Gesangstempo

Von Orgelpfeifen, Zimbelspielern und Kantoren.
kastanie
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Gesangstempo

Beitrag von kastanie »

Hallo,
ich bin überwiegend Springer als Organist und spiele in ganz unterschiedlichen Gemeinden (klein/groß, jung/alt, evangelisch/katholisch...). Ein schwieriges Thema ist immer das Gesangstempo. Ich bekomme in etwa gleich viel Rückmeldung, dass es etwas zu schnell oder zu langsam war. Gibt es da ein paar grundsätzliche Empfehlungen, an die man sich halten könnte?
Meine Überlegungen sind folgende:
Das Tempo sollte nicht so langsam sein, dass die Strophe in mehrere "Schnaufpausen" unterteilt werden muss, sondern flüssig singen lässt. Andererseits sollte es eine gewisse Innigkeit erlauben und nicht heruntergesungen werden.
Das ergibt nach meiner Erfahrung trotzdem ein großes Spektrum zwischen zu schnell und zu langsam.
Selbst meine eigene Einschätzung des selben Liedes variiert. In der Regel versuche ich, die jeweiliege Gemeinde zu begleiten, also weder davonzurennen, noch hinterherzuhinken. Schwierig finde ich es, wenn die Gemeinde ein Lied brutal langsam angeht. Wie reagiert man da? Freilich kann man sich in sein Schicksal fügen, aber ich weiß, wie es mir geht, wenn ich in der Gemeinde singe und dann ein Gloria im Beerdigungstempo mitmachen muss. Wo sind die Grenzen des Tempogeschmackes, wieweit kann und darf (oder vielleicht muss? ) man als Organist Einfluss nehmen?

sofaklecks
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Du führst

Beitrag von sofaklecks »

Ganz einfach,

du führst.

Du gibst das Tempo durch das Vorspiel vor. Ich bin deshalb kein Freund von allzu kunstvollen Vorspielen, denen man das Tempo nicht anhört. Ich spiele das Tempo vor, das ich später bei der Begleitung nehme.

Wichtig: Nimm ein vernünftiges Tempo. Das, was dir dein gutes Gefühl sagt.

Und: Nimm Rücksicht. Führe, wenn die Gemeinde nicht folgt. Beispielsweise mit dem cantus auf separatem Manual mit einer Zunge.

Aber beherzige das, was mir mein alter Pfarrer, Gott hab ihn selig, mal in aller Ruhe gesagt hat, als ich als junger Organist mal gemeint hab, die Gemeinde jagen zu müssen: Wir sind nicht Herren Eures Glaubens, sondern Diener Eurer Freude.

Ich hab das gelernt am Beispiel des berühmten Schlusschorals der Kreuzstabkantate. "Komm, oh Tod, du Schlafes Bruder." Das Tempo im Film "Schlafes Bruder" lehnt sich an das ungemein langsame, aber ungeheuer eingehende Tempo von Richter an. Das Tempo in der Aufnahme mit Quasthoff ist wesentlich schneller, ohne dabei an Ausdruck zu verlieren. Wer will da entscheiden, was richtig ist.

Richtig ist das Tempo, das du vorgibst, solange es Spass macht, mitzusingen.

Du merkst das. Das ist wie das Führen beim Tanzen,nur, das der Rythmus in dir liegt. Er kommt, wenn du anfängst, zu spielen.

Mir jedenfalls geht das so.

Kennst du die berühmte Aufnahme des ersten Klavierkonzertes von Brahms mit Glenn Gould und Leonard Bernstein? Zwischen den beiden gab es bei den Proben jede Menge Zoff wegen des Tempos des ersten Satzes, das Bernstein entsprechend den Vorgaben der Partitur wesentlich schneller haben wollte. Glenn Gould sperrte sich und setzte sich durch. Bernstein hielt vor der im Radio übertragenen Aufführung eine kurze Rede, die berühmt geworden ist ("The question is, who is the boss"). Er gehe mit Gould nicht einig, aber respektiere seine Interpretation. Diese Aufnahme gehört zu den besten, die es von diesem Klavierkonzert gibt.

Das Tempo eines Liedes ist immer vom Augenblick abhängig. Vom Tag, der Kirche, der Gemeinde.

