Im Kirchenkampf ging es zunächst um die Freiheit der Kirche. Diese war durch den NS-Staat gefährdet. Politische Begriffe wie Nation und Volk sowie das NS-Rassendenken wurden der Kirche von außen aufgezwungen. Klarsichtige Theologen wie Bonhoeffer und Barth erkannten schnell, daß die Kirche unter diesem Regiment 'von außen' aufhört, Kirche Christi zu sein. Wenn der Staat oder das Rassendenken ihr vorschreiben, wer zu ihr gehören darf und was zu predigen sei, dann verliert die Kirche ihre Freiheit und ihre ausschließliche Bindung an Christus. Damit aber hört sie auf, Kirche zu sein.
Daher stellt die Barmer Erklärung fest:
Die Kirche ist nur Jesus Christus als dem Wort Gottes verpflichtet und sonst niemand. Das war die Kampfansage an den Nationalsozialismus.Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.
Es ist auf den ersten Blick offenbar, worin der fundamentale Unterschied zu den Konflikten um den sog. 'Pluralismus' liegt. Die gegenwärtigen Konflikte in der Kirche sind nicht durch Einflußnahme kirchenferner oder politischer Gruppen auf die Kirche entstanden. Allenfalls kann man feststellen, daß bestimmte Fragen in der Gesellschaft diskutiert wurden, bevor sie in den kirchlichen Synoden auf der Tagesordnung standen. 'Pluralismus' in verschiedenen Fragen ist dabei keine neue Erscheinung. Seit Menschengedenken haben in den Kirchen aller Traditionen zu unterschiedlichen Themen unterschiedliche Auffassungen bestanden. Fragen nach der Interpretation und dem Verständnis der Schrift dürften dabei bei den protestantischen Kirchen im Vordergrund gestanden haben.
Ich kann keinesfalls erkennen, daß in der hier behandelten Frage nach der Bewertung von Homosexualität außerbiblische oder außerkirchliche Maßstäbe durch äußeren Druck der Kirche aufgezwungen worden wären. Nur dann wäre eine Parallele zum Kirchenkampf gegeben. Dies halte ich aber für eine bloße Behauptung. Ich sehe auch keine einseitige Einflußnahme der Wissenschaft oder angeblicher wissenschaftlicher Erkenntnisse. Hingegen ist es so, daß unterschiedliche Flügel der Kirchen aufgrund ihrer theologischen und exegetischen Vorprägungen dieses Problem in unterschiedlicher Weise aufgegriffen und beantwortet haben.
Die Wurzel des Konfliktes liegt also nicht in einer Einflußnahme der Gesellschaft auf die Kirche, der ein Teil der Kirche ohne Widerstand erläge, sondern in den unterschiedlichen exegetischen und anthropologischen Grundeinstellungen der Flügel innerhalb der Kirchen, die zu unterschiedlichen Antworten auf die Fragen führen, die von der Gesellschaft an die Kirchen herangetragen werden (Rolle der Frau, Homosexualität etc.).
Bermerkenswert ist ferner, daß das Thema der Frauenordination nicht die gleiche Sprengkraft hatte wie sie jetzt das Thema der Homosexualität zu entfalten scheint, wo doch die Frage nach der Rolle der Frau und ihrem Dienst im Pfarramt für das Leben der Kirche von ungeheuer viel größerer Bedeutung ist.
Das Ergebnis ist: Die Kirche ist nicht unter Druck von außen, sondern sie zerfleischt sich selbst in internen Flügelkämpfen. Und darin liegt die wirkliche Tragik. Die Kirche ist gelähmt und versäumt ihren wirklichen Auftrag durch die Bindung von Kräften in internen Konflikten. Das Zeugnis der Kirche nach außen leidet, weil die Gesellschaft nur noch eine Gemeinschaft wahrnimmt, die über Sex redet und wer mit wem wann und wo.
Nur noch als Anmerkung, damit man sieht, wie wenig sinnvoll der Vergleich mit dem Kirchenkampf ist:
In den Augen der radikalen Liberalen ist es übrigens genau umgekehrt. Die Konservativen erheben durch ihre Fixierung auf die sexuelle Orientierung ein biologisches oder anthropologisches Merkmal zum Bewertungsmaßstab einer Person ebenso wie die Nazis es seinerzeit mit der Rasse getan haben. Wenn die Konservativen sagen, ein Homosexueller dürfe nicht Pfarrer sein, ist dies in ihren Augen eine analoge Aussage zum Arierparagraphen der Nazis.