EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Rund um Anglikanertum, Protestantismus und Freikirchenwesen.
Benutzeravatar
Lutheraner
Beiträge: 3914
Registriert: Donnerstag 9. November 2006, 10:50

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Lutheraner »

Evagrios Pontikos hat geschrieben:Hieraus folgt auch das Weitere: Schneider profiliert seinen Protestantismus gegenüber dem Katholizismus: kein Lehramt, kein Besitzen und Austeilen der Wahrheit
Bei allem was an Schneider zu kritisieren ist, halte ich das für einen Vorwurf, der nicht gerechtfertigt ist. Es gehört zum Wesen des Katholizismus anderen Konfessionen vorzuwerfen, sich ihm gegenüber profilieren zu wollen. Man erkennt leicht, dass diese Behauptung falsch ist, wenn man über Mitteleuropa hinausschaut: Der Vorwurf wird dem liberalen und individualistischen Protestantismus in Deutschland genauso gemacht, wie dem konservativen und zentralistischen Protestantismus in Nord- und Südamerika. Gegenüber anderen Konfessionsfamilien wie Anglikanern und Orthodoxen finden sich sicherlich auch Beispiele.
Der Vorwurf wird mit den unterschiedlichsten Begründungen versehen: Beim deutschen Protestantismus ist es das fehlende Lehramt, beim nord- und südamerikanischen - wo es in der Regel verbindliche Lehraussagen der Kirchen oder Gemeinden gibt - dann eben die Ablehnung der römischen Eucharistiefrömmigkeit, der Liturgiebezogenheit oder einzelner römischer Dogmen. Manche Katholiken picken sich gerne Eigenheiten oder Glaubensaussagen der einzelnen Gemeinschaften heraus und versuchen sie zur Selbstbestätigung als angebliche Profilierung oder bewusste Abgrenzung gegenüber dem römischen Katholizismus darzustellen.
"Ta nwi takashi a huga bakashi. Ta nwi takashi maluka batuka"

Evagrios Pontikos
Beiträge: 626
Registriert: Mittwoch 23. Dezember 2009, 11:25

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Evagrios Pontikos »

Nach meinem Posting habe ich mich auch gefragt, ob ich mit meinem Bezug auf die CA an der Fragestellung vorbei geschrieben habe. Ich denke, dass dies nicht der Fall ist.

Die Konstituierung des einzelnen Gläubigen durch die Kirche ist nicht spezifisch lutherisch. Dass die Kirche in Bezug auf den Glauben des Einzelnen nicht sekundär ist, ist kein spezifisch lutherischer Zug. Ich will das ganz ohne Bezug auf das Bekenntnis der CA verdeutlichen:

Alle großen Konfessionen (kath., orth., ref., luth.) sehen in der Kirche die Mutter der Gläubigen. Sogar bei Calvin kann man das in der Institutio nachlesen. Die Mutter gebiert die Kinder. Die Mutter lehrt sie das Sprechen. Das ist allgemeinchristliches Erbe, das auf die Alte Kirche zurückgeht. Im altchristlichen Taufgottesdienst tritt der Katechumene in das Taufbecken zum Bischof. Dieser fragt ihn: "Was begehrst du?" Der Katechumene antwortet: "Den Glauben!" Dann folgt das Glaubensbekenntnis. Der Katechumene begehrt also von der Kirche, die der Bischof repräsentiert, den Glauben. Unser Glaube ist deshalb nie unser Glaube, sondern der Glaube der Kirche. Ganz anders bei Schneider, der pointiert von "mein Glaube, meine Glaubenstradition" spricht. Das findet sich so weder bei Luther noch bei Calvin.

Die Kirche lehrt also als die Mutter ihre Kinder, die Gläubigen, das Sprechen, also den Glauben. Diese Relation ist für einen ökumenisch tragfähigen Kirchenbegriff unabdingbar. Und das vermisse ich bei Schneider. Deshalb ist sein Glaubensbegriff auch nicht "evangelisch". Die Kirche als Mutter der Gläubigen - mit diesem Erbe bricht der neuzeitliche Glaubensbegriff, der plötzlich von der Unmittelbarkeit des religiösen Individuums zu Gott redet. Das ist vielleicht Schleiermacher, aber nicht allgemeinchristliche, katholische Auffassung. Das neuzeitliche religiöse Individuum ist sich selber Mutter. Es meint, die Kirche als Mutter nicht zu brauchen. Mit lutherisch, reformiert oder uniert hat das nichts zu tun.