Gefühl ist alles.

sofaklecks

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Juergen
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Re: Gesangstempo

Beitrag von Juergen »

Geschwindigkeit des Gesangs ist ein ganz schweres Thema.
Da macht ein Organist schneller was kaputt als er bis drei zählen kann.

Ich kenne das aus der Gemeinde, wo ich gebürtig von wech komme. Dort wurde immer ziemlich langsam gesungen, aber es wurde gesungen und zwar gut (und laut).
Eine ungesunde Kombination aus neuem Pfarrer und neuem Organisten führte nun dazu, daß kaum noch mitgesungen wird. Der Pfarrer hat den Spleen, daß Lieder zügig gesungen werden müssen und er singt laut ins Mikrophon und der Organist hat sich seinem Tempo angepasst. Im Ergebnis haben immer mehr Leute sich dazu entschlossen gar nicht mehr mitzusingen.


Dabei wurde in der Gemeinde früher noch viel langsamer gesungen -- aber es wurde eben mitgesungen -- wie eine Aufnahme von 1968 zeigt:
fontes-ecclesiae.de/forum/ggwld68.mp3 :pfeif:

(Bitte von Hand in die Browserzeile kopieren)
Gruß Jürgen

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cantus planus
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Re: Gesangstempo

Beitrag von cantus planus »

Orgel von hinten und gröhlender Pfarrer von vorne sorgt einen Gesang, den man nur mit Nahkampferfahrung übersteht. Viele Geistliche meinen es gut, aber es ist das Schlimmste, was man überhaupt machen kann. :roll:
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kastanie
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Re: Gesangstempo

Beitrag von kastanie »

Ja, sofaklecks. In puncto Vorspiel bin ich ganz deiner Meinung. Lieber klare Meldie- und Tempovorgabe und vor allem, nicht zu lang. Es geht immerhin um das Singen und nicht um künstlerische Ausuferung.

Insofern erfüllt dieses Beispiel hier nicht ganz mein Ideal (langes Vorspiel), aber genial finde ich es trotzdem:
http://www.youtube.com/watch?v=lRRa6V4YoA

Das Tempo des Vorspiels ist etwas schneller, aber das Gesangstempo finde ich sehr innig und nicht zu schleppend. Ist halt auch ein echter Meister. Aber zurück zu meinem laienhaften Organistenkönnen: Manche Gemeinden lassen sich trotz frischem Vorspiel und obligatem Spiel keinen Zentimeter im Tempo bewegen. Noch schwieriger finde ich, wenn man zu langsam spielt. Das merkt man eigentlich nicht, weil sich dann die Gemeinde merkwürdigerweise an das langsamere Tempo des Organisten hält.
Das Tempo eines Liedes ist immer vom Augenblick abhängig. Vom Tag, der Kirche, der Gemeinde.
Ist wahrscheinlich eine unschlagbar wahre Aussage, macht das Leben des Organisten aber nicht leichter (aber umso interessanter).

Juergen, vielen Dank für deinen Klangbeitrag. Mit dieser Kathedralenakustik (wo ist das?) und dieser breiten Harmonik finde ich das Tempo ganz reizvoll. In unserer Kirche und unserer Orgel finde ich das zu langsam.

kastanie
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Re: Gesangstempo

Beitrag von kastanie »

P.S.: Das Marienlied in der Abteikirche ist natürlich nicht unbedingt ein gutes Bespiel für einen gängigen "normalen" Gottesdienstgesang. Sorry...

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cantus planus
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Re: Gesangstempo

Beitrag von cantus planus »

Hier zwei Aufnahmen des gleichen Stückes, mehrere Jahrzehnte Abstand. In der ersten Aufnahme spielt der todkranke Virgil Fox unter sichtlichen Schmerzen das Lied, man achte auf das singende Konzertpublikum. Die Atmosphäre muss - nach Augenzeugenberichten - unglaublich gewesen sein. Es war Fox' letztes Konzert vor seinem Tod.

Man wird die Frage nach dem richtigen Singtempo ebensowenig abschließend klären können, wie die nach dem richtigen Fingersatz: man hat ein Gespür dafür, oder eben nicht. Die Erfahrung hilft sehr.

http://www.youtube.com/v/JSbNgX1_-SA&hl=de&fs=1
http://www.youtube.com/v/asrwlIxLeko&hl=de&fs=1
http://www.youtube.com/v/wo-byfEpXu8&hl=de&fs=1
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Juergen
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Re: Gesangstempo

Beitrag von Juergen »

kastanie hat geschrieben:Manche Gemeinden lassen sich trotz frischem Vorspiel und obligatem Spiel keinen Zentimeter im Tempo bewegen.
Warum sollten sie?

