blockade des Persischen Golfs und damit eine wirt-
schaftliche Strangulation des Iran zu verhindern.
Die von interessierten Kreisen immer wieder einmal gestreute Behauptung,
der Iran könne bezwecken, mit Langstreckenraketen europäische Ziele anzu-
greifen, womöglich gar mit atomar bestückten, ist aus mehrerlei Gründen ab-
surd. Zunächst ist das iranische Militär seiner Struktur nach defensiv. Die
defensive Stärke ist allerdings beträchtlich. Es ist langfristig kein potentieller
Angreifer in Sicht, der zu einer militärischen Besetzung oder auch nur zur
Annexion von Teilen des Territoriums in der Lage sein könnte. Die Gefahr
für den Iran liegt vor allem in einer wirtschaftlich motivierten Zerstörung
des Landes durch überlegene Luftstreitkräfte sowie ballistische Systeme auch
konventioneller, vor allem aber atomarer Art. Genau dagegen richten sich die
jüngeren Rüstungsinitiativem.
Der zweite Grund, die oben angeführte Behauptung als absurd einzuschät-
zen, ist in den Interessen des Landes zu suchen. Die Wirtschaft hat zwar ein
beträchtliches Maß an Modernisierung und Diversifizierung erfahren, ist aber
trotzdem immer noch in hohem Maß vom Erlös der Erdöl- und -gasexporte
abhängig. Diese Branche ist ausgesprochen kriegsanfällig. Persien hat darum
keinerlei Interesse, sich in einen Krieg verwickeln zu lassen, und hat dies in
den vergangenen Jahrzehnten unter Beweis gestellt. Man hat sich unter hohem
Blutzoll erfolgreich gegen den von den Vereinigten Staaten ideell, materiell
und logistisch massiv unterstützten irakischen Angriff Saddam Husseins ver-
teidigt. Im übrigen beschränkte man sich auf die Wahrung eigener Einfluß-
sphären durch Unterstützung schiitischer Bevölkerungsteile vor allem in Af-
ghanistan und im Libanon, wobei man die dortigen Konflikte einzudämmen
bemüht war. Dasselbe ist hinsichtlich des Kurdenproblem zu sagen, wo man
zu diesem Zweck mit Syrien und der Türkei kooperiert.
Darüberhinaus ist hier die besonders in jüngerer Zeit immer stärker ausgebau-
te wirtschaftliche Kooperation mit China, Indien, Rußland und den zentral-
asiatischen Ländern zu nennen. Das ist der Weg, auf den die iranische Politik
setzt und in dem sie die Zukunft des Landes sieht – was offenbar anderen,
die in der Tradition des Great Game des 19. Jahrhunderts stehen, ein Dorn
im Auge ist.
Der dritte Grund schließlich liegt darin, daß der Iran über keine atomare Be-
waffnung verfügt und eine solche erklärtermaßen auch nicht anstrebt. Im
Gegenteil, die Perser haben sich im Atomwaffensperrvertrag verpflichtet,
auf solche Waffen zu verzichten. In den jüngsten Auseinandersetzungen um
dies Thema haben sie immer wieder ihre Bereitschaft erklärt, entsprechende
Garantien zu geben und internationale Kontrollen zu ermöglichen.
Weshalb der Konflikt um diese Frage fortbesteht, liegt daran, daß die Verei-
nigten Staaten vom Iran verlangen, auch auf die Anreicherung von Uran zu
Zwecken friedlicher Nutzung zu verzichten, ein Recht, das jedoch derselbe
Atomwaffensperrvertrag jedem Unterzeichner (obwohl er es sowieso als sou-
veräner Staat hat) ausdrücklich zubilligt. Kein Wunder also, daß der Iran
sich dem Druck zur partiellen Aufgabe seiner Souveränität nicht zu beugen
bereit ist. Würde man die iranische Souveränität anerkennen und sich auf
die Forderung nach Sicherheiten für die Einhaltung des Atomwaffensperrver-
trags beschränken, wäre das Problem längst gelöst.
Statt dessen muß man fragen, ob nicht umgekehrt der Iran durch auswärtige
Mächte bedroht ist, wie ja oben bereits angedeutet. Die Kriegsrhetorik ge-
wisser Kreise, die sehr an die Vorbereitung des amerikanischen Angriffs auf
den Irak erinnert, läßt darauf schließen. Aber mehr noch kann man sagen. Es
gibt sehr konkrete Vorbereitungen. Israel bereitet derzeit für März kommen-
den Jahres Luftschläge gegen iranische Ziele vor, möglicherweise sogar unter
Beteiligung von am Boden operierenden Einheiten; so jedenfalls melden es
britische Medien.