Evagrios Pontikos
Beiträge: 626
Registriert: Mittwoch 23. Dezember 2009, 11:25

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Evagrios Pontikos »

Lutheraner hat geschrieben:...Es gehört zum Wesen des Katholizismus anderen Konfessionen vorzuwerfen, sich ihm gegenüber profilieren zu wollen...
Der Begriff "Profilökumene" bzw. "Ökumene der Profile", der bewusst eine Profilierung anstrebt, stammt aber meines Wissens von Bischof W. Huber in seiner Zeit als Ratsvorsitzender der EKD. In der Denkschrift "Kirche der Freiheit", die wesentlich das Werk von Huber ist, wurde dies dann entfaltet. N. Schneider setzt diese Linie fort.

Benutzeravatar
tanatos
Beiträge: 543
Registriert: Sonntag 1. Juli 2007, 20:02

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von tanatos »

Evagrios Pontikos hat geschrieben: Alle großen Konfessionen (kath., orth., ref., luth.) sehen in der Kirche die Mutter der Gläubigen. Sogar bei Calvin kann man das in der Institutio nachlesen.
...

Die Kirche lehrt also als die Mutter ihre Kinder, die Gläubigen, das Sprechen, also den Glauben. Diese Relation ist für einen ökumenisch tragfähigen Kirchenbegriff unabdingbar. Und das vermisse ich bei Schneider. Deshalb ist sein Glaubensbegriff auch nicht "evangelisch". Die Kirche als Mutter der Gläubigen - mit diesem Erbe bricht der neuzeitliche Glaubensbegriff, der plötzlich von der Unmittelbarkeit des religiösen Individuums zu Gott redet. Das ist vielleicht Schleiermacher, aber nicht allgemeinchristliche, katholische Auffassung. Das neuzeitliche religiöse Individuum ist sich selber Mutter. Es meint, die Kirche als Mutter nicht zu brauchen. Mit lutherisch, reformiert oder uniert hat das nichts zu tun.
Ich muß Dir insoweit zustimmen, daß Schneiders Äußerung hier von Schleiermacher herkommt und sicherlich ein typisches Beispiel gegenwärtiger protestantischer Argumentationsweisen darstellt.
Diese Argumentationsweise ist (auch da sind wir uns einig) eine ganz andere als die lutherische, wie sie in der CA bekannt wird. In diesem Zusammenhang ist noch einmal die große Bedeutung, die die Bekenntnisschriften im Luthertum haben. Was den Aussagen Bekenntnisschriften widerspricht, kann nicht als lutherisch gelten.

Ganz anders sieht es im Kalvinismus aus. Dort sind die reformierten Bekenntnisschriften (zumindest in Deutschlkand) vor allem historische Dokumente, die an erster Stelle auch als solche auch nur historisch relevant sind. Gegenwärtige bekenntnisartige Äußerungen haben oft eine viel größere Relevanz als die verstaubten Glaubensüberzeugungen der Vergangenheit. Und auch die Schriften Kalvins haben vor allem eine historische Relevanz. Die "Unierten" sind für mich bekenntnismäßig noch weniger greifbar als die der Reformierten. Entsprechend können Schneiders Äußerungen durchaus als typisch uniert (i.S. von bekenntnismäßig nicht greifbar) gelten, nicht aber als genuin lutherisch (und das das Luthertum in Deutschland sich gegenwärtig selbst auflöst, steht auf einem anderen Blatt).

Wenn, wie du schreibst, das neuzeitliche religiöse Individuum sich selbst die Mutter ist, zeigt dies nur auf, wie wenig die offizielle Position der landeskirchlichen Kader noch als Vertreter lutherischer Theologie gelten können. Sie sind halt nicht evangelisch, sondern protestantisch. Und im Protestantismus ist die Kirche nicht sonderlich relevant - höchstens ganz im Sinne Schleiermachers als Ansammlung gläubiger Individuen.

