Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Rund um den traditionellen römischen Ritus und die ihm verbundenen Gemeinschaften.
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Haiduk
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Haiduk »

Gamaliel hat geschrieben:
Haiduk hat geschrieben:
Gamaliel hat geschrieben:Dieses Wort steht zwar in Deinem "Modell Ratzinger" drinnen, allerdings ist damit weder gesagt, noch bewiesen, daß:

1. das "Modell Ratzinger" theoretisch überhaupt funktionsfähig ist, es also möglich ist eine unveränderte Glaubensbotschaft auf einer "anderen Frequenz" zu senden.
2. - die Funktionsfähigkeit des Modells vorausgesetzt - sich Kardinal Ratzinger/Papst Benedikt XVI. in der Praxis auch tatsächlich an dieses Modell gehalten hat/hält.
In 1. Kor. 9, wo der hl. Paulus die Rechte und Freiheiten des Apostels diskutiert, kommt er zu dem Ergebnis, daß das allemal möglich ist.
Ich will mich hier auf keine exegetischen Dispute einlassen, aber mir scheint, die angegebene Stelle trägt zu einer möglichen Beantwortung der Fragen nichts bei. Beim hl. Paulus geht es um die Anpassung in äußeren Verhaltensweisen (im Zusammenhang mit den mosaischen Zeremonialgesetzen) an sein jeweiliges Umfeld und nicht um eine eventuelle Anpassung des Glaubensinhalts an seine Hörer.
Wenn ich Deiner Lesart folge, wüßte ich nicht auf welcher Basis man sich überhaupt mit Philosophie befassen sollte - ist sie doch "gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus" (Kol. 2, 8 )
Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel. (Mt. 5, 37)
Denn die Waffen unsres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern mächtig im Dienste Gottes, Festungen zu zerstören. (2. Kor. 10,4)

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Gamaliel
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Gamaliel »

@Haiduk

Da stehe ich momentan auf der Leitung: Wie kommst Du jetzt von der Frage der Verkündigung des Glaubens zur Frage des Befassens mit der Philosophie?

(Übrigens ist meine "Lesart" selbstverständlich eine kirchlich approbierte, nämlich in diesem Fall die von Allioli.)

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Haiduk
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Haiduk »

Gamaliel hat geschrieben:@Haiduk

Da stehe ich momentan auf der Leitung: Wie kommst Du jetzt von der Frage der Verkündigung des Glaubens zur Frage des Befassens mit der Philosophie?

(Übrigens ist meine "Lesart" selbstverständlich eine kirchlich approbierte, nämlich in diesem Fall die von Allioli.)
Mein Ausgangspunkt war die Schrift von Bischof Tissier, in der er einen Überblick über die philosophischen Wurzlen gibt, die er in dem Theologen Ratzinger zu erkennen meint. Wäre Philosophie generell ein Tabu, dann würde allein das schon genügen, um Ratziner als Häretiker zu bezeichnen. Nur käme mir das dann doch ein wenig zu grobschlächtig vor. Zudem wäre es auch unlogisch, weil sich Tissier augenscheinlich ja selbst recht intensiv damit befaßt hat.

Was genau meinst Du mit "kirchlich approbiert"? Gibt es da irgendein Lehrdokument, das maßgeblich auf Allioli zurückgeht? Falls nicht, wäre es erst mal nicht mehr, als eben seine private Meinung. Fest steht, daß auch die Kirchenväter sich der damaligen Philosophie bedient hatten, um das Evangelium weiter zu verbreiten.
Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel. (Mt. 5, 37)
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Robert Ketelhohn
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Haiduk hat geschrieben:Was genau meinst Du mit "kirchlich approbiert"? Gibt es da irgendein Lehrdokument, das maßgeblich auf Allioli zurückgeht?
Bibelübersetzung, meint er.
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Sempre
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Re: FSSPX & Rom: Auf dem Weg zur Einheit?

Beitrag von Sempre »

Robert Ketelhohn hat geschrieben:
Man kann über solche Versuche trefflich streiten, man kann sie für untauglich halten, man kann versuchen, bessere zu unterbreiten – aber man kann redlicherweise nicht krähen: Unglaube, Unglaube, er redet anders als Doktor St. Englisch vor einem Dreivierteljahrtausend! und nur lauter Verrat und Ketzerei wittern. Damit verfehlt man komplett die Sache, um die es geht (und um die auch zu kämpfen ist), man verschließt sich jeder produktiven Kommunikation und sperrt sich ein in den sterilen – nein, nicht Elfenbeinturm – Gummizellenturm.

Rauskommen, kämpfen – gegen die Richtigen! –, Hand in Hand mit den Mitstreitern, diese auch korrigierend, wo nötig, aber sie niemals für den Feind halten und ihnen darum auch, bitte sehr, niemals ins Gemächt dreschen. So lautet die Ansage. Und am Ende gemeinsam obsiegen – oder untergehen. Wobei wir wissen, daß wir, ohne zu sterben, nicht leben werden.
Gummizelle und so - das klingt jetzt nicht gerade übertrieben freundlich. Aber was Du schreibst ist wohl von Herzen nett und echt brüderlich gemeint - Danke!


Robert Ketelhohn hat geschrieben:
Sempre hat geschrieben:Wenn Du das Problem beim Rezipienten siehst, sind wir uns einig. Nicht aber mit Joseph Kardinal Ratzinger, der -wie zitiert- den Grund darin sieht, dass das philosophische Denken an seine Grenzen stoße.
Das Zitat wollen wir uns denn doch noch mal genauer anschauen:
Letzten Endes geht es um die Frage, ob die Vernunft beziehungsweise das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht … ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat verbum – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen. Diese Letztfrage kann nicht mehr durch naturwissenschaftliche Argumente entschieden werden, und auch das philosophische Denken stößt hier an seine Grenzen. In diesem Sinn gibt es eine letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nicht. Aber kann die Vernunft auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen, auf die Uranfänglichkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzuheben? Die Vernunft kann gar nicht anders, als auch das Unvernünftige nach ihrem Maß, also vernünftig zu denken, womit sie implizit doch wieder den eben geleugneten Primat der Vernunft aufrichtet.
Das »philosophische Denken«, das »hier an seine Grenzen« stoße, ist jenes der Moderne. Man könnte auch sagen, es habe sich durch gewisse axiomatische Voraussetzungen selbst gefangengesetzt.
Das ist wahr.

Robert Ketelhohn hat geschrieben:
Im Zusammenhang mit den Bemerkungen zur Evolutionstheorie, deren „Primat“ wir in Frage zu stellen hätten, sagt Ratzinger das selbst. Im oben zitierten Stück weist er dem heutigen Denken – indem er seine fundamentale Inkonhärenz andeutet – einen logischen – und ich möchte sagen: gewissermaßen cartesischen – Weg aus der selbstgebauten Aporie.
Das ist auch wahr.

Robert Ketelhohn hat geschrieben:
Man muß ja Descartes nicht mögen. Aber wenn man mit seiner Hilfe die Ohrenstöpsel der Zeitgenossen herausbrächte – und den Versuch dazu sehe ich hier bei Ratzinger –, dann wäre das ein Gewinn.
Tja. Da fällt mir nur ein: Teufel treiben keine Teufel aus.


Ich lese im Text von Ratzinger, was da drin steht: Es besteht ein Gegensatz zwischen der "Philosophie des christlichen Glaubens" und dem "philosophischen Denken". Erstere behauptet die Priorität der Vernunft, während das letztere nicht in der Lage ist solches zu beweisen.

Du sagst nun Ratzinger weise jenes "philosophische Denken" zurück. Dem stimme ich zu. Was ich sage ist: Ratzinger weist dieses "philosophische Denken" nicht aus Vernunftgründen zurück. JPII hat dieses "philosophische Denken" klar als "Abdankung des menschlichen Verstands" verurteilt. Ratzinger weist es zurück, weil es nicht mit der "Philosophie des christlichen Glaubens" vereinbar ist. Er sieht sich aber nicht in der Lage, dies überzeugend zu verteidigen. Daher ruft er die Kirche und die Theologen auf, das Problem zu lösen, während einstweilen Orthodoxie und Orthopraxie zu pflegen sind, bis eben das Problem gelöst ist. Ratzinger sieht Glaube und Vernunft als zur Zeit mal wieder nicht in Verbindung an.

Bischof Bernard Tissier de Mallerais paraphrasiert die Idee Ratzingers so:
Bischof Bernard Tissier de Mallerais hat geschrieben: Chapter 1
The Hermeneutic of Continuity


[...]

Since reason seems to evolve according to diverse philosophies and since the past of such an evolution adapts itself to the faith, the connection between faith and reason must be periodically revised so that it will always be possible to express the constant faith according to the concepts of contemporary man. This revision is the fruit of hermeneutic.
Da der Verstand entsprechend diverser Philosophien zu evolvieren scheint und da die Vergangenheit solcher Evolution sich an den Glauben anpasst, muss die Verbindung von Glaube und Vernunft periodisch revidiert werden, so dass es immer möglich ist, den konstanten Glauben entsprechend den Konzepten des zeitgenössischen Menschen auszudrücken. Diese Revision ist die Frucht der Hermeneutik.


Du, Robert, bist überzeugt, dass Ratzinger selbst die christliche Grundoption für beweisbar hält, und die letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nur im philosophischen Denken der Moderne für nicht möglich hält.

