Defizienz lutherisch-orthodoxer Theologie ?

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pneumatikos
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Defizienz lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von pneumatikos »

Ich beschäftige mich seit kurzem etwas intensiver mit der orthodoxen lutherischen Theologie, und muss konstatieren dass ich vieles -als jemand der sich sonst eher im evangelikalen Bereich bewegt- noch nicht ganz durchdrungen resp. verstanden habe, insbesondere die völlige Passivität bei der Rechtferigung, dass ich mir die Gnade "schenken lassen" muss (wobei ich die orthodox-calvinistische Position noch weniger nachvollziehen kann)...

Wer vertritt eigentlich noch die orthodoxe lutherische Rechtfertigungslehre ?
In der EKD und anderen, liberal geprägten lutherischen Kirchen spielt orthodoxe luth. Theologie wahrsch. spätestens seit der Leuenberger Konkordie nur noch eine marginale Rolle; Konservative Lutheraner aus der Landeskirche sind eher evangelikal-pietistisch geprägt, konservative skandinavische Lutheraner hochkirchlich, ebenso wie die SELKies.....es sind wohl eher die kleinen lutherischen Kirchen (z.B. der KELK) die noch an der orthodox-lutherischen Lehre festhalten...

Um auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen: Kann es nicht sein, dass die lutherisch-orthodoxe Lehre bereits in sich (strukturelle) Defizite aufweist? Bereits 1675 wird ja von SPENER in seiner pia desideria ein toter Glaube in der luth. Kirche beklagt...der Pietismus scheint mehr Leute zu mobilisieren als die Orthodoxie....genauso wie hochkirchliche (und eben auch "evangelikale") Erweckungen im 19. Jh.......BONHOEFFER spricht von einer billigen Gnade, ich habe seine Ausführungen kurz überflogen und kann sie relativ gut nachvollziehen..

P.S. Das soll kein Angriff auf diejenigen sein, die die luth.orth. Lehre vertreten; ich will bloß versuchen sie besser nachzuvollziehen..
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Clemens
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Re: Defizität lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von Clemens »

Ich gehe davon aus, dass die SELK die orthodox-lutherischen Positionen vertritt (oder wenigstens vertreten müsste).

Evagrios Pontikos
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Re: Defizität lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von Evagrios Pontikos »

Zunächst wird ja als lutherisch-orthodox die Theologie der nachreformatorischen Generationen verstanden, also z.B. ein Martin Chemnitz. Bemerkenswert ist an der Lutherischen Orthodoxie meiner Meinung nach, dass sie einerseits das Anliegen der lutherischen Reformation bewahrte und gegen unionistische Vereinnahmungsversuche Melanchthons und seiner Schüler verteidigte (z.B. der Zweite Abendmahlsstreit etc.) und dass sie andererseits zu einer Würdigung und Aufnahme vorreformatorischen Glaubens und Denkens fähig war. Z.B. kann die Lutherische Orthodoxie unbefangen mit der mittelalterlichen Scholastik umgehen und Aristoteles rezipieren. Oder die Mystik eines Johannes Tauler wird z.B. für einen Paul Gerhardt sehr wichtig. Er begegnete ihr meines Wissens in seiner Zeit als Seminarist in der Fürstenschule St. Augustin in Grimma. Ich schätze deshalb die Lutherische Orthodoxie sehr, weil sie bei aller Hochschätzung Luthers keine Verengung auf Luther vollzogen hat.

Ich würde Spener deshalb nicht im Sinne einer Totalkritik an der lutherischen Kirche seiner Zeit verstehen wollen. Offenbar hatte Spener bei seiner Kritik konkrete Missstände im Auge. Sein Anliegen war keine grundsätzliche Kritik der lutherischen orthodoxen Theologie. Immerhin vertrat er selbst ja - im Gegensatz zum heutigen Pietismus, der sich gerne auf ihn beruft - sehr lutherische Positionen, z.B. auch im Hinblick auf die Taufe (meines Wissens auch die Taufwiedergeburtslehre).