Evagrios Pontikos
Beiträge: 626
Registriert: Mittwoch 23. Dezember 2009, 11:25

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Evagrios Pontikos »

tanatos hat geschrieben:...Wenn, wie du schreibst, das neuzeitliche religiöse Individuum sich selbst die Mutter ist, zeigt dies nur auf, wie wenig die offizielle Position der landeskirchlichen Kader noch als Vertreter lutherischer Theologie gelten können. Sie sind halt nicht evangelisch, sondern protestantisch. Und im Protestantismus ist die Kirche nicht sonderlich relevant - höchstens ganz im Sinne Schleiermachers als Ansammlung gläubiger Individuen...
Die Formulierung, dass sich das neuzeitliche religiöse Individuum sich selbst Mutter ist, habe ich natürlich als bewusste Zuspitzung formuliert insofern die Kirche als Mutter abgelehnt würde. Ob N. Schneider sich diesen Schuh anziehen würde, kann ich nicht sagen.

Fakt ist jedoch, wie Du richtig bemerkst, dass Schneider offenbar einen Kirchenbegriff vertritt, der von Schleiermacher deutlich geprägt ist. Schleiermachers Kirchenbegriff kommt vom Vereinswesen her: Individuen mit demselben Interesse schließen sich zu einer Kooperation zusammen, klassisch formuliert in seiner Glaubenslehre: "Die christliche Kirche bildet sich durch das Zusammentreten der einzelnen Wiedergebornen zu einem geordneten Aufeinanderwirken und Miteinanderwirken." (Der christliche Glaube § 115) Vor allem Schneiders Gedanke, dass der Einzelne die anderen zur Korrektur brauche, der andere also funktional definiert wird, findet sich bei Schleiermacher: das "Gesamtwirken" der Kirche als Zusammenwirken der Wiedergeborenen kommt dadurch zustande, dass "keiner sich einer allseitigen und vollkommenen Auffassung Christi bewußt ist", sondern "jeder die der anderen als Ergänzung der seinigen ansieht, woraus eine gegenseitige mitteilende Darstellung hervorgeht." (Ebd.)

Dieser Kirchenbegriff bedeutet einen Bruch mit der Tradition, einen Bruch mit dem Katholischen, mit dem, was zu aller Zeit, an allen Orten und von allen geglaubt worden ist, wie Vinzenz von Lerin es klassisch formuliert hat. Es mag sein, dass die heutigen reformierten und unierten Kirchen dem keine Relevanz zubilligen. Allerdings diskreditieren sie sich dann für jegliche ernsthafte Ökumene. Aber genau das will ja die neuprotestantische "Profilökumene". Wer sich aus der Differenz dem anderen gegenüber definiert, wird blind für die gemeinsame Wurzel, von der wir herkommen, wird blind für das Katholische, womit wir wieder bei CA I wären.

Benutzeravatar
Pit
Beiträge: 8120
Registriert: Freitag 23. April 2004, 17:57

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Pit »

Evagrios Pontikos hat geschrieben:
Lutheraner hat geschrieben:...Es gehört zum Wesen des Katholizismus anderen Konfessionen vorzuwerfen, sich ihm gegenüber profilieren zu wollen...
Der Begriff "Profilökumene" bzw. "Ökumene der Profile", der bewusst eine Profilierung anstrebt, stammt aber meines Wissens von Bischof W. Huber in seiner Zeit als Ratsvorsitzender der EKD. In der Denkschrift "Kirche der Freiheit", die wesentlich das Werk von Huber ist, wurde dies dann entfaltet. N. Schneider setzt diese Linie fort.
Wobei ich einen Unterschied sehe, ob man sich seines eigenen Profiles sicher ist oder nicht und sich deswegen "profilieren" und andere herabsetzen muss.
carpe diem - Nutze den Tag !

Evagrios Pontikos
Beiträge: 626
Registriert: Mittwoch 23. Dezember 2009, 11:25

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Evagrios Pontikos »

Pit hat geschrieben:...Wobei ich einen Unterschied sehe, ob man sich seines eigenen Profiles sicher ist oder nicht und sich deswegen "profilieren" und andere herabsetzen muss.
W. Huber hat den Begriff anders verstanden. Das Profil ist die Grenze zum anderen hin. Von dieser Grenze her definiert sich das Selbst. Die Grenze macht die eigene Individualität fassbar. Durch die deutliche Grenze erhoffte Huber sich, dass die Evangelische Kirche dadurch in der heutigen Öffentlichkeit klarer wahrgenommen wird. In der Folgezeit ist der Begriff dann auch sehr kontrovers diskutiert worden. Z.B. findet sich hier eine nachdenkenswerte Passage von Landesbischof July: http://www.ev-ki-stu.de/aktuelles-hoer- ... 3cf6a3c89 Nicht die Abgrenzung, die Profilierung, sondern die ökumenische Gemeinschaft ist Julys Sehnsucht. Das bedeutet aber, so meine ich, dass man nach dem Katholischen im Sinne Vinzenz von Lerins fragen muss. Nur so kommt die Ökumene weiter. Und da glaube ich, dass eine Theologie wie die von N. Schneider nicht hilfreich ist. Man denke nur an seine Aussagen zum Credo... :nein: Das ist purer religiöser Individualismus im Dreiklang von Individuum, Bibel und Gewissen.