Weil ein Organist meint die "wahre Tempolehre" mit Löffeln gefressen zu haben.

Hallo!?!??!

Der Organist und die Orgel sind Diener in der Liturgie und nicht Lehrmeister. Wenn die Gemeinde für sich ein Tempo gefunden hat, das sie als "richtig" empfindet, ist es sicher nicht die Aufgabe des Organisten dies zu ändern uns seinen persönlichen Animositäten zu fröhnen!
Gruß Jürgen

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cantus planus
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Re: Gesangstempo

Beitrag von cantus planus »

Wenn die Gemeinde strophenweise langsamer wird, und das Lied total zersingt, schon.
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kastanie
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Re: Gesangstempo

Beitrag von kastanie »

Lieber Jürgen,
ich habe die wahre Tempolehre ganz bestimmt nicht mit Löffeln gefressen, sonst würde ich hier doch nicht nachfragen. Ich möchte meinen Dienst so gut wie möglich machen und möchte gerne zu diesem Thema weitere Ansichten hören. Wie gesagt bin ich selbst mal zu schnell und mal zu langsam. Als Springer habe ich natürlich besonders das Problem, dass ich nicht im Voraus weiß, wie in der jeweiligen Gemeinde das jeweilige Lied gesungen wird.
Aber auch die Gemeinde ist in der Regel nicht ein monolithischer Block, in dem alle gerne das gleiche Tempo singen würden.

Raimund J.
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Re: Gesangstempo

Beitrag von Raimund J. »

Wenn Du viel und oft in unterschiedlichen Gemeinden spielst, ist das sogar ein enormer Vorteil für Dich, so sammelst Du nämlich wertvolle Erfahrung! Man muss und wird mit der Zeit ein Gespür dafür entwickeln, wie die Gemeinden so drauf sind, dazu kommen dann noch die örtlichen (Instrument und Hall) Gegebenheiten die es zu berücksichtigen gilt. Manche Gemeinden sind auch froh, wenn nach jahrelangem Dahingeschleppe endlich mal jemand ein flotteres Tempo vorgibt, da bekommt man in der Regel schnell positive Rückmeldung von den Gemeindemitgliedern. Andererseits ist es auch wirklich nicht schön, wenn manche Organisten, weil sie meinen es "besser" zu wissen, die Gemeinde im Eiltempo durch die Lieder jagen wollen. Man muss ein Gespür entwickeln und dann kann man auch die Gemeinde nach und nach dahinbugsieren wie man es als Organist für gut empfindet. Aber das dauert. Auch unter den Gemeindemitgliedern gibt es natürlich immer welche die meinen oberlehrerhaft sich mit ihrem Gesang "nach den Noten im Gotteslob" richten zu müssen und den Organisten durch betont schnelleres oder langsameres singen zu belehren, die kann man allerdings getrost ignorieren.
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sofaklecks
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Brachiales Mittel

Beitrag von sofaklecks »

Es gibt natürlich ein brachiales Mittel:

Du spielst dein Tempo bei einem Loblied (etwa Glorialied) ohne Rücksicht durch, wobei du am Ende jeder Zeile aufhörst zu spielen und die Gemeinde sozusagen in's Leere singen lässt, bis du die neue Zeile wieder anfängst.

Das ist dann die ultimative Kriegserklärung.

Das hat aber mit OrganistenDIENST nicht mehr das Geringste zu tun, ist reines Machtspiel und nächstes Wochenende zu beichten.

Ich empfehle die Zunge auf dem zweiten Manual. Wenn du Alt- und Tenorstimme mit der linken Hand nicht schaffst, lass die Altstimme weg. Zusätzlich: Spiel im Pedal staccato. Das reicht dann aber.

Wie sagt der Weise Tschuang Tse (4. Jahrhundert v. Christus)? Das meiste Unglück auf dieser Welt kommt daher, dass einer des anderen ungebetener Lehrmeister sein will.

