Ratlos wie nie
Ein führender Politiker der Linken wünscht sich, dass der nächste Bundespräsident liberal-konservativ sein soll.
Ein Mitglied des CDU-Präsidiums fürchtet, dass die SPD an ihren 20 Prozent zugrunde geht. Und mit ihr noch ein bisschen mehr.
Ein SPD-Spitzenmann glaubt, dass die große Koalition aufhören muss, damit die CDU wieder rechter werden kann.
Eine Ministerin findet, Politik sei zur Arena geworden: Immer mehr schauen zu, immer weniger machen mit. Und die Stimmung wird immer aggressiver.
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Es könnte jetzt, bitte, mal wieder ein bisschen langweilig werden.
Wird es aber nicht. Zwar ist das Brexit-Lager dabei, sich in atemberaubendem Tempo selbst zu zerlegen, die AfD ist in den Umfragen leicht abgesackt, die Spanier haben eher konservativ als revolutionär gewählt, und Horst Seehofer hat schon seit zwei Wochen keine Klage gegen die Bundesregierung mehr angedroht. Aber die nächsten Wut-Wellen sind bereits in Sicht, europaweit und sogar darüber hinaus: Österreich muss die Wahl des Bundespräsidenten wiederholen, Ungarn wird im Herbst ein Referendum darüber abhalten, ob die EU die "Ansiedlung von nicht ungarischen" Menschen in Ungarn beschließen dürfe. Italien stimmt über eine Verfassungsreform ab, die das politische System modernisieren soll – und den Ministerpräsidenten Renzi sein Amt kosten könnte. Marine Le Pen will ein Referendum über den Frexit erzwingen, einen Ausstieg Frankreichs aus der EU. Und die Amerikaner müssen sich mit der Frage beschäftigen, ob sie demnächst von einem Mann regiert werden könnten, der die Foltermethode des Waterboarding für "peanuts" hält.
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Wenn die Kanzlerin erklärt, sie habe keinen Plan B für den Fall eines Brexit oder eines Sieges von Donald Trump, dann hätte man früher gedacht: Muss sie ja sagen, in Wahrheit liegen die Pläne schon in der Schublade. Heute ist klar: Es ist die Wahrheit.
Politik passiert jetzt in Echtzeit, das macht viele Pläne obsolet, und deshalb funktioniert das Vortäuschen von Gewissheiten und Strategien immer schlechter. Man muss nicht mehr wie früher stundenlang Kaffee trinken, bis die Politiker erzählen, was sie wirklich denken. Man merkt in den Gesprächen mittlerweile sehr schnell: Viele, wenn nicht die meisten, unter den führenden Politikern haben das Gefühl, dass etwas ins Rutschen gerät, dass es jetzt wirklich um etwas geht. Ums Ganze.
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Dass es sich bei der AfD mit dem scheinbar soignierten Alexander Gauland, der zuweilen schrillen Frauke Petry und dem völkisch tönenden Björn Höcke um ein Phänomen wie Grüne oder Linke handelt, nur eben andersfarbig, einfach nur eine neue Partei also, die die alten kräftig aufmischt und sich dann vernünftisiert – daran glaubt inzwischen kaum noch jemand.
Bisher hat der Konsens noch alle eingemeindet: Die Linken, die Grünen, sie alle haben als Revoluzzer begonnen und sind beim Marsch durch die Institutionen mehr oder weniger staatstragend geworden. Bei der AfD läuft es, bisher jedenfalls, nicht so. In Baden-Württemberg ist gerade der Chef der Bundespartei Meuthen aus seiner eigenen Fraktion ausgetreten, weil die sich nicht dazu durchringen konnte, einen Abgeordneten rauszuwerfen, der antisemitische Schriften veröffentlicht hatte. Antisemitismus sei gar nicht das Thema, es gehe um Meinungsfreiheit, befand Meuthens Co-Chefin Petry.
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Andererseits berichtet ein Ministerpräsident, man habe sich im vergangenen Herbst in einer Situation befunden, in der der Staatsapparat sich als so überfordert und in Teilen unfähig erwiesen habe, wie man sich das nie hätte vorstellen können. Eigentlich hätte man agieren müssen wie bei einem Notstand, einer Flut etwa, einer echten Wasserflut, aber das habe man ja nicht tun können, weil dann die Rechten wieder Auftrieb bekommen hätten. Ein anderer, aus einer anderen Partei, räumt ein: "So ein Desaster habe ich noch nie erlebt." Der Staat habe "richtig Mist gemacht", auch deshalb stehe er jetzt vor einer Bewährungsprobe.
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Zwei Dinge haben Medien und Politik im Moment also gemeinsam: Erschöpfung und Selbstzweifel, die an die Substanz gehen. Die Ministerin, die die Politik als Arena empfindet, berichtet von den Fragen, die ihr die Bürger stellen: Wieso seid ihr bei Putin so hart, aber Erdoğan darf alles? Wieso ist Geld für Banken da, für Flüchtlinge, aber nicht für Schulen? Sie sagt, wenn sie ganz ehrlich ist, fragt sie sich das manchmal auch.