Weil Clemens nun mehrfach darauf hingewiesen hat, es nenne ihm niemand Gegenargumente zu seiner Darstellung, habe ich mir die Mühe gemacht, einen der Textausschnitte, die auf kath.net veröffentlich wurden, genauer zu betrachten.
Es geht um das Kapitel 'Sola scriptura' oder Apostolizität:
http://www.kath.net/detail.php?id=3782
Die Bibel (Altes und Neues Testament) gilt uns als Wort Gottes, als Heilige Schrift. Sie enthält aber nicht jede Information, die uns heute interessieren würde.
Die Idee, dass allein die Bibel der Maßstab für die kirchliche Lehre sein solle, entstand erst im Hochmittelalter als Reaktion auf mancherlei kirchliche Missstände. Das reformatorische Prinzip „sola scriptura“ (allein die Schrift) ist auch aus den Zuständen der Reformationszeit verständlich.
In den Schmalkaldischen Artikeln schrieb Luther: „Gottes Wort soll Artikel des Glaubens stellen und sonst niemand, auch kein Engel.“
Hier wird bereits ein zentrales Problem dieses Kapitels deutlich. Es werden zwei Aussagen und theologische Positionen miteinander vermischt, ohne das klar zu benennen. Das erste ist das, was die Theologie unter dem reformatorischen 'sola scriptura' zusammenfasst: Den Gedanken, dass die Schrift allein höchster Maßstab und Richtschnur der Lehre und Praxis der Kirche sein darf. In der Kirche darf nichts gelehrt werden, was nicht im Einklang mit der Schrift steht oder ihr widerspricht. Dies lässt neben der biblischen Überlieferung auch Traditionsgut zu, bindet dieses aber an die Schrift, d.h. nur solches Traditionsgut ist beizubehalten, das mit der Schrift in Einklang steht. So haben etwa alle reformatorischen Bekenntnisse die altkirchlichen Symbole (Apostolicum, Nicänum, Athanasianum) beibehalten, die ja nicht dem biblischen Kanon zuzurechnen sind, aber im Sinne der Reformatoren mit diesem im Einklang stehen.
Die zweite Position, die hier anklingt, ist der klassische 'enge' Biblizismus, also eine Haltung, die in der Kirche nur zulassen will, was so direkt in der Bibel vorkommt oder geboten ist. Die Kirche habe sich in Lehre und Gottesdienst von allem zu reinigen, das nicht direkt biblisch begründet und verordnet ist. Nun ist dies eine Haltung, die in der Reformation nur von einigen radikalen Randgruppen vertreten wurde und bis heute vor allem in einigen evangelikalen Gruppen vorkommt. Es ist dies keinesfalls das Schriftprinzip, das die reformatorischen Bekenntnisse mit ihrem 'sola scriptura' beschreiben.
Da hier beide Ansichten vermischt werden, entsteht aber der Eindruck, die Evangelischen würden genau diesen Biblizismus mit 'sola scriptura' meinen. Es mag vereinzelt solche Leute geben, zumal im schwäbischen Pietismus, aber im Hinblick auf die protestantische Lehrbildung und die normativen Bekenntnisse ist das nicht der Fall.
Aber ich denke, aus dem bisher Geschriebenen wurde deutlich: das „sola scriptura“ als theologisches Grundprinzip blendet wichtige Teile der göttlichen Wahrheit aus.
Nein, das ist keineswegs deutlich. Zum einen nicht, weil das 'sola scriptura' nicht entsprechend seiner Bedeutung in den evangelischen Bekenntnissen erklärt wurde und ja durchaus schriftergänzende Traditionen zulässt (solange sie schriftkonform sind), zum anderen, weil diese Aussage intendiert, es gebe wesentliche Glaubenswahrheiten, die in der Bibel quasi fehlen. Da würde mich dann doch interessieren, welche das sind.
Ein besseres Kriterium für die Wahrheit und Richtigkeit der kirchlichen Lehre sehe ich in der „Apostolizität“. Das für alle Kirchen verbindliche Glaubensbekenntnis von Nicäa und Konstantinopel hält fest: „Ich glaube … die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“.
Wie Theurer richtig schreibt, bekennen alle Kirchen diesen Glaubenssatz verbindlich. Daraus leitet sich - zwingend - ab, dass auch die Evangelischen an die Apostolizität der Kirche glauben. Damit wird schon deutlich, dass die hier angebotene Alternative 'sola scriptura' oder Apostolizität eine Scheinalternative ist.