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Juergen
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Re: Gesangstempo

Beitrag von Juergen »

cantus planus hat geschrieben:Wenn die Gemeinde strophenweise langsamer wird, und das Lied total zersingt, schon.
Wenn die Gemeinde zu Beginn das Tempo gleichsam vorgibt, dann sollte der Organist auch versuchen, daß es beibehalten wird. Das ist aber etwas ganz anderes als wenn der Organist am Anfang ein Tempo vorgibt, das der Gemeinde nicht passt.
Raimund Josef H. hat geschrieben:Man muss ein Gespür entwickeln und dann kann man auch die Gemeinde nach und nach dahinbugsieren wie man es als Organist für gut empfindet.
Ein behutsames "Dahinbugsieren", das vielleicht sogar Jahre dauert, ist natürlich möglich.
Allerdings funktioniert sowas meist nur dann, wenn die Gemeinde einen (festangestellten) Organisten hat. Heute haben wir in den Gemeinden nicht selten mehrere - teils ehrenamtliche - Organisten und jeder spielt etwas anders. Da ist schon unter den Organisten keine klare Linie hineinzubekommen.


Zu dem schnell ins Mikro singenden Pfarrer gibt es übrigens noch eine kleine Anekdote/Geschichte: Eine kleine Filialpfarrei hat nur einen ehrenamtlichen Organisten. Dort versuchte der Pfarrer "gegen" Gemeinde und Orgel zu anzusingen. Nach der Messe ging der Organist zum Pfarrer und hat ihm gesagt, er könne sich einen anderen Organisten suchen, falls wenn er der Meinung sei, es müsse in anderem Tempo gesungen werden. -- Danach hat der Pfarrer nicht mehr versucht das Tempo vorzubrüllen...
Gruß Jürgen

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Agnosti
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Re: Gesangstempo

Beitrag von Agnosti »

kastanie hat geschrieben:Insofern erfüllt dieses Beispiel hier nicht ganz mein Ideal (langes Vorspiel), aber genial finde ich es trotzdem: http://www.youtube.com/watch?v=lRRa6V4YoA
Ja, Wahnsinn! Was der für Harmonien unter die zweite Strophe gesetzt hat...

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taddeo
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Re: Du führst

Beitrag von taddeo »

sofaklecks hat geschrieben:Ganz einfach,

du führst.

Und: Nimm Rücksicht. Führe, wenn die Gemeinde nicht folgt. Beispielsweise mit dem cantus auf separatem Manual mit einer Zunge.
Das ist ein beliebtes Mittel bei Organisten, das aber erstens ziemliche Übung voraussetzt (Trio-Spiel ist bekanntlich die hohe Schule der Orgelkunst), und andererseits auch nicht immer den gewünschten Effekt erzielt, weil sich die Gemeinde dann oft nicht sicher ist "spielt er noch vor oder begleitet er schon?".

Ich persönlich habe in 25 Jahren Organistentätigkeit die Erfahrung gemacht, daß es oft - sehr oft - an einer ungeschickten Registrierung und an mangelnder Phrasierung liegt, wenn die Leute das Tempo des Organisten nicht mitgehen wollen oder können.

Ich kenne viele Organisten, die begleiten grundsätzlich nur mit 8'- und 4'-Registern (jetzt mal von einer normalen Sonntagsmesse mit ca. 50 bis 100 Leuten ausgehend), oft mit mehreren Gedackt und Flöten oder Streichern als kombinierten Grundstimmen. Das führt aber allein klanglich nicht sauber. Wenn man aber stattdessen eine saubere Prinzipalkombination registriert (8'+4'+2') - sofern die von der Lautstärke her passen -, dann ergibt das einen viel klareren Klang, den die Leute besser mitvollziehen können. Wenn's leiser sein muß, nehme ich meistens nur 4' und 2' aus den Prinzipalen (evtl. aus dem Schwellwerk) und Gedackt und Rohrflöte 8' als Grundstimme. Auch das Pedal ist wichtig, denn es gibt meist den klaren Rhythmus vor, deshalb kopple ich gerne die Prinzipale 4' und 2' zu Subbaß und (leiserem) 8'.

Und fast noch wichtiger ist es, sauber zu phrasieren. Die Atemabschnitte der Melodie muß der Organist schon sauber voneinander absetzen, auch Pedal und Begleitstimmen sollten nicht in den nächsten Abschnitt hinüberschwimmen, sonst kennt sich keiner mehr aus. Orgelphrasierung ist ein heikles Thema, man muß ganz anders spielen als auf den Klavier. Aber es lohnt sich, hier sauberes Handwerk zu praktizieren.