Stephen Dedalus
Beiträge: 5449
Registriert: Dienstag 7. September 2004, 15:28

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Stephen Dedalus »

Evagrios Pontikos hat geschrieben:Fakt ist jedoch, wie Du richtig bemerkst, dass Schneider offenbar einen Kirchenbegriff vertritt, der von Schleiermacher deutlich geprägt ist. Schleiermachers Kirchenbegriff kommt vom Vereinswesen her: Individuen mit demselben Interesse schließen sich zu einer Kooperation zusammen, klassisch formuliert in seiner Glaubenslehre: "Die christliche Kirche bildet sich durch das Zusammentreten der einzelnen Wiedergebornen zu einem geordneten Aufeinanderwirken und Miteinanderwirken." (Der christliche Glaube § 115) Vor allem Schneiders Gedanke, dass der Einzelne die anderen zur Korrektur brauche, der andere also funktional definiert wird, findet sich bei Schleiermacher: das "Gesamtwirken" der Kirche als Zusammenwirken der Wiedergeborenen kommt dadurch zustande, dass "keiner sich einer allseitigen und vollkommenen Auffassung Christi bewußt ist", sondern "jeder die der anderen als Ergänzung der seinigen ansieht, woraus eine gegenseitige mitteilende Darstellung hervorgeht." (Ebd.)
Daß diese Zusammenfassung und Einordnung Schleiermachers zu kurz greift, wird schon an Schleiermachers Verwendung des Begriffes der Wiedergeborenen deutlich. Es handelt sich nicht um Menschen, die aus eigenem Antrieb heraus einen 'Verein' bilden, sondern durch die verändernde Erfahrung der göttlichen Gnade heraus sich in der Kirche finden. Somit ist auch bei Schleiermacher nicht der Mensch, sondern das göttliche Gnadenhandeln Ursache der Kirche.

Ferner betont Schleiermacher die Notwendigkeit der Gemeinschaft in der Kirche. Diese ist keineswegs rein funktional oder korrektiv, sondern konstitutiv für die Gesamtheit der christlichen Offenbarung - da der einzelne Wiedergeborene in seinem Gottesbewußtsein unvollständig bleibt und bleiben muß und daher der anderen notwendig bedarf. Der Individualismus Schleiermachers (den es durchaus gibt), wird hier also durch die Betonung der Notwendigkeit von Gemeinschaft ausbalanciert. Kein Einzelner kann das Gesamte des Glaubens erfassen, das kann nur die Gemeinschaft der Kirche.

In dieser Verankerung der Kirche im göttlichen Gnadenhandeln und in seiner Betonung der Notwendigkeit von Gemeinschaft ist Schleiermacher weitaus 'katholischer' und konkordanter mit der Tradition als Ev. Pontikus das darstellt (wenngleich natürlich durchaus neu in seiner Denkweise - aber das liegt in der Natur der Sache resp. in der Herausforderung begründet, der er sich mit seiner Theologie stellen wollte).
If only closed minds came with closed mouths.

Evagrios Pontikos
Beiträge: 626
Registriert: Mittwoch 23. Dezember 2009, 11:25

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Evagrios Pontikos »

1. Schleiermacher versteht unter "Wiedergeborene" etwas ganz anderes, als dies die Tradition tut. Seine Anthropologie kommt vom neuzeitlichen Bewusstseinsbegriff her, der einer primären anthropologischen und somit fixen Grundstruktur einen sekundären und somit veränderlichen Bewusstseinsinhalt zuordnet. Der christliche Bewusstseininhalt macht für ihn den Christen aus. Dieser ist Gegenstand der Theologie (im Sinne einer Glaubenslehre), die Anthropologie aber ist Gegenstand der Philosophie. Der Theologie ist somit ihr Kämmerchen zugewiesen.