Der Fortgang der Geschichte hatte meiner Meinung nach - sowohl bei den Pietisten, wie bei den Rationalisten - darin ein gewaltiges Defizit, dass beide die Reformation mehr und mehr als Abgrenzung gegen die vorreformatorische Kirche verstanden. Für die Rationalisten war Luther der Beginn der Aufklärung mir ihrem Gedanken des selbstbestimmten Subjektes. Für die Pietisten war Luther der Wiederentdecker des gläubigen Subjektes im kritischen Gegenüber zur Institution der Kirche. Rationalisten und Pietisten eint allerdings das Vergessen der Kirchenväter. Hier hat leider schon die Reformation ein großes Defizit, dass sie die Väter nämlich sehr eklektizistisch aufgriff und überhaupt im Blick auf die Patristik ziemlich unwissend war. Dieses Defizit wirkt bis heute nach. Z.B. auch bei dem von Dir dargestellten Problem der Passivität bei der Rechtfertigungslehre, welche aus einer einseitigen Augustinus-Rezeption und einer Beschränkung der Sicht auf diesen Kirchenvater resultiert. Wer sich eingehender mit den Vätern beschäftigt, wird leicht merken, dass die Reformation hier eine nicht unproblematische Engführung betrieben hat.

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Lutheraner
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Re: Defizität lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von Lutheraner »

Hallo Pneumatikos,

was verstehst du unter Lutherischer Orthodoxie? Das wird mir durch deinen Beitrag nämlich nicht ganz klar.
"Ta nwi takashi a huga bakashi. Ta nwi takashi maluka batuka"

garda
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Re: Defizität lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von garda »

Wer vertritt eigentlich noch die orthodoxe lutherische Rechtfertigungslehre ?
In der EKD und anderen, liberal geprägten lutherischen Kirchen spielt orthodoxe luth. Theologie wahrsch. spätestens seit der Leuenberger Konkordie nur noch eine marginale Rolle; Konservative Lutheraner aus der Landeskirche sind eher evangelikal-pietistisch geprägt, konservative skandinavische Lutheraner hochkirchlich, ebenso wie die SELKies.....es sind wohl eher die kleinen lutherischen Kirchen (z.B. der KELK) die noch an der orthodox-lutherischen Lehre festhalten...
Wer bitte ist die KELK ??? Da finde ich so ohne weiteres auch nichts.
Um auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen: Kann es nicht sein, dass die lutherisch-orthodoxe Lehre bereits in sich (strukturelle) Defizite aufweist? Bereits 1675 wird ja von SPENER in seiner pia desideria ein toter Glaube in der luth. Kirche beklagt...der Pietismus scheint mehr Leute zu mobilisieren als die Orthodoxie....genauso wie hochkirchliche (und eben auch "evangelikale") Erweckungen im 19. Jh.......BONHOEFFER spricht von einer billigen Gnade, ich habe seine Ausführungen kurz überflogen und kann sie relativ gut nachvollziehen..
Konservative Lutheraner setzen ja die Konkordienformel bereits mit Luthers Lehre gleich, meist ohne zu erwähnen, wie viel später sie entstanden ist und das sie keineswegs unumstritten war und ist.
una sancta catholica et apostolica ecclesia

pneumatikos
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Re: Defizität lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von pneumatikos »

Also Sorry, dass die Antwort so lange auf sich warten ließ, ich habe momentan nicht soviel Zeit hier zu schreiben....
Lutheraner hat geschrieben:was verstehst du unter Lutherischer Orthodoxie? Das wird mir durch deinen Beitrag nämlich nicht ganz klar.
Hallo Lutheraner, nun, das weiß ich selbst nicht so genau, ...also laut wikipedia endet die eigentliche Luth. Orthodoxie ja ca 1730, von daher gesehen sind die Lehren die ich meine vielleicht als "Neo-orthodoxie(n)" zu bezeichnen, wobei dann natürlich zu fragen wäre, inwiefern diese neo-orthodoxen Lehren in Kontinuität zur luth. Orthodoxie des 16./17. Jahrhunderts stehen oder nicht.