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cantus planus
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Re: Gesangstempo

Beitrag von cantus planus »

Ich sage dazu nur eins: Gemeindebegleitung immer im schlichten, deutlich artikulierten Kantionalsatz mit klarer, aber tragender Registrierung. Alle anderen Sperenzien, mit Solostimmen und Rückpositiv und weiß der Geier was haben sich nach meiner Praxiserfahrung nicht bewährt.

Besondere Aufmerksamkeit muss man aufs Vorspiel legen: Tempo immer genau im Tempo des Chorals, klare Melodieangabe und auf dem richtigen Ton enden. Es ist unglaublich, was da teilweise gepfuscht und gezwirnt wird. Dabei ist ein sauberes Vorspiel bereits die halbe Miete.

Virtuosität oder Fingerübungen möge man im Vor- und Nachspiel zeigen, echte Kunstfertigkeit zur Kommunion. Getöse kann jeder auf der Orgel machen, an dieser Stelle zeigt sich die wahre Kunst. Die Liedbegleitung dient der Gemeinde, nicht dem Prestige des Organisten.

Der gute Musiker zeigt sich darin, zur richtigen Zeit die richtigen Mittel zu wählen.
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Juergen
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Re: Gesangstempo

Beitrag von Juergen »

Das Problem ist auf Mehrschichtig.

Früher hatten viele Gemeinden einen eigenen Organisten, der diese Arbeit oft jahrzehntelang verrichtete. Er kannte seinen Gemeinde und die Gemeinde kannte ihren Organisten und meist hatten sich beide aufeinander eingestellt. Im Ergebnis war meist der Gesang gut und das Orgelspiel passte dazu. Das mag nicht bedeuten, daß der Organist und die Gemeinde "richtig" sangen, was Tempo, Pausen etc. betraf und in der Nachbargemeinde wurde u.U. ganz anders gesungen.

Heute haben nur noch wenige Gemeinden einen fest angestellten Organisten (in Paderborn gibt's den erst ab 7000 Gemeindemitgliedern). So kommt mal der, mal der Organist zum spielen vorbei und jeder macht es irgendwie anders. Die Gemeinden müßten sich auf jeden Organisten neu einstellen und der Organist auf jede Gemeinde. In der Folge singen die Leute nicht mehr mit (was spielt der denn für einen Mist) und der Organist kann sich auf den Nicht-Gesang nur noch durch Irgendwie-Spielen einstellen. Die "Gesangskultur" der Gemeinde geht den Bach runter.

Und dann gibt es oft noch einige Gemeindemitglieder, die sich selbst als Starsänger sehen und lauthals gegen den Rest der Gemeinde und die Orgel singen. Die Leute, die in ihrer Nähe sind, hören - wenn sie nicht dagegen ansingen können/wollen - ganz auf zu singen.

Zudem wäre mal der Blick auf den Musikunterricht an Schulen zu richten. Wie groß war der Anteil am Singen-Lernen früher und heute?
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Raimund J.
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Re: Gesangstempo

Beitrag von Raimund J. »

Juergen hat geschrieben: Früher hatten viele Gemeinden einen eigenen Organisten, der diese Arbeit oft jahrzehntelang verrichtete.
[...]
Heute haben nur noch wenige Gemeinden einen fest angestellten Organisten
Früher waren diese Leute auch nicht fest angestellt, aber sie waren da.
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cantus planus
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Re: Gesangstempo

Beitrag von cantus planus »

Dieses Dilemma ist hausgemacht, systematisch herbeigeführt und beabsichtigt. Was die vergangenen Kulturrevolutionen stehengelassen haben, wird jetzt durch die "Pastoralen Räume" und "Neue Pfarreien" vernichtet.