Was würdest Du tun, wenn Du mit `modern Vernünftigen' redest? Würdest Du ihnen Kant anempfehlen, der die Beweisbarkeit Gottes bestritten hat und die provisorische Annahme eines Gottes als Postulat der praktischen Vernunft fordert? Oder würdest Du ihnen erklären, warum es Gott sicher gibt? (Erfolg ist ja kein Name Gottes)

Es geht nicht darum, dem regierenden Papst Unglaube nachzuweisen, sondern sein zwiespältig anmutendes Denken zu verstehen, das hier im Kontrast z.B. zu dem von JPII steht:
Papst Johannes Paul II. hat geschrieben:Alle Beobachtungen über die Entwicklung des Lebens führen zu einer ähnlichen Konklusion. Die Evolution des Lebendigen, dessen Entwicklungsstufen die Wissenschaft zu bestimmen und dessen Mechanismen sie zu erkennen sucht, hat ein inneres Ziel, das Bewunderung hervorruft. Dieses Ziel, das die Lebewesen in eine Richtung führt, für die sie nicht Verantwortung tragen, zwingt, einen Geist vorauszusetzen, der Schöpfer dieses Ziels ist. [...] All diesen Hinweisen auf die Existenz Gottes, des Schöpfers, setzen einige die Kraft des Zufalls oder die Mechanismen der Materie entgegen. Aber angesichts eines Universums, in dem eine solch komplexe Organisation seiner Elemente und eine so wunderbare Zielgerichtetheit in seinem Leben vorhanden ist, von Zufall zu sprechen, würde gleich bedeutend damit sein, die Suche nach einer Erklärung der Welt, wie sie uns erscheint, aufzugeben. In der Tat würde dies gleich bedeutend sein damit, Wirkungen ohne Ursache anzunehmen. Es würde die Abdankung des menschlichen Verstands bedeuten, der auf diese Weise sich dem Denken und der Suche nach einer Lösung für die Probleme verweigern würde.
(meine Hervorhebungen)

Das ist Klartext. Nicht im Stile von: es ist aber nach Kant sinnvoll wenigstens so zu tun, als ob es Gott gebe, sondern: wer das nicht kapiert, bei dem ist wohl Hopfen und Malz verloren.

Gruß
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Sempre
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Re: FSSPX & Rom: Auf dem Weg zur Einheit?

Beitrag von Sempre »

Robert Ketelhohn hat geschrieben:
Ich muß hier mal langsam Pause machen, so viel Zeit hab’ ich nicht! ;D
Aber nach kurzem Querlesen handelt es sich da teilweise um Einschätzungen
der Wirklichkeit und der Geschichte, die ich absolut nicht teile. Das kann man
ja hier im Kreuzgang auch immer wieder nachlesen. Solche Kritik lasse ich mir
nicht nehmen, aber dem so Kritisierten spreche ich deshalb nicht den rechten
Glauben ab.
Die Zeit ist begrenzt, und man kann nicht alles lesen. Diesen Vortrag empfehle ich aber dennoch, weil er ungewöhnlich viel Klartext enthält. Auch ratzingerfanclub.com empfiehlt ihn. Bernado hatte weiter oben geschrieben:
Bernado hat geschrieben:Seine einzigartige Stellung - und natürlich auch seine Isolation - in der Theologie der Gegenwart beruht darauf, daß er einer von ganz wenigen ist, die die Tiefe des Bruches, das ganze Ausmaß der Delegitimierung jeder Tradition in den Augen "der Welt" begriffen haben - und die dennoch versuchen, über den Bruch hinweg ein Gespräch zu führen, ohne sich von der eigenen Grundlage losreißen zu lassen.
Nirgendwo anders beschreibt Ratzinger deutlicher die fatale Situation der modernen Welt (, die m.E. gleichzeitig fatale Situation der Kirche ist, die sich der Welt geöffnet hat). Der Bruch betrifft nicht nur die Kirche und ihre Tradition. Der Bruch betrifft die westliche Zivilisation, die ihre Wurzeln abschneidet (fehlende Erwähnung der christlichen Wurzeln in der EU-`Verfassung'). Ratzinger benennt klar die Tyrannei, die bereits auf dem Weg ist.

Was nun die laut Ratzinger angesagte Reaktion kirchlicherseits betrifft, schließe ich mich dem Urteil Hegelchen, ick hör dir trapsen. an. Die Synthese, das höhere Menschentum, die wahrhaft „christliche“ Kirche, die klingt in meinen Ohren gegen Ende von Part 4 an, wo es u.a. heißt The negative testimony of Christians who speak about God and live against him, has darkened God's image and opened the door to disbelief. We need men who have their gaze directed to God, to understand true humanity.

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Gamaliel
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Gamaliel »

Haiduk hat geschrieben:Mein Ausgangspunkt war die Schrift von Bischof Tissier, in der er einen Überblick über die philosophischen Wurzlen gibt, die er in dem Theologen Ratzinger zu erkennen meint. Wäre Philosophie generell ein Tabu, dann würde allein das schon genügen, um Ratziner als Häretiker zu bezeichnen. Nur käme mir das dann doch ein wenig zu grobschlächtig vor. Zudem wäre es auch unlogisch, weil sich Tissier augenscheinlich ja selbst recht intensiv damit befaßt hat.
Ich weiß immer noch nicht, wie Du jetzt plötzlich auf die Philosophie zu sprechen kommst. (Liest Du das aus dem Korintherbrief "...den Griechen ein Grieche werden..."?) Aber lassen wir Deinen Paulus-Verweis einfach weg, dann gibt es auch kein "Problem".
Die Philosophie ist für Christen überhaupt kein Problem, ganz im Gegenteil! Gerade der hl. Thomas v. Aquin, auf den sich Bischof Tissier wesentlich stützt, hat sich um eine Aufwertung und Verchristlichung der (heidnischen) Philosophie sehr verdient gemacht. Die Vorwürfe gegen Prof./Kardinal Ratzinger richten sich nicht auf seine Beschäftigung mit Philosophie, sondern a) auf die besonderen Arten der von ihm "verwendeten" Philosophien (Idealismus/Existenzialismus/Personalismus statt Realismus/Seinsphilosophie) und b) auf den verändernden Einfluß, den diese Philosophien auf den katholischen Glauben bei Prof./Kardinal Ratzinger genommen haben.
Haiduk hat geschrieben:Was genau meinst Du mit "kirchlich approbiert"? Gibt es da irgendein Lehrdokument, das maßgeblich auf Allioli zurückgeht? Falls nicht, wäre es erst mal nicht mehr, als eben seine private Meinung. Fest steht, daß auch die Kirchenväter sich der damaligen Philosophie bedient hatten, um das Evangelium weiter zu verbreiten.
Robert hat hier schon richtig geantwortet. Ich bezog mich auf die Bibelübersetzung von Joseph Franz von Allioli und den darin enthaltenen Kommentarapparat. Damit wollte ich untermauern, daß ich mir diese "Lesart" nicht selbst aus den Finger gesaugt habe.

Kirchenjahr
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Re: FSSPX & Rom: Auf dem Weg zur Einheit?

Beitrag von Kirchenjahr »

Sempre hat geschrieben: Du sagst nun Ratzinger weise jenes "philosophische Denken" zurück. Dem stimme ich zu. Was ich sage ist: Ratzinger weist dieses "philosophische Denken" nicht aus Vernunftgründen zurück. JPII hat dieses "philosophische Denken" klar als "Abdankung des menschlichen Verstands" verurteilt. Ratzinger weist es zurück, weil es nicht mit der "Philosophie des christlichen Glaubens" vereinbar ist. Er sieht sich aber nicht in der Lage, dies überzeugend zu verteidigen. Daher ruft er die Kirche und die Theologen auf, das Problem zu lösen, während einstweilen Orthodoxie und Orthopraxie zu pflegen sind, bis eben das Problem gelöst ist. Ratzinger sieht Glaube und Vernunft als zur Zeit mal wieder nicht in Verbindung an.
Inwieweit wäre es möglich Ratzinger dahingehend zu verstehen, dass das heutige "philosophische Denken" deshalb nicht mit der "Philosophie des christlichen Glaubens" vereinbar ist, weil die Vertreter des "philosophischen Denkens" sich in ihrer eigenen (unstimmigen) Vernunftswelt verrannt haben? Es wäre wie nach dem Turmbau zu Babel, wo das "philosophische Denken" die "Philosophie des christlichen Glaubens" von den Grundbegriffen her schon gar nicht mehr versteht. Aus dieser Sicht könnte sich Ratzinger den Mund fuselig reden oder die Finger wund schreiben: Er könnte den christlichen Glauben philosophisch niemals überzeugend verteidigen. Weil dazu gehört auch, dass das philosophische Denken die anderen überzeugte. Und zur Überzeugung reicht nicht nur der Überzeuger sondern auch ein Überzeugter. Es reicht auch nicht, nur die gegnerische Auffassung zu widerlegen, sondern auch die eigene zu beweisen. Letzteres ist erfahrungsgemäß schwieriger als das erst genannte.

Um dieses Dilemma zu lösen die Orthodoxie und Orthopraxis vorzuleben ist nur recht. Die Kirche hat von Anbeginn die Pflege von Orthodoxie und Orthopraxis höher gesetzt als die Philosophie. Sie vereehrt weder Plato noch Aristoteles sondern Maria und Josef.

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Haiduk
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Haiduk »

Gamaliel hat geschrieben:
Haiduk hat geschrieben:Mein Ausgangspunkt war die Schrift von Bischof Tissier, in der er einen Überblick über die philosophischen Wurzlen gibt, die er in dem Theologen Ratzinger zu erkennen meint. Wäre Philosophie generell ein Tabu, dann würde allein das schon genügen, um Ratziner als Häretiker zu bezeichnen. Nur käme mir das dann doch ein wenig zu grobschlächtig vor. Zudem wäre es auch unlogisch, weil sich Tissier augenscheinlich ja selbst recht intensiv damit befaßt hat.
Ich weiß immer noch nicht, wie Du jetzt plötzlich auf die Philosophie zu sprechen kommst. (Liest Du das aus dem Korintherbrief "...den Griechen ein Grieche werden..."?) Aber lassen wir Deinen Paulus-Verweis einfach weg, dann gibt es auch kein "Problem".

Die Philosophie ist für Christen überhaupt kein Problem, ganz im Gegenteil! Gerade der hl. Thomas v. Aquin, auf den sich Bischof Tissier wesentlich stützt, hat sich um eine Aufwertung und Verchristlichung der (heidnischen) Philosophie sehr verdient gemacht.