2. Für Schleiermacher ist die Kirche dem Gläubigen sekundär. Der Gläubige ist nicht Christ durch sein Anteilhaben an der Kirche, wie es die Alte Kirche beim Begriff communio sanctorum des Credo als "Anteilhabe am Heiligen" verstand. Der Gläubige ist für Schleiermacher unmittelbar zu Gott in einer Weise, wie dies mit der Tradition - und auch mit Luther! - bricht.

3. Dass Schleiermachers Kirchenbegriff vom neuzeitlichen Vereinsbegriff/Genossenschaftsbegriff einer Interessensgemeinschaft herkommt, ist unumstritten und Examenswissen jedes Theologiestudenten. Für die Alte Kirche jedoch ist koinonia nie Genossenschaft, sondern metalepsis. Kirche ist für Schleiermacher eine Genossenschaft von Menschen, die, vom selben Bewusstsein bestimmt, zusammenwirken. Ausdrücklich sagt er, dass der Kirchenbegriff aus der Ethik entnommen werden müsse.

Meine Sicht Schleiermachers ist wesentlich von Werner Elert ("Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche hauptsächlich des Ostens") bestimmt. Besonders das erste Kapitel "Sanctorium Communio" und das zweite Kapitel "Koinonia als Metalepsis" ist hier zu nennen. Elert schreibt: "Der Gemeinschaftsbegriff, der die Kirche kennzeichnen soll, wird hier [gemeint ist: bei Schleiermacher] nicht aus dem Wesen der Kirche, sondern das Wesen der Kirche aus dem Gemeinschaftsbegriff entwickelt und zu diesem Zweck eine Definition der Gemeinschaft gegeben, die wer weiß wo, nur nicht im Dasein und Sosein der Kirche ihren Ursprung hat." Und Elert war kein Niemand, sondern ein exzellenter Kenner der Alten Kirche.

Aber dass Du Schleiermacher als katholisch verteidigen willst, wundert mich nicht... ;)

Stephen Dedalus
Beiträge: 5449
Registriert: Dienstag 7. September 2004, 15:28

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Stephen Dedalus »

Evagrios Pontikos hat geschrieben:1. Schleiermacher versteht unter "Wiedergeborene" etwas ganz anderes, als dies die Tradition tut. Seine Anthropologie kommt vom neuzeitlichen Bewusstseinsbegriff her,
Ja, selbstverständlich! Das ist ja Teil der Aufgabe, die Schleiermacher sich gestellt hat: Unter den Vorussetzungen der seinerzeit neuen Philosophie und des Bewußtseinsbegriffes die ewigen Wahrheiten der christlichen Theologie neu auszusagen. Daß er dazu andere Terminologien verwendet als die 'Tradition' liegt dabei in der Natur der Sache.
2. Für Schleiermacher ist die Kirche dem Gläubigen sekundär. Der Gläubige ist nicht Christ durch sein Anteilhaben an der Kirche, wie es die Alte Kirche beim Begriff communio sanctorum des Credo als "Anteilhabe am Heiligen" verstand. Der Gläubige ist für Schleiermacher unmittelbar zu Gott in einer Weise, wie dies mit der Tradition - und auch mit Luther! - bricht.
Auch richtig im Hinblick auf Schleiermacher, wobei Dein Hinweis auf Luther nicht nachvollziehbar ist. Der Subjektivismus und die Anthropozentrik sind duch Luther in die (prot.) Theologie gekommen, da beißt keine Maus den Faden ab. Deinen Versuch oben, durch einen Hinweis auf die Anordnung der CA die immanente Anthropozentrik der lutherischen Rechtfertigungslehre zu korrigieren, halte ich für wenig überzeugend.
Meine Sicht Schleiermachers ist wesentlich von Werner Elert ("Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche hauptsächlich des Ostens") bestimmt.
Warum nicht von Schleiermacher selbst? Man kann Schleiermacher sicher durch die Augen seiner Kritiker lesen, ob man dann aber ihm und seinem Anliegen besser gerecht wird, ist zweifelhaft. Ich halte eine Sichtweise auf Schleiermacher, die nur nach den Brüchen mit der Tradition sucht und nicht auch die (möglichen) Kontinuitäten berücksichtigt, für einseitig.
Aber dass Du Schleiermacher als katholisch verteidigen willst, wundert mich nicht... ;)
Daß er 'katholisch' sei, habe ich nicht behauptet und werde ich auch nicht behaupten. Daß er katholischer ist, als Du ihn darstellst, allerdings.
If only closed minds came with closed mouths.

