Gamaliel hat geschrieben:
2. Zunächst also ist die Hermeneutik einfach eine Auslegungstechnik. Was aber ist nun der Maßstab dafür, ob meine Auslegung eines Textes auch „richtig“, „sachgerecht“, „wahr“ ist?
Auskunft darüber, kann nur der Vergleich mit der Wirklichkeit (z.B. bei Texten: dem Wortsinn, der Absicht des Verfassers,…) geben. Stimmt meine Auslegung mit der Wirklichkeit überein, so ist sie wahr, stimmt sie nicht überein, so ist sie falsch. Ohne diesen Bezug zur Wirklichkeit des „Untersuchungs-/Auslegungsobjekts“ wäre jede Hermeneutik nur eine intellektuelle Spielerei ohne jede Relevanz.
In diesem Sinn sehe ich einen Zusammenhang zwischen hermeneutischen Prinzipien und der Wirklichkeit. Können Sie dem zustimmen?
Ich denke, der Zusammenhang zwischen Auslegung und Auslegungsergebnis ist nicht so einfach mit Worten wie "wahr" oder "der Realität entsprechend" zu erfassen. Die größten Hermeneutiker, die ich kenne, sind die Juristen - und wenn drei davon einen Text auslegen, entstehen mindestens drei "Realitäten". Aber lassen wir die Juristen in Ruhe, unser größeres Elend sind die Theologen.
Das große Problem der Kirche in der Gegenwart ist, daß die Ehrfurcht vor der Tradition, die in früheren Zeiten entweder für williges Befolgen oder zumindest vorgetäuschtes Befolgen gesorgt hatte, sich aufgelöst hat und die Tradition unter Rechtfertigungsdruck gesetzt wurde. Bis in 19. Jh. hinein (ich pauschalisiere) legte man Texte ja nicht nur in der Hermeneutik der Tradition aus , man
schrieb sie auch im Geiste der Tradition ("wie schon der hl. Chrysostomus lehrte....") - was ihre Lektüre im Geiste der Tradition wesentlich erleichterte. Selbst Häretiker legten großen Wert darauf, ihre gedanklichen Eigengewächse in traditionelle Formen zu kleiden.
Auf dem 2. Vatikanum wurde die (schon früher öfter geübte) Kunst zu höchster Blüte entwickelt, Texte so zu schreiben, daß man sie sowohl im Geist der Tradition (mit Ergebnis A) als auch im Geiste der Moderne (um nicht gleich zu sagen "Modernismus") dann mit Ergebnis B zu lesen. Was ist da die wahre Bedeutung?
Glücklicherweise gibt es von allen "Konzils-" und "Nachkonzilspäpsten" Aussagen, die erkennen lassen, daß sie dieses üble Spiel (wenn auch vielleicht nicht in seinem ganzen Umfang) erkannt haben und darauf ganz klar aussagten: Nur das, was keinen Bruch zur Tradition darstellt, ist legitim. Das läßt freilich immer noch genug Unklarheit. Wo läuft die Grenze zwischen notwendiger oder legitimer Entfaltung und Weiterentwicklung des Überlieferten und Verkehrung und Bruch? Welche Dinge sind unwesentlich oder gar ephemer, so daß sie relativ leichten Herzens auch in eine Form gebracht werden können, die von der Tradition abweicht, und welche Dinge sind zentral?
Wie sehr man dabei verschiedener Meinung sein kann, sieht man daran, daß hier im Forum von einigen allen Ernstes behauptet wird, die Frage der Frauenordination könne durchaus verschieden beantwortet werden, ohne daß daraus kirchentrennende Konsequenzen hervorgingen. Offenbar berührt diese Frage für sie also keine zentralen und wesentlichen Dinge.
Wenn man die Tradition erst einmal vor dem Richterstuhl der Moderne verklagt, hat man keine Maßstäbe mehr, um solche Fragen zu beantworten.
Als ein wesentliches Motiv des Pontifikats von Papst Benedikt sehe ich das Bestreben, diesen Maßstab wiederzugewinnen. In Bezug auf die Liturgie greift er dazu zu einem Mittel, das ich als "Operieren mit Fiktionen" wahrnehme - und das ich deshalb akzeptieren kann, weil er als oberster Hirte, Inhaber der Lehrgewalt und Gesetzgeber, mit seinem Wort in einer gewissen Weise Realitäten schafft, wie das sonst seit Erlöschen des Königtums von Gottes Gnaden niemand mehr kann.