Die Vorwürfe gegen Prof./Kardinal Ratzinger richten sich nicht auf seine Beschäftigung mit Philosophie, sondern a) auf die besonderen Arten der von ihm "verwendeten" Philosophien (Idealismus/Existenzialismus/Personalismus statt Realismus/Seinsphilosophie) und b) auf den verändernden Einfluß, den diese Philosophien auf den katholischen Glauben bei Prof./Kardinal Ratzinger genommen haben.
Richtig, so ist mein Verständnis. Anders wüßte ich wie gesagt nicht, wie man sich angesichts von Gal. 2, 8 überhaupt mit Philosophie beschäftigen kann.

Thomas von Aquin hat freilich ein großes und auch beachtenswertes Werk hinterlassen. Nachdem er selbst aber ja Scholastiker war, würde ich doch anzweifeln, daß mit ihm das letzte Wort zur Philosophie gesprochen ist. (Mir ist klar, daß wir uns da nicht einig werden. Ich will nur meinen Standpunkt erklären)

Danke. Das hilft mir Bischof Tissiers Standpunkt zu verstehen.
Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel. (Mt. 5, 37)
Denn die Waffen unsres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern mächtig im Dienste Gottes, Festungen zu zerstören. (2. Kor. 10,4)

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Gamaliel
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Gamaliel »

Haiduk hat geschrieben:Thomas von Aquin hat freilich ein großes und auch beachtenswertes Werk hinterlassen. Nachdem er selbst aber ja Scholastiker war, würde ich doch anzweifeln, daß mit ihm das letzte Wort zur Philosophie gesprochen ist. (Mir ist klar, daß wir uns da nicht einig werden. Ich will nur meinen Standpunkt erklären)
Hier möchte ich Dich korrigieren. Weder die Kirche, noch ich haben jemals behauptet, daß mit dem Tod des hl. Thomas der "philosophische Betrieb" einzustellen und alles in seinen Werken nachzulesen ist. Ganz im Gegenteil, eine solche Haltung würde der des hl. Thomas zutiefst widersprechen. Jedoch empfiehlt die Kirche, und das nicht ohne Grund, den hl. Thomas als einen sicheren Leitfaden, bei der vernunftgemäßen Erforschung der Wirklichkeit.

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Haiduk
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Haiduk »

Gamaliel hat geschrieben:
Haiduk hat geschrieben:Thomas von Aquin hat freilich ein großes und auch beachtenswertes Werk hinterlassen. Nachdem er selbst aber ja Scholastiker war, würde ich doch anzweifeln, daß mit ihm das letzte Wort zur Philosophie gesprochen ist. (Mir ist klar, daß wir uns da nicht einig werden. Ich will nur meinen Standpunkt erklären)
Hier möchte ich Dich korrigieren. Weder die Kirche, noch ich haben jemals behauptet, daß mit dem Tod des hl. Thomas der "philosophische Betrieb" einzustellen und alles in seinen Werken nachzulesen ist. Ganz im Gegenteil, eine solche Haltung würde der des hl. Thomas zutiefst widersprechen. Jedoch empfiehlt die Kirche, und das nicht ohne Grund, den hl. Thomas als einen sicheren Leitfaden, bei der vernunftgemäßen Erforschung der Wirklichkeit.
Gut, damit kann ich weitestgehend leben. Soweit sich Thomas von Aquin mit der "Verchristlichung der (heidnischen) Philosophie" beschäftigt hat, würde ich nur nicht von einem Leitfaden für die "vernunftgemäße Erforschung der Wirklichkeit" sprechen, sondern von einem für die Erforschung des Reichs der Welt:

So sehr man sich auch vor der Philosophie in acht nehmen muß, so unabkömmlich ist sie eben auch, wenn man sich in die Sphäre des Politischen begibt. Die Philosophie ist ja gewissermaßen die "geistige Entsprechung" zu weltlichem Königtum. Ein Königtum, das nicht von "verchristlichter" Philosophie gestützt wird, kann auch kaum Bestand haben, weil es dem Königtum Christi auch dann nicht ganz untersteht, wenn der weltliche Monarch der demütigste und reinste Knecht Gottes wäre. An eben dieser Stelle hatte der Konstruktionsfehler im protestantisch geprägten Preußen gelegen: Statt daß es die gegen Gott streitenden Aufklärer ordentlich bekämpft hätte (d.h. mit einer vom Geist Christi durchtränkten Gegenphilosophie) war es deren natürlicher Verbündeter. Gemächlich freilich und mit angezogener Handbremse, aber dafür umso stetiger.
Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel. (Mt. 5, 37)
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Sempre
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Re: FSSPX & Rom: Auf dem Weg zur Einheit?

Beitrag von Sempre »

Kirchenjahr hat geschrieben:Inwieweit wäre es möglich Ratzinger dahingehend zu verstehen, dass das heutige "philosophische Denken" deshalb nicht mit der "Philosophie des christlichen Glaubens" vereinbar ist, weil die Vertreter des "philosophischen Denkens" sich in ihrer eigenen (unstimmigen) Vernunftswelt verrannt haben? Es wäre wie nach dem Turmbau zu Babel, wo das "philosophische Denken" die "Philosophie des christlichen Glaubens" von den Grundbegriffen her schon gar nicht mehr versteht. Aus dieser Sicht könnte sich Ratzinger den Mund fuselig reden oder die Finger wund schreiben: Er könnte den christlichen Glauben philosophisch niemals überzeugend verteidigen.
So verstehe ich ihn. Nun möchte er aber konzilsgemäß das untaugliche "philosophische Denken" der heutigen Welt nicht einfach verwerfen, sondern die Welt und deren "philosophisches Denken" mit der "Philosophie des christlichen Glaubens" versöhnen, unter einen Hut bringen. Das Christentum soll -wie im Laufe der Geschichte gelegentlich geschehen- das "philosophische Denken" der Welt bereinigen und sich einverleiben. Die stumpf gewordene "Philosophie des christlichen Glaubens" würde durch eine aktuelle "Philosophie des christlichen Glaubens" ersetzt, die wesentliche Elemente des "philosophischen Denkens" der Welt christianisiert. Auch der Welt wäre mit dem korrigierten "philosophischen Denken" geholfen, sie hätte die kantische Voraussetzung für eine solide Ethik. Dann hätte man eine Gesellschaft, die das Christentum toleriert, so dass es wieder gedeihen kann.

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Robert Ketelhohn
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Re: FSSPX & Rom: Auf dem Weg zur Einheit?

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Sempre hat geschrieben:Gummizelle und so - das klingt jetzt nicht gerade übertrieben freundlich. Aber was Du schreibst ist wohl von Herzen nett und echt brüderlich gemeint - Danke!
Ich habe ja nichts gesagt, da sitze jemand drin, sondern ich habe gewarnt. Außerdem
hilft es einem wenig, wenn man da nicht hineingehört – und dennoch reingesperrt wird.
;)
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Robert Ketelhohn
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Re: FSSPX & Rom: Auf dem Weg zur Einheit?

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Sempre hat geschrieben:
Robert Ketelhohn hat geschrieben:
Ich muß hier mal langsam Pause machen, so viel Zeit hab’ ich nicht! ;D
Aber nach kurzem Querlesen handelt es sich da teilweise um Einschätzungen
der Wirklichkeit und der Geschichte, die ich absolut nicht teile. Das kann man
ja hier im Kreuzgang auch immer wieder nachlesen. Solche Kritik lasse ich mir
nicht nehmen, aber dem so Kritisierten spreche ich deshalb nicht den rechten
Glauben ab.
Die Zeit ist begrenzt, und man kann nicht alles lesen. Diesen Vortrag empfehle ich aber dennoch, weil er ungewöhnlich viel Klartext enthält.
Ich will Ratzingers Sublacenser Rede vom 1. April 2005 noch einmal im deutschen Original bringen. Die Buchveröffentlichung liegt mir nicht vor – und sie könnte auch geschützt sein –, darum greife ich auf die provisorische Übersetzung zurück, die kreuz.net damals in mehreren Teilen veröffentlicht hat. Den dort fehlenden Anfang habe ich in eigener Übersetzung aus dem italienischen Original ergänzt. Dessen weiterer Vergleich mit dem kreuz.net-Text zeigt leider, daß die dortige Übersetzung allzusehr mit der heißen Nadel gestrickt ist. Die ersten drei kreuz.net-Absätze habe ich darum auch noch anhand des Originals überarbeitet (oder eigentlich fast neu übersetzt), dazu mittendrin zwei oder drei Korrekturen angebracht, wo der kreuz.net-Übersetzer teils gleich zwei oder drei Sätze in ebensovielen Wörtern zusammenfassen zu dürfen glaubte. An sich müßte aber der ganze Text komplett druchgearbeitet werden, allein das schaffe ich bis auf weiteres nicht. Darum hier der Text, wie ich ihn jetzt bieten kann:
Joseph Ratzinger hat geschrieben:Wir erleben einen Augenblick großer Gefahren und großer Möglichkeiten für den Menschen und für die Welt, einen Augenblick, der uns allen auch große Verantwortung auferlegt. Während des vergangenen Jahrhunderts sind die Fähigkeiten des Menschen und seine Herrschaft über die Materie in wahrhaft unvorstellbarem Maß gewachsen. Doch seine Macht, über die Welt zu verfügen, hat auch dazu geführt, daß seine Zerstörungsmacht Ausmaße erreicht hat, die uns manchmal erschrecken lassen.

Hierbei denkt man spontan an die Bedrohung durch den Terrorismus, diesen neuen Krieg ohne Grenzen und ohne Frontverlauf. Die Furcht, daß er sich bald in den Besitz nuklearer und biologischer Waffen bringen könnte, ist nicht unbegründet und hat dazu geführt, daß man innerhalb der Rechtsstaaten auf Sicherheitssysteme ähnlich jenen hat zurückgreifen müssen, die zuvor nur in den Diktaturen bestanden. Und doch bleibt das Empfinden, daß all diese Vorsichtsmaßregeln in Wirklichkeit niemals würden hinreichend sein können, weil eine globale Kontrolle weder möglich noch wünschbar ist.