Man könnte ja Lutheraner von ihrer theologischen Auffassung her in 4 Strömungen einteilen: Orthodoxe, Pietisten (Evangelikale), Liberale und Hochkirchler, wobei freilich ein Lutheraner für sich beanspruchen kann, zu mehreren Gruppen zu gehören, lediglich dass ein Lutheraner alle 4 Merkmale beansprucht wäre eher ungewöhnlich....

Wenn man diese 4 Eigenschaften also als Pole eines Kontinuums (und nicht als Dichotomien) betrachtet, dann meine ich Lutheraner die in der Selbstwahrnehmung am meisten orthodox bzw. ausschließlich orthodox-lutherisch sind (vielleicht sollte man sie auch als ultra-orthodox bezeichnen) und sich von den anderen 3 theolog. Richtungen explizit abheben wollen, nach dem Motto Pietisten seien zu gesetzlich, Liberale zu weltlich und Hochkirchler zu katholisch(mit Bezug der Klassifizierung des Papstamtes als antichristlich (Schmalkaldische Artikel)


Wie gesagt habe ich die eigentliche luth. Lehre noch nicht richtig gedanklich durchdrungen, aber besonders die völlige Passivität bei der Rechtferigung scheint mir, wie Evagrios Pontikos in seinem Beitrag bereits angedeutet hat, eine Engführung zu sein, und zudem gewissen Bibelstellen zu widersprechen (z.B.Offb 20,13 "Und das Meer gab die Toten heraus, die darin waren, und der Tod und sein Reich gaben die Toten heraus, die darin waren; und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken." Apg 26,20 "sondern verkündigte zuerst denen in Damaskus und in Jerusalem und im ganzen jüdischen Land und dann auch den Heiden, sie sollten Buße tun und sich zu Gott bekehren und rechtschaffene Werke der Buße tun" Matthäus 25,41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!
42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.


Rechtferigung und Heiligung wird im Luthertum getrennt, aber kann man denn ohne Heiligung überhaupt selig werden? In vielen evangelikalen Kreisen wird dies-wenn auch implizit- gewissermaßen bestritten.....

Man kann laut lutherischer Lehre wieder (im Gegensatz zur streng calvinistischen Lehre) ja wieder verloren gehen, aber wie weiß man, ob man(noch) gerettet ist, reicht es getauft zu sein sowie Gottes Wort zu hören und das Abendmahl einzunehmen ....?



Das waren jetzt mehrere, teils unstrukturierte Gedanken, ich hoffe ihr konntet mir einigermaßen folgen.


P.S. @ garda
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Dieter
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Re: Defizität lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von Dieter »

Ich kenne einige Menschen, die die lutherische Rechtfertigungslehre zunächst nicht verstehen bzw verinnerlichen konnten.

Ihnen war die Beschäftigung mit den Liedern von Paul Gerhardt eine große Hilfe. Nachdem sie sich mit dem Leben von Paul Gerhardt beschäftigt und seine Lieder aus tiefem Herzen gesungen hatten, wurde ihnen klar, was Rechtfertigung allein aus Glauben bedeutet.

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Lioba
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Re: Defizität lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von Lioba »

Ich kann ehrlichgesagt den Begriff der "billigen Gnade" überhaupt nicht verstehen. Diese Gnade für uns zu erwirken hat unseren Herrn unendlich viel gekostet und uns kostet sie halt den alten Adam- der zwar nix wert ist, an dem wir aber doch oft hängen.
Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben.
M. v. Ebner- Eschenbach

pneumatikos
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Re: Defizität lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von pneumatikos »

Ich kann ehrlichgesagt den Begriff der "billigen Gnade" überhaupt nicht verstehen. Diese Gnade für uns zu erwirken hat unseren Herrn unendlich viel gekostet und uns kostet sie halt den alten Adam- der zwar nix wert ist, an dem wir aber doch oft hängen.
Ja das genau meint doch Bonhoeffer mit "billiger Gnade", eben dass die Gnade Gottes nicht wertgeschätzt wird; dass sie missverstanden wird im Sinne davon, dass wenn einem Gott gnädig ist ja dann alles tun und lassen könne was man wolle......