Der Wille des päpstlichen Gesetzgebers Paul VI. bei Promulgation des NO ist sonnenklar: Die alte Liturgie soll abgeschafft werden. Das wurde auch in aller Strenge durchgezogen - nur für ein paar "Sozialfälle" wurde eine Ausnahmeregelung geschaffen, wobei es völlig klar war, daß diese Troublemaker eher früher als später aussterben würden und damit die Gründe für die punktuelle Duldung des alten Missales entfallen würden. Allerdings konnte man unter den Umständen dieser Duldung die alte Messe nicht so, wie Biugnini das verlangte, absolut, formal und feierlich verbieten und mit dem letzten großen Anathema der "aufgeklärten" Kirche belegen - und von daher gewinnt die "Erkenntnis", die alte Messe sei nie rechtlich verboten worden, eine über das rein Fiktionale hinausgehende Realität. auf den "Willen des Gesetzgebers" kann sie sich aber nicht stützen.
Der Wille vieler Liturgiereformer zum völligen Bruch mit der liturgischen Tradition ist unübersehbar und ausreichend dokumentiert - der berüchtigte Absatz 7 der ersten Institutio ist ja nur das offensichtlichste Beispiel. Andererseits hat Paul VI. schon 1965 in Mysterium Fidei klar gemacht, daß er solchen unter Berufung auf die Konzilstexte laufenden Bestrebungen energisch widerspricht - warum er trotzdem Bugninis NO promulgierte, ist sein Geheimnis. Aber vielleicht ist es auch gar kein Geheimnis: Er vertraute den Versicherungen der Bugnini-Leute, es sei alles nicht so gemeint, und er vertraute auch einem damals voraussetzbaren Sensus fidelium, daß die Gläubigen das, was ggf. in Richtung Bruch verstanden werden könnte, schon nicht in dieser Richtung verstehen würden.
Auf sichere Quelle geht der Bericht zurück, daß Papst Paul am Pfingstmontag (es kann auch der Sonntag nach Pfingsten gewesen sein) des Jahres 1 nach der Liturgiereform sich beim Sakristan recht unwirsch beschwerte, daß kein rotes Gewand ausgelegt worden sei - nur um belehrt zu werden, er habe doch gerade die Pfingstoktav abgeschafft. Daraufhin sei er (wie öfter in Situationen plötzlicher Erkenntnis) in Tränen ausgebrochen. Er hat den Bruch am eigenen Leib gespürt.
All das und noch viel mehr weiß Josef Ratzinger viel genauer als wir. Und in dieser Situation nimmt er es auf sich, den Widerspruch in die eigene Person hineinzunehmen, als sein Kreuz auf sich zu nehmen, und gegenüber dem offenkundigen Bruch, der sich im Gefolge der Reform ereignet hat, zu sagen: Es gibt keinen Bruch. Und da er das im MP als Gesetzgeber sagt, bedeutet diese in gewissem Umfang durchaus kontrafaktische Aussage: Es darf keinen Bruch geben, und wo es ihn doch gibt (welcher Gesetzgeber erlebt schon die volle Umsetzung seines Willens in der Realität?!) lege ich euch als heilige Pflicht auf, ihn zu überwinden, und zwar auf dem einzigen Wege, der uns offen steht: Im Geist der Tradition.
Und deshalb sind die, die den Bruch wollen, so wütend. Ein anderer Papst (oder das schlichte Gewicht lokaler Machtverhältnisse) könnten verhindern oder zumindest verzögern, daß die alte Liturgie und die "alte Theologie" wieder den Rang als Maßstab zurückgewinnen, den ihnen die Modernisten nehmen wollten. Aber die Möglichkeit, die Tradition zu delegitimieren, ist verbaut. Der Stachel bleibt im Fleisch und wird nicht mit dem Aussterben einer unbelehrbar vorkonziliaren Generation von Tattergreisen herauswachsen.
Von Vergreisung bedroht sieht sich viel mehr die Nouvelle Theologie des revolutionären Jahrhunderts.