Weniger sichtbar, aber darum nicht weniger beunruhigend, sind die Möglichkeiten der Selbstmanipulation, welche der Mensch erworben hat. Er hat die Tiefen des Seins ausgelotet, hat die Bestandteile des menschlichen Seins entschlüsselt und ist nun sozusagen in der Lage, selber den Menschen zu „bauen“, der so nicht mehr auf die Welt kommt als Geschenk des Schöpfers, sondern als Produkt unseres Handelns, ein Produkt, das darum auch einer Auslese unterzogen werden kann gemäß dem von uns selbst festgelegten Bedarf.

So strahlt über diesem Menschen nicht mehr der Glanz seiner Gottebenbildlichkeit – der das ist, was ihm seine Würde und Unverletztlichkeit mitteilt –, sondern nur das Vermögen der menschlichen Fähigkeiten. Er ist nichts anderes mehr als Bild des Menschen – aber welches Menschen?

Hieran fügen sich die großen Probleme des Planeten: die Ungleichheit in der Verteilung der Güter der Erde, die wachsende Armut, ja die Verarmung, die Ausbeutung der Erde und ihrer Vorräte, der Hunger, die Krankheiten, die die ganze Welt bedrohen, der Zusammenprall der Kulturen.

All dies zeigt, daß dem Wachstum unserer Möglichkeiten keine ebenbürtige Entwicklung unserer sittlichen Kraft entspricht. Die sittliche Stärke ist nicht mitgewachsen mit der Entwicklung der Wissenschaft, im Gegenteil, sie hat sich eher vermindert, denn die technische Mentalität schränkt die Moral auf den subjektiven Bereich ein, während wir gerade einer öffentlichen Moral bedürfen, einer Moral, welche den Bedrohungen zu antworten versteht, die unser aller Dasein belasten. Die wahre, schwerste Gefahr dieses Augenblicks besteht genau in diesem Ungleichgewicht zwischen technischen Möglichkeiten und sittlicher Kraft.

Die Sicherheit, derer wir als einer Voraussetzung unserer Freiheit und unserer Würde bedürfen, kann – ins letzte analysiert – nicht von technischen Kontrollsystemen kommen, sondern sie kann nur genau aus der sittlichen Stärke des Menschen entspringen: Wo sie fehlt oder nicht hinreicht, wird sich die Macht, die der Mensch hat, immer mehr in Zerstörungsmacht verwandeln.

Es gibt heute einen neuen Moralismus, dessen Schlüsselwörter Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung sind, Begriffe, die nach wesentlichen moralischen Werten rufen, derer wir alle wirklich bedürfen. Aber dieser Moralismus bleibt vage und gleitet damit fast unausweichlich in die Sphäre der Politik und der Parteien. Er ist vor allem eine Forderung an andere und zu wenig eine persönliche Verpflichtung unseres täglichen Lebens. Ja, was bedeutet Gerechtigkeit? Wer definiert das? Was dient dem Frieden? In den letzten Jahrzehnten haben wir auf unseren Straßen und unseren Plätzen zur Genüge gesehen, wie der Pazifismus zum zerstörerischen Anarchismus und zum Terrorismus hin abirren kann. Der politische Moralismus der siebziger Jahre, dessen Wurzeln ganz und gar nicht tot sind, war ein Moralismus, dem es gelang, auch die jungen Leute voller Ideale zu faszinieren. Aber er war ein fehlgeleiteter Moralismus, insofern ihm gelassene Vernünftigkeit fehlte, und darum stellte er – ins letzte analysiert – die politische Utopie über die Würde des einzelnen Menschen und bewies sogar, daß er dahingelangen konnte, im Namen großer Ziele den Menschen zu verachten.

Der politische Moralismus, wie wir ihn erlebt haben und ihn noch erleben, öffnet nicht nur keine Straße zu einer Erneuerung, sondern blockiert sie. Das gleiche gilt folglich für ein Christentum und für eine Theologie, die den Kern der Botschaft Jesu – das „Reich Gottes“ – auf die „Werte des Reiches“ reduzieren, indem sie diese Werte mit den großen Worten der Ordnung des politischen Moralismus identifizieren und sie zugleich als Synthese der Religionen proklamieren. So aber vergißt man Gottes, obwohl gerade er das Subjekt und die Ursache des Reiches Gottes ist. An seiner Stelle bleiben große Worte (und Werte), die sich jeder Art des Mißbrauchs anbieten.

Dieser kurze Blick auf die Weltlage führt uns dazu, über die heutige Lage des Christentums nachzudenken, und darum auch über die Grundlagen Europas; jenes Europas, welches, so können wir sagen, eine Zeitlang der christliche Kontinent war, das jedoch zugleich auch der Ausgangspunkt jener neuen wissenschaftlichen Rationalität gewesen ist, die uns große Möglichkeiten geschenkt hat und ebenso große Bedrohungen. Das Christentum ist gewiß nicht von Europa ausgegangen, und es kann darum auch nicht als europäische Religion eingeordnet werden, als die Religion des europäischen Kulturraums. Aber gerade in Europa hat es seine historisch wirksamste kulturelle und intellektuelle Prägung erhalten und bleibt deshalb auf besondere Weise mit Europa verflochten.

Es ist aber auch wahr, daß dieses Europa seit der Zeit der Renaissance und – in vollendeter Form – seit der Aufklärung eine wissenschaftliche Geisteshaltung entwickelt hat. Diese führte in der Zeit der Entdeckungen zur geographischen Einheit der Welt und zur Begegnung der Kontinente und Kulturen. In unserer Zeit drückt sie durch die Technik, die durch die Wissenschaften ermöglicht wurde, der ganzen Welt ihren Stempel auf und uniformiert diese in einer gewissen Weise sogar. Im Gefolge dieser Geisteshaltung hat Europa eine Kultur entwickelt, die Gott in einer Weise aus dem öffentlichen Gewissen ausschließt, wie das die Menschheit bisher nie gesehen hat. Gott wird entweder ganz geleugnet oder seine Gegenwart wird als unbeweisbar und ungewiß hingestellt. Somit gehört Gott dem Raum der persönlichen Entscheidungen an und wird zu etwas, das für das öffentliche Leben bedeutungslos ist.

Diese fast rein funktionale Geisteshaltung bewirkt eine Erschütterung des moralischen Gewissens. Das ist für die Kulturen, die bisher existiert haben, etwas ganz Neues, weil plötzlich behauptet wird, daß rational nur ist, was man durch Experimente beweisen kann. Weil aber die Moral einer ganz anderen Sphäre angehört, verschwindet sie als eigenständige Kategorie. Sie muß auf eine andere Weise wiedererlangt werden, denn man kann nicht abstreiten, daß die Moral in einer gewissen Weise dennoch notwendig ist. Somit entscheidet in einer Welt, die auf dem Kalkül beruht, das Kalkül der Konsequenzen, was als moralisch zu betrachten ist und was nicht. Auf diese Weise verschwindet die Kategorie des Guten, die vom Philosophen Immanuel Kant sehr einleuchtend herausgestellt wurde. Nichts ist in sich gut oder böse. Alles hängt von den Konsequenzen ab, die eine Handlung voraussehen läßt.

Einerseits hat das Christentum seine wirksamste Form in Europa gefunden. Andererseits muß man aber sagen, daß sich in Europa zugleich in eine Kultur entwickelt hat, die der absolut radikalste Widerspruch nicht nur des Christentums, sondern auch der religiösen und moralischen Traditionen der Menschheit ist. Von hier aus versteht man, daß Europa eine wahrhafte Nagelprobe darstellt und man begreift die radikalen Spannungen, denen unser Kontinent ausgesetzt ist. Aber hier kommt auch die Verantwortung zum Vorschein, die wir Europäer in diesem historischen Augenblick wahrnehmen müssen. In der Debatte um die Definition Europas und um seine neue politische Form kämpfen wir kein nostalgisches Rückzugsgefecht der Geschichte, sondern tragen vielmehr eine große Verantwortung für die heutige Menschheit.

Werfen wir einen genaueren Blick auf den Gegensatz der zwei Kulturen – Christentum und Aufklärung –, die beide Europa geprägt haben. In der Debatte um die Präambel der europäischen Verfassung, wurde dieser Gegensatz in zwei kontroversen Punkten sichtbar: in der Frage des Gottesbezuges und in der Frage der Erwähnung der christlichen Wurzeln Europas. Man sagt, daß die Christen angesichts der Tatsache, daß Artikel 52 der EU-Verfassung die institutionalen Rechte der Kirchen schütze, beruhigt sein können. Doch das bedeutet, daß die Christen ihren Platz im Leben Europas im Rahmen des politischen Kompromisses finden, während die europäischen Fundamente von christlichen Inhalten unberührt bleiben. Die Begründung, die in der öffentlichen Debatte für dieses „Nein“ gegeben wird, ist oberflächlich. Es ist klar, daß sie – statt die wahren Gründe bekanntzugeben – diese eher verdeckt. Die Behauptung nämlich, daß die Erwähnung der christlichen Wurzeln Europas die Gefühle vieler Nicht-Christen, die in Europa leben, beleidige, ist wenig überzeugend, weil es sich dabei in erster Linie um eine historische Tatsache handelt, die niemand im Ernst leugnen kann.