Tritonus
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Re: Defizienz lutherisch-orthodoxer Theologie ?

Beitrag von Tritonus »

Der Begriff der "billigen Gnade" stammt aus Bonhoeffers "Nachfolge" (übrigens ein evangelisches Buch, das ich als Katholik empfehlen könnte), wo es heißt:
Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. ...

Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderten Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten. Das sei ja gerade das Wesen der Gnade, dass die Rechnung im voraus für alle Zeit beglichen ist. Auf die gezahlte Rechnung hin ist alles umsonst zu haben. Unendlich groß sind die aufgebrachten Kosten, unendlich groß daher auch die Möglichkeiten des Gebrauchs und der Verschwendung. Was wäre Gnade, die nicht billige Gnade ist?

Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; heißt Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, heißt Liebe Gottes als christliche Gottesidee. Wer sie bejaht, der hat schon Vergebung seiner Sünden. Die Kirche dieser Gnadenlehre ist durch sie schon der Gnade teilhaftig. In dieser Kirche findet die Welt billige Bedeckung ihrer Sünden, die sie nicht bereut und von denen frei zu werden sie erst recht nicht wünscht. Billige Gnade ist darum Leugnung des lebendigen Wortes Gottes, Leugnung der Menschwerdung des Wortes Gottes.

Billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nichts des Sünders. Weil Gnade doch alles allein tut, darum kann alles beim alten bleiben. „Es ist doch unser Tun umsonst.” Welt bleibt Welt, und wir bleiben Sünder „auch in dem besten Leben“. Es lebe also auch der Christ wie die Welt, er stelle sich der Welt in allen Dingen gleich und unterfange sich ja nicht - bei der Ketzerei des Schwärmertums! - unter der Gnade ein anderes Leben zu führen als unter der Sünde! Er hüte sich gegen die Gnade zu wüten, die große, billige Gnade zu schänden und neuen Buchstabendienst aufzurichten durch den Versuch eines gehorsamen Lebens unter den Geboten Jesu Christi! Die Welt ist durch Gnade gerechtfertigt, darum - um des Ernstes dieser Gnade willen!, um dieser unersetzlichen Gnade nicht zu widerstreben! - lebe der Christ wie die übrige Welt! Gewiss, er würde gern ein Außerordentliches tun, es ist für ihn unzweifelhaft der schwerste Verzicht, dies nicht zu tun, sondern weltlich leben zu müssen. Aber er muss den Verzicht leisten, die Selbstverleugnung üben, sich von der Welt mit seinem Leben nicht zu unterscheiden. Soweit muss er die Gnade wirklich Gnade sein lassen, dass er der Welt den Glauben an diese billige Gnade nicht zerstört. Der Christ aber sei in seiner Weltlichkeit, in diesem notwendigen Verzicht, den er um der Welt - nein, um der Gnade willen! - leisten muss, getrost und sicher (securus) im Besitz dieser Gnade, die alles allein tut. Also, der Christ folge nicht nach, aber er tröste sich der Gnade! Das ist billige Gnade als Rechtfertigung der Sünde, aber nicht als Rechtfertigung des bußfertigen Sünders, der von seiner Sünde lässt und umkehrt; nicht Vergebung der Sünde, die von der Sünde trennt. Billige Gnade ist die Gnade, die wir mit uns selbst haben.

Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße, ist Taufe ohne Gemeindezucht, ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, ist Absolution ohne persönliche Beichte. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus.
(Hervorhebung von mir.)

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