Evagrios Pontikos
Beiträge: 626
Registriert: Mittwoch 23. Dezember 2009, 11:25

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Evagrios Pontikos »

1. Schleiermacher presst den Begriff der Wiedergeburt in das Prokrustes-Bett einer philosophischen Anthropologie. Ob das bloß ein Neu-Aussagen der ewigen Wahrheiten ist, wage ich zu bezweifeln. Denn die Anthropologie ist theologisch vom Reden Gottes her und nicht philosophisch konstituiert.

2. Trotz Luthers Anthropozentrismus, bei dem ich der letzte wäre, der diesen leugnet, ist für Luther der Mensch von der Anteilhabe an der Kirche durch die Gnadenmittel definiert. Ihn plötzlich zur Rechtfertigung des Schleiermacher'schen Anthropozentrismus, der in der idealistischen Philosophie gründet, heranzuziehen, ist etwas, na ja, schwierig.

3. Schleiermacher denkt communio nicht als metalepsis, als Anteilhabe, sondern als gemeinsames Wirken von Subjekten. Auch daran beißt keine Maus einen Faden ab. Und darin bricht er mit der Tradition. Punkt. Katholisch, lutherisch und orthodox ist communio als metalepsis. Das gilt auch noch für Luther, trotz Anthropozentrismus, wenn er sagt, dass der Christenmensch nicht in sich selber, sondern in Gott lebt durch den (durch die Anteilhabe an den Gnadenmittel bewirkten) Glauben. Hier lese ich seine Freiheitsschrift natürlich mit der CA zusammen, die in ganz katholischer Weise von den von der Kirche verwalteten Gnadenmitteln redet.

4. Ich meine, dass Elert Recht hat mit seiner Schleiermacher-Darstellung. Wenn Du meinst, dass Du Schleiermacher durch Deine Augen liest, während ich ihn durch die Brille von Elert lese, täuschst Du Dich. Keiner liest "unmittelbar". Jeder steht in einer Tradition der Rezeption. Bei Dir wird es vielleicht die Brille von Trutz Rendtorff sein oder wessen auch immer. Das reformatorische ad fontes, das Du anstimmst, ist eine Selbsttäuschung - schon bei den Reformatoren selber, die nicht merkten, dass sie eben keinen unmittelbaren Zugang zu den Quellen haben.

5. Ich bestreite, dass Schleiermacher katholisch denkt (macht der Komparativ hier überhaupt Sinn: "katholischer"?): Er verwandelt die Objektivität bzw. Vorgegebenheit des Dogmas in die Subjektivität einer Glaubenslehre (die dann auch von dieser Subjektivität zu radikaler Kritik am Dogma bereit ist!), die Vor-Gabe der Kirche in ihrer Autorität (noch einmal: CA 1, magnus consensus) in ihre Nach-Ordnung als ethischer "Zusammenwirkungsort" verschiedener christlicher Individuen. Ich bezweifle, dass er den Satz von Vinzenz von Lerins unterschreiben könnte. Denn dort geht es um das Was, das zu allen Zeiten etc. geglaubt wurde. Schleiermacher hingegen geht es nicht um das Was, sondern um das Wie, nicht um den Glaubensgegenstand, sondern um den Glaubensakt als Bewusstseinsakt des frommen Subjekts. Deshalb auch keine metalepsis. Denn bei dieser geht es um Anteilhabe an etwas Über-Subjektivem. Und zu dieser gehört auch die Unterwerfung unter die Autorität der lehrenden Kirche! Spätestens hier sträuben sich Schleiermacher jedoch von seinem Freiheitsbegriff her, der in seiner Seelsorgelehre dann eine zentrale Rolle spielt, die Nackenhaare. Und genau hier sind wir wieder bei Nikolaus Schneider: die Trias von Individuum, Bibel und Gewissen.

Stephen Dedalus
Beiträge: 5449
Registriert: Dienstag 7. September 2004, 15:28

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Stephen Dedalus »

Diese Diskussion wird zu nichts führen. Das Problem liegt ganz einfach darin, daß ich versuche, Schleiermacher gegenüber Deiner verkürzten Darstellung in Schutz zu nehmen, während Du versuchst, Schleiermacher aus dem Blickwinkel Deines Verständnisses der Tradition zu kritisieren.