Natürlich enthält eine solche historische Anspielung auch einen Bezug zur Gegenwart, da man durch die Erwähnung der Wurzeln auch die verbleibenden Quellen der moralischen Orientierung, also, einen Identitätsfaktor des Gebildes, das sich Europa nennt, bezeichnet. Wer würde damit beleidigt? Wessen Identität würde dadurch bedroht? Die Moslems, die hier häufig und gerne ins Spiel gebracht werden, fühlen sich nicht von unseren christlichen Fundamenten der Moral bedroht, sondern vom Zynismus einer säkularisierten Kultur, die ihre eigenen Fundamente leugnet. Auch unsere jüdischen Mitbürger werden vom Bezug auf die christlichen Wurzeln Europas nicht beleidigt, insofern diese Wurzeln bis auf den Berg Sinai zurückgehen. Sie sind von der Stimme geprägt, die sich auf dem Gottesberg hören ließ, und sie verbinden uns in den großen grundlegenden Orientierungen, welche die Zehn Gebote der Menschheit gegeben haben. Das gleiche gilt für den Gottesbezug: Nicht die Erwähnung Gottes beleidigt die Mitglieder der anderen Religionen, sondern eher der Versuch, eine menschliche Gemeinschaft ohne Gott aufzurichten.

Die Gründe für das genannte zweifache „Nein“ sind tiefer, als die vorgebrachten Erklärungen vermuten lassen. Das doppelte Nein setzt die Meinung voraus, daß nur eine radikal aufklärerische Kultur, die in unserer Zeit zur vollen Blüte gelangt ist, für die europäische Identität konstitutiv sein kann. Neben ihr können verschiedene religiöse Kulturen mit ihren entsprechenden Rechten existieren, unter der Bedingung und im Maß aber, in dem sie die Kriterien der aufklärerischen Kultur respektieren und sich ihnen unterwerfen.

Die Kultur der Aufklärung definiert sich im wesentlichen durch die Rechte der Freiheit. Für diese Kultur ist die Freiheit der fundamentale Wert, der alles andere mißt: die Freiheit der Religionswahl, welche die religiöse Neutralität des Staates mitbeinhaltet; die Freiheit, die eigene Meinung zu sagen, sofern sie dieses Regelwerk nicht in Zweifel zieht; die demokratische Ordnung des Staates, das heißt, die parlamentarische Kontrolle der Staatsorgane; die freie Formung der Parteien; die Unabhängigkeit der Rechtssprechung; und zum Schluß der Schutz der Menschenrechte und das Verbot von Diskriminierungen. Im letzten Punkt ist das Regelwerk noch immer im Entstehen begriffen, weil es sich widersprechende Menschenrechte gibt, wie zum Beispiel im Fall des Gegensatzes des Freiheitswillens der Frau und des Lebensrechtes des ungeborenen Kindes.

Das Konzept der Diskriminierung wird immer mehr ausgeweitet. Deshalb kann sich das Verbot der Diskriminierung immer mehr in eine Beschränkung der Meinungsfreiheit und der Religionsfreiheit verwandeln. Schon bald wird man nicht mehr – wie es die katholische Kirche tut – lehren können, daß die Homosexualität eine objektive Unordnung in der Struktur der menschlichen Existenz ist. Und die Tatsache, daß die Kirche überzeugt ist, nicht das Recht zu besitzen, Frauen zur Priesterweihe zuzulassen, wird von einigen als mit der europäischen Verfassung unvereinbar betrachtet.

Es ist klar, daß das Regelwerk der Kultur der Aufklärung – das noch alles andere als definitiv ist – wichtige Werte enthält, auf die wir als Christen nicht verzichten können oder wollen. Aber es ist ebenso offensichtlich, daß der schlecht oder gar nicht definierte Begriff der Freiheit, der dieser Kultur zugrunde liegt, zu unvermeidlichen Widersprüchen führt. Und es ist offensichtlich, daß er aufgrund seiner radikalen Anwendung zu Einschränkungen der Freiheit führen wird, die wir uns noch vor einer Generation nicht hätten vorstellen können. Eine konfuse Ideologie der Freiheit führt zu einem Dogmatismus, der sich der Freiheit gegenüber immer feindlicher verhält.

Wir werden jedenfalls noch einmal zur Frage der inneren Widersprüche in der derzeitigen Gestalt der aufklärerischen Kultur zurückkehren müssen. Doch zunächst müssen wir damit zu Ende kommen, sie zu beschreiben. Es gehört zu ihrem Wesen – insofern sie nämlich als Kultur einer Vernunft auftritt, die endlich vollständiges Bewußtsein ihrer selbst besitze –, sich eines universalen Anspruchs zu rühmen und sich als in sich selbst vollendet zu begreifen, keiner Ergänzung durch andere kulturelle Faktoren bedürfend.

Diese beiden charakteristischen Merkmale werden offenbar, wenn sich die Frage stellt, wer Mitglied der europäischen Gemeinschaft werden kann, besonders in der Debatte um den Eintritt der Türkei in die EU. Bei der Türkei handelt es sich um einen Staat – oder vielleicht besser: um einen Kulturraum – der keine christlichen Wurzeln besitzt, sondern von der islamischen Kultur geprägt ist. Später hat Atatürk versucht, die Türkei in einen weltlichen Staat umzuformen, indem er den Laizismus, der in der christlichen Welt Europas gereift war, auf moslemischem Boden einpflanzte.

Man kann die Frage stellen, ob das möglich ist. Die Thesen der aufklärerischen und laizistischen Kultur Europas gehen davon aus, daß nur die Normen und Inhalte der Kultur der Aufklärung in der Lage sind, die Identität Europas zu bestimmen. In der Folge kann jeder Staat, der sich diese Kriterien zueigen macht, zu Europa gehören. Letztendlich spielt es also keine Rolle, welchem Wurzelwerk die Kultur der Freiheit und Demokratie aufgepflanzt wird. Aus genau diesem Grund erklärt man, daß die Wurzeln nicht in die Definition der Fundamente Europas einbezogen werden können, weil es sich um tote Wurzeln handle, die nicht Teil der gegenwärtigen Identität seien. Die neue Identität, die einzig durch die Kultur der Aufklärung bestimmt ist, führt folglich dazu, daß auch Gott im öffentlichen Leben und in den Grundlagen des Staates keine Rolle mehr spielt.

Auf diese Weise wird alles logisch und irgendwie auch plausibel. Was können wir uns Schöneres wünschen, als daß Demokratie und Menschenrechte überall respektiert werden? Doch es stellt sich dennoch die Frage, ob es sich bei der laizistischen Kultur der Aufklärung wirklich um jene endlich entdeckte Kultur einer Vernunft handelt, die allen Menschen gemeinsam ist, eine Kultur, die – wenn auch auf historisch und kulturell unterschiedlichem Boden – überall Zugang haben sollte. Man kann sich auch fragen, ob diese Kultur wirklich so in sich selbst vollendet ist, daß sie keiner Wurzeln außerhalb von sich selber bedürfte.

Wir müssen jetzt diese letzten zwei Fragen angehen. Die erste: Haben wir mit diesem Denkgebäude endlich eine allgemeingültige und völlig wissenschaftliche Philosophie entdeckt, in der jene Vernunft zum Ausdruck kommt, die allen Menschen gemeinsam ist? Auf diese Frage können wir folgendermaßen antworten. Zweifellos ist die Philosophie der Aufklärung zu wichtigen Einsichten gelangt, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Zu ihnen gehört die Erkenntnis, daß die Religion nicht vom Staat aufgezwungen, sondern nur in Freiheit angenommen werden kann, die Respektierung der für alle Menschen gültigen Grundrechte, die Gewaltentrennung und die Kontrolle der Macht.

Man darf aber nicht glauben, daß diese Grundwerte, die von uns als allgemeingültig angenommen werden, in jedem historischen Kontext auf gleiche Weise verwirklicht werden können. Nicht alle Gesellschaften besitzen die im Westen gegebenen soziologischen Voraussetzungen für eine Demokratie, die auf politischen Parteien gegründet ist. Deshalb ist die vollständige religiöse Neutralität des Staates in den meisten historischen Kontexten als Illusion zu betrachten.

Damit kommen wir zu den Problemen, die mit der zweiten Frage zusammenhängen. Vorher wollen wir aber die Frage klären, ob sich die modernen Philosophien der Aufklärung insgesamt als das letzte Wort der allen Menschen gemeinsamen Vernunft betrachten können. Diese Philosophien sind dadurch gekennzeichnet, daß sie positivistisch und darum antimetaphysisch sind. Gott hat in ihnen letztlich keinen Platz. Sie gründen auf einer Selbstbeschränkung auf die positive Vernunft, die vielleicht im Bereich der Technik angebracht ist. Wo sie aber verallgemeinert werden, führen sie zu einer Verstümmelung des Menschen. Die Selbstbeschränkung auf die positive Vernunft hat nämlich zur Folge, daß der Mensch keine moralische Instanz außerhalb seiner eigenen Berechnungen zuläßt und daß die Idee der Freiheit, die sich zuerst unbeschränkt auszudehnen scheint, am Schluß zur Selbstzerstörung der Freiheit führt.

Es stimmt, daß die positivistischen Philosophien wichtige Wahrheitselemente beeinhalten. Diese gründen jedoch auf einer Selbstbeschränkung der Vernunft, die für ein bestimmtes kulturelles Umfeld typisch ist – jenes des modernen Westens – und deshalb mit Sicherheit nicht das letzte Wort der Vernunft sein kann. Obwohl sie sich als vernunftgemäß vorstellen, sind diese Philosophien nicht die Stimme der Vernunft, sondern kulturell an die Situation des heutigen Westens gebunden. Darum stellen sie nicht jene Philosophie dar, die einmal auf der ganzen Welt gültig sein kann. Außerdem muß man sagen, daß die Philosophie der Aufklärung und die dazugehörige Kultur unvollständig sind. Diese Philosophie löst sich bewußt von ihren historischen Wurzeln und beraubt sich der Urkräfte, aus denen sie herausgeflossen ist, nämlich jener Grunderinnerung der Menschheit, ohne welche die Vernunft ihre Orientierung verliert.