Wenn ich die Bischöfe in Sachen Kirchenmusik lobhudeln höre, und diese sich dann auch noch auf die Konzilsdokumente berufen, könnte ich nur noch kotzen.
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Juergen
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Re: Gesangstempo

Beitrag von Juergen »

Raimund Josef H. hat geschrieben:
Juergen hat geschrieben: Früher hatten viele Gemeinden einen eigenen Organisten, der diese Arbeit oft jahrzehntelang verrichtete.
[...]
Heute haben nur noch wenige Gemeinden einen fest angestellten Organisten
Früher waren diese Leute auch nicht fest angestellt, aber sie waren da.
In der Gemeinde, aus der ich gebürtig komme, gab es einen fest angestellten Organisten. Der hatte aber keine Vollzeitstelle, sondern war auch Musiklehrer an der örtlichen Realschule.
Das gab aber zeitlich keine Probleme, da die Wertagsmesse so früh waren, daß er erst die Orgel spielen und danach zur Schule fahren konnte.
Vollzeitstellen gab es auch früher eher selten.
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cantus planus
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Re: Gesangstempo

Beitrag von cantus planus »

Der hauptamtliche Kirchenmusiker ist ja eine sehr neue Erfindung, die nach einer kurzen aber glanzvollen Blüte schon wieder verschwindet.
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Re: Gesangstempo

Beitrag von Juergen »

cantus planus hat geschrieben:Der hauptamtliche Kirchenmusiker ist ja eine sehr neue Erfindung, die nach einer kurzen aber glanzvollen Blüte schon wieder verschwindet.
War Bach nicht auch hauptamtlich.... :roll:
Gruß Jürgen

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Re: Gesangstempo

Beitrag von Raimund J. »

Im übrigen brauchen sich manche auch nicht über fehlende Organisten beschweren, wenn sich niemand mehr die "Mühe" macht zum Telefon zu greifen und abgeänderte Termin durchzugeben. :motz:

Heute hatte ich für 19.00 Uhr einen Termin zum Orgel spielen. Ich habe meine ganze Planung danach ausgerichtet, habe um 18.00 Uhr auf der Arbeit Feierabend gemacht und war fünfzehn Minuten vor 19.00 Uhr bei der betreffenden Kapelle. Vor der verschlossenen Kirchentür kam zufällig eine Frau mit Kinderwagen vorbei, die mir erzählte, dass der Gottesdienst bereits um 18.00 Uhr war. Der Geistliche hätte kurzfristig wegen anderer Termine gestern mit dem Mesner den Termin verschoben. Alle waren informiert, bis auf den Organisten.
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Re: Gesangstempo

Beitrag von cantus planus »

Juergen hat geschrieben:
cantus planus hat geschrieben:Der hauptamtliche Kirchenmusiker ist ja eine sehr neue Erfindung, die nach einer kurzen aber glanzvollen Blüte schon wieder verschwindet.
War Bach nicht auch hauptamtlich.... :roll:
Und der ungeliebte Schuldienst nebenher? Natürlich gab es gewisse Prestigestellen, die entwede von den Städten oder den Dom- oder Klosterkirchen, aber eine solche Flächenversorgung hatten wir nie. Vor allem nicht eine standardisierte Ausbildung.
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Re: Gesangstempo

Beitrag von kastanie »

Ich glaube nicht, dass Abwechslung dem Gemeindegesang schadet, sondern ihn im Gegenteil fördert. Bei uns hat jede Pfarrei i.d.R. 1-2 Stamm-Organisten, die natürlich genau wissen, wie es in ihrer Gemeinde läuft.
Durch die Seelsorgeeinheit findet jetzt doch ein stärkerer Austausch der Organisten statt, aber auch die Gottesdienstbesucher sind gemischter. Bei uns geht das eigentlich gut, denn man übernimmt von anderen ja eher das, was einem gut/besser gefällt.
Ich lerne für mein eigenes Orgelspiel viel dazu, wenn ich anderen Organisten zuhöre. Dabei werden einem viel klarer die eigenen Fehler bewusst und man bekommt neue Einfälle, wenn ein anderer mal was besonders gut macht.
Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass eine klare Registrierung (möglichst keine Koppeln) und eine klare Phrasierung (Noten vor dem Atemzeichen nicht bis zum bitteren Ende aushalten) für den Gemeindegesang gut sind.
Obligates Spiel würde ich aber nicht als Schnick-Schnack ablehnen.
Zum Thema Bach: Der musste ja einige Kritik für seine komplizierte Gemeindebegleitung einstecken. Wenn man sich seine Choralharmonisierungen anschaut, wäre das heute wohl nicht anders. Aber irgendwie musste sich der Mann ja bei mehrern Werktagsmessen bei Laune halten. Wer von uns wäre nicht gerne dabei gewesen?

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