Daher nur so viel:

1. Wie Schleiermacher 'Wiedergeburt' im Detail definiert, ist gar nicht entscheidend. Wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, daß er für seine Ekklesiologie, bei der er durchaus Anleihen beim Vereinswesen macht, die Wiedergeburt als Grunddatum annimmt und sich in diesem Aspekt eben doch in einem grundlegenden Punkt vom Vereinswesen, das allein auf den Interessen der Beteiligten gründet, unterscheidet.

2. Wie kommst Du zu der Behauptung, ich habe Luther zur Rechtfertigung des Schleiermacherschen Anthropozentrismus herangezogen? Nichts dergleichen findet sich in meinen Aussagen. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, daß der Anthropozentrismus der prot. Theologie sich bereits bei Luther findet. Ich unterstelle Schleiermacher in seiner Ekklesiologie diesen Anthropozentrismus nicht, sondern verweise ja gerade darauf, daß er weniger stark ausgeprägt ist, als Du es darstellst.

3. Schleiermacher denkt zwar individualistisch, jedoch nicht solipsistisch. Die Reduktion des Mitchristen auf ein 'Korrektiv' oder auf eine 'Funktion', wie Du es darstellst, akzeptiere ich für Schleiermacher nicht, da durch Schleiermachers Aussage, die anderen fügten durch ihre Gotteserfahrung etwas hinzu, das dem Individuum an Gottesbewußtsein fehle, diese Gemeinschaft als konstitutiv für einen Zustand der Vollkommenheit oder wenigstens doch der Vollständigkeit dargestellt wird. Im Übrigen traue ich - mit Verlaub - Deiner Lesart der Theologie Luthers wie auch der luth. Bekenntnisschriften nicht recht. Bereits im Hinblick auf das Eucharistieverständnis habe ich die Erfahrung gemacht, daß Deine hier vertretene Lesart bei genauerer Überprüfung zumindest von luth. Theologen des 16. Jahrhunderts nicht nachweislich vertreten wurde.

4. Das ist eine hermeneutische Nebelkerze. Wenn keiner 'unmittelbar' liest, geht es also letzlich nur darum, wessen Autoritäten recht haben? Mit fällt immer wieder auf, wie wichtig Dir Autoritäten sind. Ich finde das merkwürdig.

5. Schleiermachers Ekklesiologie erschöpft sich nicht im 'Vereinswesen', sie ist auch nicht ausschließlich individualistisch, da für Schleiermacher die Gemeinschaft mit anderen Wiedergeborenen zumindest notwendig ist, da kein einzelner Christ eine Gesamtheit oder Vollständigkeit der Gotteserfahrung erlangen kann. In diesen beiden zentralen Punkten bedarf das von Dir oben geschilderte Schleiermacherbild der Korrektur.

6. Daß darüber hinaus Schleiermachers Ekklesiologie vom Kirchenbild der Tradition (sowohl der der Reformation wie auch der altkirchlichen) abweicht, steht außer Frage. Ich habe auch nichts anderes behauptet.

7. Trotz allem geht es aber auch bei Schleiermacher um die Teilhabe des Christen an etwas Übersubjektivem. Jedoch verneint er - ganz im Sinne des Idealismus - die Möglichkeit, dieses Übersubjektive gleichsam von außen und objektiv zu beschreiben und zu definieren. Erfahrbar und erkennbar ist es für Schleiermacher nur insoweit, wie es sich in der Erfahrung der Einzelnen spiegelt, wie es auf und in der Seele der Gläubigen wirkt.
If only closed minds came with closed mouths.

Evagrios Pontikos
Beiträge: 626
Registriert: Mittwoch 23. Dezember 2009, 11:25

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Evagrios Pontikos »

In der Tat, die Diskussion führt zu nichts. Mir geht es darum zu zeigen, dass für Schleiermacher die Kirche nicht konstitutiv für das Christsein ist. Dies nämlich meint metalepsis. Demgegenüber ist Kirche für ihn etwas Sekundäres (was nicht meint: etwas Unwichtiges), nämlich der dem Glauben nachfolgende Zusammenschluss der Wiedergeborenen. Und genau hierin liegt der grundlegende Unterschied eines neuzeitlichen zu einem "katholischen" Kirchenverständnis. An diesem Punkt entscheidet sich alles: die Hermeneutik (Verständnis von Schrift und Tradition), der Gewissensbegriff, der Glaubensbegriff etc. Was ich versucht habe zu zeigen, ist, dass N. Schneider eben diese Linie überschritten hat und dass der wesentlicher Theologe, der dies wirkmächtig vertreten hat, eben Schleiermacher ist.