Jetzt gilt der Grundsatz, daß die Fähigkeit des Menschen das Maß seines Handelns ist. Was man tun kann, darf man auch tun. Ein vom Tun-Können unterschiedenes Tun-Dürfen existiert nicht mehr, weil das jener Freiheit widersprechen würde, die der absolut höchste Wert ist. Aber der Mensch kann vieles – und immer mehr – tun. Wenn sein Tun-Können in einer moralischen Norm kein Maß findet, wird es, wie wir bereits gesehen haben, zu einer Zerstörungsmacht. Der Mensch kann Menschen klonen und tut es darum auch. Der Mensch kann Menschen als Organ-Ersatzteillager für andere Menschen verwenden und tut es darum auch. Er tut es, weil das eine Notwendigkeit seiner Freiheit zu sein scheint. Der Mensch kann Atombomben bauen, stellt sie darum auch her und ist – wenigstens prinzipiell – sogar bereit, sie zu verwenden. Auch der Terrorismus gründet letztendlich auf dieser Weise der Selbstbeauftragung des Menschen und nicht auf den Lehren des Koran.

Die radikale Loslösung der Philosophie der Aufklärung von ihren Wurzeln führt am Ende zu einer Verringerung des Menschen. Der Mensch besitzt im Grund genommen keine Freiheit, erklären uns die Sprecher der Naturwissenschaften im totalen Widerspruch zum Ausgangspunkt ihres Denkens. Der Mensch soll nicht glauben, daß er im Vergleich zu den anderen Lebewesen etwas anderes ist. Darum sollte er auch wie die anderen Lebenwesen behandelt werden, sagen uns sogar die fortschrittlichsten Sprecher jener Philosophie, die sich radikal von den Wurzeln der historischen Erinnerung der Menschheit losgelöst hat.

Kann oder soll die positivistische Philosophie ihre historischen christlichen Wurzeln in den Bereich der reinen Vergangenheit verweisen und folglich als etwas betrachten, was nur für den einzelnen gültig sein kann? Wir müssen beide Fragen mit einem klaren „Nein“ beantworten. Die positivistische Philosophie, die auf die Aufklärung zurückgeht, ist nicht der Ausdruck einer vollendeten menschlichen Vernunft, sondern nur ein Teil davon. Wegen ihrer Verkürzung der Vernunft kann man sie keinesfalls als vernünftig bezeichnen. Deshalb ist sie auch unvollständig. Sie kann nur genesen, wenn sie von neuem den Kontakt mit ihren Wurzeln aufnimmt. Ein Baum ohne Wurzeln verdorrt …

Diese Aussage leugnet nicht alles, was diese Philosophie an Gutem und Wichtigem sagt, sondern bekräftigt eher ihr Bedürfnis nach Vervollkommnung und ihre tiefe Unvollständigkeit. Deshalb müssen wir erneut auf die zwei kontroversen Punkte in der Präambel der Europäischen Verfassung zu sprechen kommen. Die Verdrängung der christlichen Wurzeln ist nicht Ausdruck einer höheren Toleranz, die alle Kulturen auf die gleiche Weise achtet und keine von ihnen bevorzugen will. Sie ist vielmehr die Verabsolutierung einer Denk- und Lebensform, die sich den anderen historischen Kulturen der Menschheit radikal entgegenstellt.

Der wahre Widerspruch, welcher die heutige Welt charakterisiert, ist nicht jener zwischen den unterschiedlichen religiösen Kulturen, sondern der Konflikt zwischen der radikalen Emanzipation von Gott und den Wurzeln des Lebens auf der einen und den großen religiösen Kulturen auf der anderen Seite. Wenn es zu einem Kampf der Kulturen kommen sollte, dann wird er nicht von einem Konflikt zwischen den großen Religionen ausgehen – die von jeher miteinander im Streite liegen, es aber auch immer verstanden haben miteinander zu leben –, sondern von der Auseinandersetzung zwischen der radikalen Emanzipation des Menschen und den großen geschichtlichen Kulturen.

Darum ist auch die Ablehnung des Gottesbezuges nicht Ausdruck einer Toleranz, welche die nicht theistischen Religionen und die Würde der Atheisten und Agnostiker schützt, sondern eher Zeichen eines Bewußtseins, das Gott definitiv aus dem öffentlichen Leben der Menschheit verbannen und in den subjetiven Bereich der Kulturreste der Vergangenheit verdrängen möchte. Der Relativismus, von dem dieses Bewußtsein ausgeht, entwickelt sich so zu einem Dogmatismus, der sich im Besitz der definitiven Vernunfterkenntnis und im Recht glaubt, den Rest der Geistesgeschichte nur als ein Stadium der Menschheit zu betrachten, das im Grunde überwunden ist und folglich relativiert werden kann. Das bedeutet in Wirklichkeit, daß wir für unser Überleben Wurzeln benötigen. Wir dürfen Gott nicht aus den Augen verlieren, wenn wir wollen, daß die Menschenwürde nicht verschwindet.

Von Anfang an hat sich das Christentum als die Religion des Logos – des Wortes – begriffen: als eine Religion also, die der Vernunft folgt. Das junge Christentum fand seine Vorläufer nicht so sehr in den anderen Religionen als in der klassischen philosophischen Aufklärung, die den Weg von vielen Traditionen befreite, um sich der Suche nach der Wahrheit, dem Guten und dem einzigen Gott, der über allen Götzen steht, zuzuwenden.

Als universale Religion der Verfolgten – jenseits der verschiedenen Staaten und Völker – verweigerte das Christentum dem Staat das Recht, die Religion als ein Teil des Staatswesens zu betrachten. Auf diese Weise hat es die Glaubensfreiheit gefordert. Es definierte alle Menschen unterschiedslos als Geschöpfe und Abbilder Gottes und verkündigte prinzipiell – wenn auch in den notwendigen Grenzen der sozialen Ordnung – deren gleiche Würde.

In diesem Sinn ist die Aufklärung christlichen Ursprungs und ist nicht zufälligerweise und ausschließlich im Umfeld des christlichen Glaubens geboren. In späteren Zeiten wurde das Christentum leider und gegen seine Natur zu einer Tradition und zu einer Staatsreligion. Obwohl die Philosophie als Suche nach der Vernünftigkeit – auch nach der Vernünftigkeit des Glaubens – immer ein Teil des Christentums gewesen ist, wurde ihre Stimme mit der Zeit allzusehr gezähmt.

Es war und ist das Verdienst der Aufklärung, diesen ursprünglichen Wert des Christentums wiederentdeckt und der Vernunft ihre eigene Stimme wiedergegeben zu haben. In der „Konstitution über die Kirche in der modernen Welt“ hat das Zweite Vatikanische Konzil die tiefe Übereinstimmung zwischen dem Christentum und der Aufklärung erneut bekräftigt und versucht, zu einer echten Versöhnung zwischen der Kirche und der Modernität zu kommen. Diese Versöhnung ist ein großes Gut, das von beiden Seiten bewahrt werden muß.

Das setzt aber voraus, daß beide Seiten bereit sind, über sich nachzudenken und sich zu korrigieren. Das Christentum muß sich immer daran erinnern, daß es die Religion des Logos – des Wortes – ist. Der Logos ist der Glaube an den „Creator spiritus“, den Schöpfergeist, von dem alles Wirkliche stammt. Das sollte heute die philosophische Kraft des Christentums sein, angesichts der Frage, ob die Welt aus dem Unvernünftigen hervorgegangen und die Vernunft daher nichts Anderes sei als ein vielleicht sogar schädliches „Unterprodukt“ der Entwicklung der Welt, oder ob die Welt von der Vernunft herstammt und diese folglich ihr Kriterium und Ziel ist.

Der christliche Glaube neigt dem zweiten Standpunkt zu. Dieser besitzt von einem rein philosophischen Standpunkt gute Karten, obwohl die erste Meinung heute von vielen als die einzig „vernünftige“ und moderne betrachtet wird. Aber eine Vernunft, die aus dem Irrationalen hervorgeht und schlußendlich selber irrational ist, kann keine Lösung unserer Probleme darstellen. Nur die schöpferische Vernunft, die sich im gekreuzigten Gott als Liebe geoffenbart hat, vermag uns in Wahrheit den Weg zu weisen. Im so notwendigen Dialog zwischen den Ungläubigen und den Katholiken, müssen wir Christen dieser Grundlinie treu bleiben: einen Glauben zu leben, der vom Logos und von der schöpferischen Vernunft herkommt und der deshalb auch für alles offen ist, was wahrhaft vernünftig ist.

An diesem Punkt möchte ich als Glaubender den Ungläubigen einen Vorschlag machen. In der Zeit der Aufklärung versuchte man, die moralischen Grundnormen so zu definieren, daß sie Gültigkeit hätten „etsi Deus non daretur“ – „auch im Fall, daß Gott nicht existieren würde“. Im Widerstreit der Konfessionen und in der damaligen Krise des Gottesbildes bemühte man sich, die Grundwerte der Moral jenseits dieser Widersprüche zu bewahren und sie unabhängig von den vielfältigen Trennungen und Ungewißheiten der verschiedenen Philosophien und Konfessionen zu begründen. Auf diese Weise wollte man die Grundlagen des Zusammenlebens und – allgemeiner – die Fundamente der Menschheit, retten. Das schien in dieser Epoche möglich zu sein, weil die Grundüberzeugungen, die aus dem Christentum hervorgegangen waren, damals größtenteils Bestand hatten und unleugbar erschienen. Das ist heute nicht mehr so.

Die Suche nach einer Gewißheit, die jenseits aller Unterschiede Bestand hat, ist gescheitert. Nicht einmal die wahrhaft großartige Anstrengung des Philosophen Immanuel Kant († 1804) war in der Lage, eine solche gemeinsame Gewißheit zu schaffen. Kant leugnete, daß Gott im Bereich der reinen Vernunft erkennbar sei. Gleichzeitig dachte er Gott, die Freiheit und die Unsterblichkeit als Postulate der praktischen Vernunft. Ohne die praktische Vernunft war für ihn kein kohärentes moralisches Handeln möglich.