Das gewünschte Szenario könnte dann darin bestehen – wenn die israelischen
Angriffe eher erfolglos bleiben oder die Iraner gar zurückzuschlagen wagen –,
daß der große amerikanische Bruder dann zwar die Hände in Unschuld wäscht
– die eigentlichen Aggressoren waren dann ja du um ihren Ruf ohnehin nicht
mehr sorgenden Israelis –, dann aber doch „gezwungenermaßen“ in edler
Treue dem kleinen Verbündeten mit der großen Keule zu Hilfe eilt.
Es gibt allerdings in Amerika gegenläufige Tendenzen. Nicht alle wollen solch
einen Krieg. Ein deutliches Zeichen unter andern war es, als im August vori-
gen Jahres vernünftigere Kräfte im amerikanischen Establishment, namentlich
im FBI, Ende August eine wichtige Figur in diesem Spiel hinter Schloß und
Riegel steckten: Larry Franklin, zunächst Abteilungsleiter für Iranfragen im
US-Kriegsministerium und dann in dessen »Büro für Sonderpläne« (OSP) tä-
tig, das den Irakkrieg vorbereitete. Auch die gegenwärtige Anklage gegen
Lewis Libby, eine noch größere Nummer im selben Spiel, dürfte mit dem Tau-
ziehen im Hintergrund zu tun haben.
Aber lassen wir die amerikanische Politik beiseite – obgleich dazu noch viel
zu sagen wäre – und kehren abschließen noch einmal zum Iran zurück. Ver-
borgenes Tauziehen gibt es dort nämlich auch, oder besser gar nicht einmal
mehr so verborgen. Präsident Achmedi-Nedschad gehört offenbar einer Art
schiitischer Bruderschaft an – und versucht konsequent, aber mit wechseln-
dem Erfolg, Leute dieser Bruderschaft auf alle einflußreichen Posten zu bug-
sieren.
Neben dem aufs Ausland zielenden Zweck seiner derzeit so heftig umstritte-
nen Äußerungen ist darum auch ein innenpolitischer Zweck unübersehbar.
Hier wie dort appelliert Achmedi-Nedschad eher an die Völker, ein die unte-
ren Schichten, als an die Regierenden und die oberen Zehntausend. Innen-
politisch setzt er dabei ohne Frage auf den Solidarisierungseffekt im Volk
angesichts äußeren Drucks. Das kann schiefgehen, aber wahrscheinlicher ist,
daß er damit gegenüber den pragmatischen Kräften – wie Rafsandschani –
und den konservativen – wie Chamenei – Punkte machen kann.
Was schließlich bedeutet des Präsidenten Herkunft aus jener Bruderschaft?
Eine gesteigerte Aggressivität kann ich nicht ausmachen. Eher war es sogar
so, daß Aussagen, die in der ganzen islamischen Welt sozusagen Konsens
sind und bei entsprechenden Gelegenheiten regelmäßig zu erwarten sind,
diesmal aufgespießt und international breitgetreten, oder vielmehr: erst noch
zugespitzt (und teilweise verfälscht) wurden.
Freilich war die Aufmerksamkeit auch nicht ganz unberechtigt, denn zumin-
dest amtierende Staatspräsidenten pflegten bisher auch im islamischen Raum
eine gewisse Diplomatie. Achmedi-Nedschad ist offenkundig kein Diplomat.
Dies aber scheint durchaus mit jener Bruderschaft zusammenzuhängen, deren
Geist anscheinend weniger aggressiv – wie manche meinen – ist, sondern
eher „fatalistisch“. Was bedeutet, daß Achmedi-Nedschad niemanden angrei-
fen wird. Aber er wird unbeirrt an seiner Linie festhalten, an dem, was er für
richtig erkannt zu haben meint, und keine Kompromisse um des Friedens
willen schließen. Wenn Israel oder die Amerikaner den Iran angreifen sollten,
dann wird ihn das nicht freuen, aber er wird es, so schätze ich die Lage ein,
als gottgegebenes Schicksal annehmen.
Darin vor allem liegt seine Gefährlichkeit. Die freilich nicht die weitaus
größere Gefährlichkeit jener übersehen lassen darf, die bereits lauernd in
Wartestellung liegen und den Angriff vorbereiten.