Stephen Dedalus
Beiträge: 5449
Registriert: Dienstag 7. September 2004, 15:28

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Stephen Dedalus »

Evagrios Pontikos hat geschrieben:In der Tat, die Diskussion führt zu nichts. Mir geht es darum zu zeigen, dass für Schleiermacher die Kirche nicht konstitutiv für das Christsein ist. Dies nämlich meint metalepsis. Demgegenüber ist Kirche für ihn etwas Sekundäres (was nicht meint: etwas Unwichtiges), nämlich der dem Glauben nachfolgende Zusammenschluss der Wiedergeborenen.
Dieser Zusammenfassung kann ich durchaus zustimmen.
If only closed minds came with closed mouths.

Evagrios Pontikos
Beiträge: 626
Registriert: Mittwoch 23. Dezember 2009, 11:25

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Evagrios Pontikos »

Stephen Dedalus hat geschrieben:
Evagrios Pontikos hat geschrieben:In der Tat, die Diskussion führt zu nichts. Mir geht es darum zu zeigen, dass für Schleiermacher die Kirche nicht konstitutiv für das Christsein ist. Dies nämlich meint metalepsis. Demgegenüber ist Kirche für ihn etwas Sekundäres (was nicht meint: etwas Unwichtiges), nämlich der dem Glauben nachfolgende Zusammenschluss der Wiedergeborenen.
Dieser Zusammenfassung kann ich durchaus zustimmen.
Wenigstens hier sind wir uns einig. :huhu: Aber dann musst Du ja auch eingestehen, dass Schleiermacher mit Kirche, Wiedergeburt, Glaube, göttliche Gnade bzw. göttliches Gnadenhandeln, Gemeinschaft etc. (um ein paar der Begriffe zu verwenden, die Du als Ausweis seines katholischer-Seins, als ich es dargestellt hätte, anführst) etwas ganz anderes meint als jene Kirche, von der Vinzenz von Lerins spricht. Seine Umdeutung des Kirchenbegriffs, die letztlich in seiner Anthropologie gründet (Kirche als Zusammenwirken von, im Sinne der Aufklärung, der Neuzeit, freier Individuen; Freiheit als etwas dem Subjekt immanentes anstatt durch metalepsis zu-kommendes: Luther nannte das extra nos), ist die grundsätzliche Weiche, wie ich versucht habe darzustellen. Eins folgt hier aus dem anderen.

Und genau das empfinde ich an Schleiermacher und seinen Schülern (bis hin zu Präses N. Schneider) als so problematisch, ja gefährlich: Sie können so fromme Begriffe verwenden, meinen aber mit ihnen etwas ganz anderes als das, was diese Begriffe ursprünglich, nämlich im Sinne jener Kirche, von der Vinzenz von Lerins spricht, bedeuten. Schleiermacher bedeutet eine Wasserscheide, hinter die es kein Zurück gibt, wenn man sie überschritten hat. Aber ich möchte keine neue Diskussion eröffnen.

Stephen Dedalus
Beiträge: 5449
Registriert: Dienstag 7. September 2004, 15:28

Re: EKD-Ratsvorsitzender Schneider erklärt das ev. Bekenntnis

Beitrag von Stephen Dedalus »

Evagrios Pontikos hat geschrieben:Aber dann musst Du ja auch eingestehen, dass Schleiermacher mit Kirche, Wiedergeburt, Glaube, göttliche Gnade bzw. göttliches Gnadenhandeln, Gemeinschaft etc. (um ein paar der Begriffe zu verwenden, die Du als Ausweis seines katholischer-Seins, als ich es dargestellt hätte, anführst) etwas ganz anderes meint als jene Kirche, von der Vinzenz von Lerins spricht.
Auch hier kommen wir nicht zueinander. Ich sehe natürlich, daß Schleiermacher ganz anders von der Kirche spricht als Vinzenz oder ander Väter, aber ich gehe nicht soweit daraus zu schließen, daß er von einer anderen Kirche spricht.
If only closed minds came with closed mouths.

Antworten Vorheriges ThemaNächstes Thema