Läßt uns die gegenwärtige Lage der Welt nicht von neuem erahnen, daß Immanuel Kant vielleicht doch recht gehabt hat? Ich möchte es mit anderen Worten sagen. Der bis zum bitteren Ende durchgeführte Versuch, die menschlichen Angelegenheiten völlig ohne Gott zu gestalten, führt uns mehr und mehr an den Rand des Abgrundes – hin auf eine völlige Verdrängung des Menschen. Wir müssen darum das Axiom der Aufklärer umkehren und sagen: Auch wer in seinem Leben nicht in der Lage ist, die Existenz Gottes anzunehmen, sollte dennoch versuchen sein Leben so auszurichten „veluti si Deus daretur“ – „als ob es Gott gäbe“. Das ist der Rat, den schon der Philosoph und Theologe Blaise Pascal († 1662) seinen ungläubigen Freunden gab. Das ist der Ratschlag, den wir auch heute unseren ungläubigen Freunden geben wollen. Auf diese Weise wird niemand in seiner Freiheit eingeschränkt. Aber gleichzeitig finden alle unsere Angelegenheiten einen Halt und ein Kriterium, welches sie dringend benötigen.

In diesem Augenblick der Geschichte benötigen wir Menschen, die Gott durch ihren erleuchteten und gelebten Glauben in dieser Welt glaubwürdig machen. Das negative Beispiel von Christen, die über Gott sprechen und gegen ihn leben, verdunkelt das Gottesbild und öffnet dem Unglauben die Türe. Wir benötigen Menschen, die ihren Blick auf Gott ausrichten und von ihm her die wahre Menschlichkeit lernen. Wir benötigen Menschen, deren Intellekt vom Lichte Gottes erleuchtet ist und denen Gott das Herz öffnet, so daß ihr Verstand zum Verstand der anderen sprechen und ihr Herz das Herz der anderen öffnen kann.

Nur durch Menschen, die von Gott berührt sind, kann Gott zu den Menschen zurückkehren. Wir benötigen Menschen wie Benedikt von Nursia, der in einer Zeit der Verschleuderung und des Verfalls in die Einsamkeit eintauchte. Diesem Heiligen gelang es, nach einer persönlichen Reinigung zum Licht aufzusteigen, zurückzukehren und auf Montecassino die Stadt auf dem Berge zu gründen, die – vom Zusammenbruch umgeben – die Kräfte zusammenfaßte, aus denen sich eine neue Welt formte.

So wurde Benedikt wie Abraham zum Vater vieler Völker. Die Empfehlungen an seine Mönche, die er an das Ende seiner Regel stellte, sind Anweisungen, die auch uns den Weg zeigen, der in die Höhe führt – hinaus aus Krisen und Trümmern: »Wie es einen bösen und bitteren Eifer gibt, der von Gott trennt und zur Hölle führt, so gibt es auch einen guten Eifer, der von der Sünde trennt und zum ewigen Leben führt. Das ist der Eifer, den die Mönche in glühender Liebe betätigen sollen: Sie sollen einander in gegenseitiger Achtung übertreffen. Sie sollen ihre leiblichen und charakterlichen Schwächen in großer Geduld aneinander ertragen. … Sie sollen einander selbstlos die brüderliche Liebe erweisen. … Gott sollen sie in Liebe fürchten. … Sie sollen nichts höher stellen als Christus, der uns alle zum ewigen Leben wird führen können« (Kapitel 72).
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

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Sempre
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Sempre »

Stephen Heiner hat gestern den Artikel von Bischof Bernard Tissier de Mallerais (bzw. die englische Übersetzung des Artikels, der Mitte 2009 veröffentlicht wurde) von seinem Blog auf dessen Wunsch entfernt. Gründe gibt er nicht an.

By Bishop Tissier's Request - His article has been removed.

Gruß
Sempre

P.S.: Nach kreuzgang-Zeit vorgestern.
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Gamaliel
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Gamaliel »

Der Text von Bischof Tisser ist weiterhin hier als pdf-Datei verfügbar.

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Niels
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Niels »

Gamaliel hat geschrieben:Der Text von Bischof Tisser ist weiterhin hier als pdf-Datei verfügbar.
Leider nicht mehr. :nein:
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Gamaliel
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Gamaliel »

Niels hat geschrieben:
Gamaliel hat geschrieben:Der Text von Bischof Tisser ist weiterhin hier als pdf-Datei verfügbar.
Leider nicht mehr. :nein:
Nicht, bei mir klappt´s (oder holt er das aus dem Temp-Speicher?)

Jedenfalls hier ist der Originallink und der geht (noch).

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Niels
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Niels »

Danke! :daumen-rauf:
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Sempre
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Sempre »

Gamaliel hat geschrieben:Der Text von Bischof Tisser ist weiterhin hier als pdf-Datei verfügbar.
Dort ist er auch nicht mehr zu finden, aber hier.

Gruß
Sempre
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Marion
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Marion »

Bischof Williamson hat geschrieben:ELEISON KOMMENTARE CCVIII. (9. Juli 2011) : BENEDIKTS DENKEN - I.

Der ,,Eleison Kommentar" vom 18. Juni 2011 versprach eine Folge von vier Ausgaben, welche die ,,Verwirrung" in der ,,Glaubensweise" von Papst Benedikt XVI. aufzeigen. Die Folge stellt eine Zusammenfassung des wertvollen Traktats dar, welches Bischof Tissier de Mallerais als einer der vier Bischöfe der Priesterbruderschaft St. Pius X. vor zwei Jahren über Benedikts Denken schrieb. Das Traktat heißt ,,Der Glaube, gefährdet durch die Vernunft" (,,The Faith Imperilled by Reason"), und der Bischof bezeichnet es als ,,schlicht" - trotzdem deckt es das grundsätzliche Problem des Papstes auf, d.h. wie man den katholischen Glauben der Kirche vollständig bekennen kann, ohne die Werte der modernen Welt verurteilen zu müssen. Das Traktat belegt, daß eine solche Glaubensweise zwingendermaßen verwirrt ist, auch wenn der Papst selber noch irgendwie glaubt.

Das Traktat besteht aus vier Teilen. Nach einer wichtigen Einführung in die ,,Hermeneutik der Kontinuität" untersucht der Bischof kurz die philosophischen und theologischen Wurzeln des päpstlichen Denkens. Im dritten Teil legt er dann die Früchte dieses Denkens dar im Hinblick auf die Hl. Schrift, das Dogma, die Kirche und Gesellschaft, die Christkönigsherrschaft und die letzten Dinge. Der Bischof schließt sein Traktat dann mit einem maßvollen Urteil über den Neuglauben des Papstes - sehr kritisch, aber voller Respekt. Beginnen wir mit einem Überblick der Einleitung :--

Das grundlegende Problem von Benedikt XVI. ist - wie eigentlich für uns alle - der Gegensatz zwischen dem katholischen Glauben und der modernen Welt. So erkennt der Papst zum Beispiel durchaus, daß die moderne Wissenschaft amoralisch, die moderne Gesellschaft säkular und die moderne Kultur multireligiös ist. Er ortet den Gegensatz als zwischen Glaube und Vernunft bestehend - zwischen dem Glauben der Kirche und der von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts herausgearbeiteten Vernunft. Allerdings ist er davon überzeugt, beide auf eine solche Weise auslegen zu können und zu müssen, daß sie in Einklang zueinander stehen. Dieser Überzeugung entsprang seine intensive Teilnahme am Zweiten Vatikanum, denn dieses Konzil versuchte gleichfalls, den katholischen Glauben mit der modernen Welt zu versöhnen. Die traditionellen Katholiken halten dieses Konzil allerdings für mißlungen, weil seine Grundsätze mit dem wahren Glauben unvereinbar sind. Daher rührt Papst Benedikts ,,Hermeneutik der Kontinuität", d.h. sein System der Auslegung, welches zeigen will, daß es keinen Bruch zwischen katholischer Tradition und dem Zweiten Vatikanum gegeben hat.

Die Grundsätze der Benediktschen ,,Hermeneutik" gehen zurück auf den deutschen Historiker Wilhelm Dilthey (1833 - 1911). Dieser behauptete, daß die innerhalb der Geschichte auftretenden Wahrheiten nur innerhalb ihrer jeweiligen Geschichte verstanden werden können, und daß die den Menschen betreffenden Wahrheiten grundsätzlich nur unter Beteiligung des jetzigen menschlichen Subjekts in der jeweiligen Geschichte verstehbar seien. Um den Kern von Wahrheiten aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu übertragen, müssen demnach alle Bestandteile aus dieser Vergangenheit, welche heute belanglos sind, entfernt und mit Bestandteilen ersetzt werden, welche in der jetzigen Zeit wichtig sind. Benedikt wendet diesen zweistufigen Vorgang der ,,Reinigung und Bereicherung" auf die Kirche an. So meint er einerseits mit der Vernunft den Glauben von seinen Fehlern der Vergangenheit reinigen zu müssen, beispielsweise den früheren Absolutismus. Andererseits muß man - so meint er - mit Hilfe des Glaubens die Vernunft der Aufklärung im Hinblick auf ihre Angriffe gegen die Religion mäßigen, und sie daran erinnern, daß ihre menschlichen Werte, ihre Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit alle ihren Ursprung in der Kirche hätten.

Der große Denkfehler des Papstes liegt hier darin begründet, daß die Wahrheiten des katholischen Glaubens - auf welchen die christliche Zivilisation erbaut war und worauf ihre schwachen Reste immer noch ruhen - ihren Ursprung keinesfalls innerhalb der menschlichen Geschichte haben, sondern im ewigen Schoß des unveränderlichen Gottes. Es sind ewige Wahrheiten, aus der Ewigkeit und für die Ewigkeit. ,,Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen", spricht unser Herr (Matthäus 24,35).