Richtig ist: Auch die Evangelischen glauben an die Apostolizität der Kirche. Die Rückbindung der Lehre und Praxis an die Heilige Schrift ist genau das Mittel, mit dem die ev. Traditionen diese Apostolizität gewährleisten (wollen).
Nicht die Frage, ob jede kirchliche Handlung in der Bibel detailliert beschrieben ist, ist demnach der entscheidende Maßstab, sondern ob sie mit dem übereinstimmt, was die Apostel in ihren Gemeinden gelehrt und praktiziert haben.
Das ist völlig richtig. Der erste Satz bezieht sich auf einen Biblizismus, den die ev. Kirche (zumal die lutherischen und reformierten Kirchen) nicht vertreten. Den zweiten Satz würden sie hingegen ohne zu zögern unterschreiben. Jedoch muß hier die Frage gestellt werden: Woher wissen wir denn, was die Apostel gelehrt und praktiziert haben? Denn die Quellenlage aus der apostolischen Zeit ist dünn und authentische Zeugnisse aus der Feder Apostel haben wir nicht - abgesehen natürlich vom vom Kanon des NT. Und genau diesen halten die Reformatoren für eine wichtige Grundlage und für den Maßstab dessen, was apostolisch ist.
Im Hintergrund steht hier wohl die Meinung, die katholische Kirche wisse (besser als die evangelische), was die Apostel gelehrt und praktiziert haben, weil sie dies - unverfälscht - in ihrer eigenen Lehre und Praxis aufbewahrt habe. Das könnte man dann wohl deutlich so sagen. Vielleicht geschieht das aber an anderer Stelle des Buches. Trotzdem hielte ich diese Auffassung in dieser verkürzten Form für etwas naiv.
Es darf nicht sein, dass im Laufe der Zeit neue Lehren entstehen, von denen die Apostel nichts wussten, oder schlimmer noch: die dem entgegenstehen, was die ersten Christen glaubten. Dieser Gedanke liegt übrigens nicht nur der römisch-katholischen Theologie zugrunde, sondern auch für die Reformatoren Luther, Melanchthon und ihre Anhänger war das selbstverständlich.
Wo liegt denn dann der Gegensatz zwischen der katholischen und der ev. Position? Oder anders: Warum kam es dann überhaupt zum Konflikt?
Nach katholischer Auffassung gilt: „Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes“. Schrift und Tradition widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich.
Ja, das ist die katholische Position. Nur wird weiterhin nicht wirklich klar, worin der Widerspruch liegt.
Der Widerspruch liegt gar nicht darin, dass die einen das Prinzip der Apostolizität hätten, währen die anderen 'Sola Scriptura' haben. Beide versuchen, die Apostolizität der Kirche zu gewährleisten, allerdings auf unterschiedliche Weise:
Die Evangelen tun dies durch das Verbleiben in der Lehre und Praxis der Apostel, gewährleistet durch die Treue zur Schrift.
Die Katholiken hingegen gewährleisten die Apostolizität der Kirche durch das Amt und durch die zwei Säulen Schrift und (außerbiblische) Tradition.
Auf das Amt geh Theurer offenbar in einem anderen Kapitel ein. Das Manko dieses Kapitels ist aber, den eigentlichen Gegensatz im Vergleich nicht klar genug herausgearbeitet zu haben.
Es entsteht der Eindruck, die einen hätten die Apostolizität, während die anderen sich auf die Bibel berufen. Bibel und Apostolizität gibt es in beiden Traditionen, sie werden jedoch unterschiedlich gewichtet und aufeinander bezogen.
Nach der apostolischen Zeit aufgekommene Lehren können demnach auch in der katholischen Kirche niemals zur Glaubensgrundlage für die ganze Christenheit werden. Neue Lehren kann es nicht geben, wohl aber kann sich die Lehre entfalten, so wie ein Baum zwar identisch mit dem Samenkorn ist, aber doch viel ausdifferenzierter im Detail.
Das ist die bekannte Theorie. Da Theurer aber vor allem für evangelische Leserinnen und Leser schreibt, dürften die Rückfragen wohl auf der Hand liegen. Will er etwa ernsthaft glauben, dass das 187 erklärte Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit zu den Lehren gehörte, die die Apostel von Christus empfangen haben? Ich halte das für hanebüchen und für einen naiven Blick auf die katholische Lehr- und Traditionsbildung, den selbst die meisten katholischen Theologen ablehnen würden.