Weder vermag Dilthey noch scheinbar Benedikt XVI. sich solche Wahrheiten vorzustellen, welche die menschliche Geschichte und vor allem ihre Aufbereitung weit überragen. Wenn der Papst denkt, daß er durch solche Zugeständnisse an die glaubenslose Vernunft deren Anhänger zum wahren Glauben bringen wird, so hat er falsch gedacht. Denn diese Anhänger verachten den Glauben dadurch nur noch mehr!

Nächstes Mal werden wir die philosophischen und theologischen Wurzeln von Papst Benedikts Denken betrachten.

Kyrie eleison.
Quelle: mein Postfach/Williamsons Newsletter
Zuletzt geändert von Marion am Montag 11. Juli 2011, 23:07, insgesamt 3-mal geändert.
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Pit
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Pit »

Blödsinn, die Wissenschaft ist weder moralisch noch amoralisch.
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Protasius
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Protasius »

Wo hat Papst Benedikt denn gesagt, daß die heute bedeutungslosen Bestandteile der Vergangenheit durch für die Moderne wichtige Dinge ersetzt werden müssen?
Der so genannte ‚Geist’ des Konzils ist keine autoritative Interpretation. Er ist ein Geist oder Dämon, der exorziert werden muss, wenn wir mit der Arbeit des Herrn weiter machen wollen. – Ralph Walker Nickless, Bischof von Sioux City, Iowa, 2009

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Pit
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Pit »

Protasius hat geschrieben:Wo hat Papst Benedikt denn gesagt, daß die heute bedeutungslosen Bestandteile der Vergangenheit durch für die Moderne wichtige Dinge ersetzt werden müssen?
Bezieht sich das auf meinen Beitrag und falls ja:Was möchtest Du mir sagen?
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Sempre
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Sempre »

Protasius hat geschrieben:Wo hat Papst Benedikt denn gesagt, daß die heute bedeutungslosen Bestandteile der Vergangenheit durch für die Moderne wichtige Dinge ersetzt werden müssen?
Dazu empfiehlt es sich, die Ausführungen von Msgr. Tissier de Mallerais zu lesen. Eine verfügbare online-Version (in englischer Sprache) hatte ich oben verlinkt. Die Einleitung und das erste Kapitel reichen vorerst.

Msgr. Tissier de Mallerais zitiert dort u.a. aus der Debatte mit Kardinal Ratzinger und Professor Habermas, sowie aus der Weihnachtsansprache Papst Benedikts XVI. vom 22.12.2005. Aus beiden Texten wurden in diesem Strang weiter vorne auch Zitate in deutscher Sprache gebracht und diskutiert.

Ganz deutlich wird die Position des Hl. Vaters auch in Das Salz der Erde:
Kardinal Ratzinger hat geschrieben:Daß jeder sozusagen versucht, über seinen eigenen Schatten zu springen und gläubig den eigentlichen Kern zu erfassen. Es ist schon viel getan, wenn keine weiteren Brüche eintreten. Und wenn wir begreifen, daß wir in der Getrenntheit einig sein können in vielem.
(Ratzinger/Seewald: Das Salz der Erde, unter "Schwerpunkte kirchlicher Entwicklung", "Ökumene und Einheit")

Die Idee von einem "eigentlichen Kern des Glaubens" impliziert das Verwerfen von Teilen des Glaubens. Über Ratzingers Idee von einer bereinigten Philosophie der Aufklärung, die mit einem durch die Philosophie der Aufklärung bereinigten Glauben zusammenpasse, wurde ab Seite 5 in diesem Strang debattiert.

Gruß
Sempre
Zuletzt geändert von Sempre am Montag 11. Juli 2011, 20:56, insgesamt 3-mal geändert.
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Sempre
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Sempre »

Pit hat geschrieben:
Protasius hat geschrieben:Wo hat Papst Benedikt denn gesagt, daß die heute bedeutungslosen Bestandteile der Vergangenheit durch für die Moderne wichtige Dinge ersetzt werden müssen?
Bezieht sich das auf meinen Beitrag und falls ja:Was möchtest Du mir sagen?
Hättest Du gelesen, was Msgr. Williamson geschrieben hat, dann wüsstest Du, worauf sich Protasius bezieht.

Gruß
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Sempre
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Sempre »

Protasius hat geschrieben:Wo hat Papst Benedikt denn gesagt, daß die heute bedeutungslosen Bestandteile der Vergangenheit durch für die Moderne wichtige Dinge ersetzt werden müssen?
Monseñor Alfonso de Galarreta, der die Delegation der Piusbruderschaft bei den Gesprächen mit Rom geleitet hat, nannte jüngst in Ecône (in englischer Sprache; sehr lesenswert) folgende drei Zitate:
Joseph Kardinal Ratzinger hat geschrieben:Das II. Vatikanum hatte Recht mit seinem Wunsch nach einer Revision der Beziehungen zwischen Kirche und Welt. Es gibt in der Tat Werte, die, auch wenn sie außerhalb der Kirche entstanden sind, ihren Platz - wenn auch gereinigt und korrigiert - in der kirchlichen Sicht der Dinge finden können. In diesen Jahren ist man diesem Anliegen nachgekommen.
(Aus Joseph Kardinal Ratzinger, Zur Lage des Glaubens, Ein Gespräch mit Vittorio Messori, Verlag Neue Stadt, 1985, S. 25-43; Quelle)

Joseph Kardinal Ratzinger hat geschrieben:Das Problem der Sechzigerjahre war es, sich die besten von zweihundert Jahren ‚liberaler’ Kultur dargestellten Werte zu erwerben. Dies sind in der Tat Werte, die, selbst wenn sie außerhalb der Kirche entstanden sind, gereinigt und berichtigt ihren Platz in ihrer Sicht der Welt finden können. Ebendies wurde getan.
(Interview mit Vittorio Messori; veröffentlicht in der italienischen Zeitschrift Jesus, November 1984, S. 72.; Quelle)

Joseph Kardinal Ratzinger hat geschrieben:Wenn man nach einer Gesamtdiagnose für den Text [Gaudium et spes] sucht, könnte man sagen, daß er (in Verbindung mit den Texten über Religionsfreiheit und über die Weltreligionen) eine Revision des Syllabus Pius’ IX., eine Art Gegensyllabus darstellt. Begnügen wir uns hier mit der Feststellung, daß der Text die Rolle eines Gegensyllabus spielt und insofern den Versuch einer offiziellen Versöhnung der Kirche mit der seit 1789 gewordenen neuen Zeit darstellt.
(Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982, 398f; Quelle)


Ersetzt wurden die vielen Verurteilungen des Liberalismus durch die ,besten Werte’ des Liberalismus. Ersetzt wurde der Syllabus durch den Gegensyllabus.

Gruß
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Raphael

Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Raphael »

@ sempre

Papst Benedikt XVI. hält sich mit diesen von Dir zitierten Aussagen ganz an die paulinische Tradition:
Prüft alles und behaltet das Gute!
(1 Thessalonicher 5, 21)

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Sempre
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Sempre »

Raphael hat geschrieben:@ sempre

Papst Benedikt XVI. hält sich mit diesen von Dir zitierten Aussagen ganz an die paulinische Tradition:
Prüft alles und behaltet das Gute!
(1 Thessalonicher 5, 21)
Nur hat das höchste Lehramt genau das, was Du hier als das Gute bezeichnest, oft und streng verurteilt. Es handelt sich folglich nicht um Gutes.

Gruß
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Raphael

Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Raphael »

Sempre hat geschrieben:
Raphael hat geschrieben:@ sempre

Papst Benedikt XVI. hält sich mit diesen von Dir zitierten Aussagen ganz an die paulinische Tradition:
Prüft alles und behaltet das Gute!
(1 Thessalonicher 5, 21)
Nur hat das höchste Lehramt genau das, was Du hier als das Gute bezeichnest, oft und streng verurteilt.
Das ist natürlich Blödsinn und das weißt Du auch! :patsch:

Nicht ich habe hier etwas als gut bezeichnet, sondern der Hl. Paulus hat empfohlen, alles zu prüfen und das Gute zu bewahren. Möchtest Du jetzt dem Hl. Paulus unterstellen, er hätte nicht gewußt, wovon er redete?

Die Verurteilungen des höchsten Lehramtes (vornehmlich im 19. Jahrhundert) beziehen sich auf alle möglichen Auswüchse, die man auch unter dem Oberbegriff "-ismen" fassen könnte: Traditionalismus, Hedonismus, Liberalismus, Modernismus, Rationalismus, Ontologismus, Positivismus etc.

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Sempre
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Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Sempre »

@Raphael

Du verwendest die Heilige Schrift (den Apostel Paulus), um Dir aus dem, was das höchste Lehramt verbindlich lehrt, das Gute ( = das Dir in Kram Passende) herauszupicken. Wir sind hier aber nicht in der Klausnerei. Auch hätte der Hl. Vater wohl keine Freude daran, sich auf solche Weise von Dir verteidigt zu sehen.

Gruß
Sempre
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Raphael

Re: Die Theologie von Joseph Ratzinger im Lichte der Tradition

Beitrag von Raphael »

Sempre hat geschrieben:@Raphael

Du verwendest die Heilige Schrift (den Apostel Paulus), um Dir aus dem, was das höchste Lehramt verbindlich lehrt, das Gute ( = das Dir in Kram Passende) herauszupicken. Wir sind hier aber nicht in der Klausnerei. Auch hätte der Hl. Vater wohl keine Freude daran, sich auf solche Weise von Dir verteidigt zu sehen.

Gruß
Sempre
Und wieder einmal wird absichtsvoll mißverstanden! :D :D :D

Im Übrigen hat die FSSPX eigentlich einen Platz in der Klausnerei verdient, denn sie verteidigt Etwas mit einer solchen Verbissenheit, wie man sie sonst nur aus evangelikalen Kreisen kennt.
Die Problematik ergibt sich nun daraus, daß die FSSPX der Ansicht huldigt, sie würde den katholischen Glauben verteidigen. Allein den Nachweis dafür bleibt sie bislang schuldig ............

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