Der Begriff Klerikalismus bezeichnet eine Ideologie, nach der ein einzelner Kultdiener mithin Kleriker einer Religionsgemeinschaft maximalen Einfluss in staatliche und/oder binnenstaatliche Systeme zu erlangen bestrebt ist.
Die Verwendung des Begriffs „Klerikalismus“ findet sich auch im Umfeld der Kirche, wobei einem Kleriker der Kirche die politische Betätigung bzw. Einflussnahme etwa durch politische Empfehlungen/Wahlagitation nicht erlaubt ist, denn Politik ist die Domäne des kirchlichen Laien, dem seinerseits die klerikale Betätigung nicht erlaubt ist.
Der Klerikalist unterscheidet demnach seinen besonderen Stand des Kultdieners im Klerikerstand nicht deutlich genug vom besonderen Stand des Nichtkultdieners im Laienstand, vielleicht weil er diesen als nicht qualifiziert, intelligent oder vernetzt genug wähnt und somit meint die Führung in der ihm nicht zustehenden Domäne des Nichtkultdieners innehaben zu müssen. Demgegenüber existiert auch das Problem von manchen Laien, welche ihrerseits in Bereichen des Klerikerstands wildern.
Die Ideologie des Klerikalismus beginnt für ihr Opfer eher unmerklich aus durchaus ehrbaren Gründen heraus, etwa mit dem hehren Ziel die Ungerechtigkeit/soziale Ungleichheit oder Irrtümer in der Welt zu beseitigen, jedoch bergen sich darin erhebliche Gefahren bis hin zum "Klerikalfaschismus".
Faschismus ist "Bündlertum allein um des Bündlertumes" willen ohne Berücksichtigung der ursprünglich kommunizierten Lehre. Daraus ergibt sich die faschistische Basisdoktrin der "unbedingten Machterhaltung - koste es, was es wolle, jedes Mittel sei erlaubt". Der Faschist entfernt sich also, um beim obigen Beispiel zu bleiben von seinem ursprünglichen Ziel die soziale Ungleichheit zu beseitigen und rückt den "Bund", also die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit gemeinsamen Zielen in den Fokus seines Denkens und Tuns so sehr, dass ihm jedes zunächst rechtmässige und schliesslich unrechtmässige Mittel recht ist um eben nur diesen "Bund" zu erhalten. Schliesslich wird das Gesetz gebrochen unter der Einrede, auf diese Weise dem Gesetz mehr Geltung zu verschaffen - in Wahrheit aber geht es um die Geltung des "Bundes". Faschismus muss erst eine kritische Grösse breiter medialer Verbreitung seiner Propaganda erreichen um systemkritisch zu werden, d.h.: ohne breiten Medienrückhalt ist Faschismus nicht überlebensfähig.
Der Übergang vom Klerikalismus zum Klerikalfaschismus ist fliessend und setzt eine Gruppe von ideologisch gleichgesinnten Kultdienern voraus. Der Klerikalfaschismus unterscheidet sich vom Klerikalismus dadurch, daß in der Wahl der Mittel zur Erlangung des maximalen Einflusses in staatliche und/oder binnenstaatliche Systeme keinerlei Rücksicht mehr auf die Grundlagen der ursprünglich vertretenen Lehre genommen wird - stattdessen wird auch hier das Gesetz bewusst gebrochen unter der Vorspiegelung, auf diese Weise dem Gesetz mehr Geltung zu verschaffen, kurz: Klerikalfaschismus ist die Ideologie zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung eines klerikalistischen Bündlertums allein um des klerikalistischen Bündlertumes willen - koste es, was es wolle, jedes Mittel sei erlaubt.
Ein Beispiel für Klerikalfaschismus liefert Kardinal Cauchon in seiner Eigenschaft als erfolgreicher Ankläger Jeanne d’Arcs. Hierzu stelle ich nachfolgend das Interview mit Régine Pernoud über Jeanne d'Arc (Johanna von Orléans) von Stefano M. Paci ein.
Dieses Interview wurde veröffentlicht im Jahr 1997 in der immer noch in Liquidation befindlichen Zeitschrift 30TAGE -
-. Ich poste dieses Interview in der Hoffnung, dass sich potentielle kath. Investoren, Journalisten, Redakteure und der Klerus über einen baldigen Neustart Gedanken machen mögen:
Jeanne d’Arc - Die Ewigkeit selbst liegt im Zeitlichen
"Es gibt keine Situation, nicht einmal die widersinnigste, in der die Gnade Christi nicht sichtbar werden könnte."
Copyright © 30TAGE, Ausgabe Nr. 6/7, Juni-Juli 1997
Es war einmal ein bedeutendes politisches Projekt, ausgeheckt von einer Gruppe Intellektueller, Universitätsprofessoren, Bischöfe und Mächtiger. Doch dann tauchte dieses blutjunge Mädchen auf und kam ihnen in die Quere, ja brachte den Plan fast zum Scheitern. Und behauptete auch noch, im Namen Gottes zu sprechen. Unglaublich! Sie, die Intellektuellen und Politiker, waren schließlich die Verteidiger der Kirche! Sie allein, Bischöfe und Kleriker, hatten das Recht, im Namen Gottes zu sprechen, das Volk zu begeistern!
Dieses Mädchen war ein Stein des Anstoßes, den es zu beseitigen galt. Gesagt, getan. Als Werkzeuge fungierten Männer der Kirche und ein von der Kirche geführter Prozeß. Johanna wurde von den Ihren betrogen. Im Namen der Kirche richtete man die hin, die Péguy als größte Märtyrerin und Heilige, als zweifach Heilige bezeichnete. Denn ihr Martyrium erlitt sie im Herzen der Christenheit.
Der Prozeß Johannas von Orléans ist ein Beispiel für Klerikalismus /1, der auch heute noch die Gemüter erhitzt.
Régine Pernoud, berühmte Historikerin und Expertin für Geschichte des Mittelalters, ist stolze 88 Jahre alt. Aber wenn sie von Johanna von Orléans spricht, leuchten ihre Augen noch genauso begeistert wie früher. Ihr hat sie mehr als fünfzehn Bücher gewidmet, und ihr zum Gedenken hat sie im Jahr 1973 das Johanna-von-Orléans-Zentrum gegründet.
Wir haben Madame Régine Pernoud in ihrem schönen Haus im zentralen Pariser Viertel Saint-Germaine-des-Prés besucht, um mit ihr über den Prozeß, die Hinrichtung und die spätere Rehabilitierung von Johanna von Orléans zu sprechen.
Das Zimmer, in dem sie uns empfängt, ist mit Gemälden und herrlichen gouaches von Henri Matisse geschmückt, lange Jahre ein enger Freund von Régine Pernoud. „Als er mir zum ersten Mal begegnet ist,“ erzählt sie, während sie mir die Werke des großen Malers zeigt, „sagte er: ‚Das Mittelalter ist das Licht, die Renaissance das Dunkel.‘ Wir haben uns sofort angefreundet. Und manchmal, wenn wir uns so unterhielten, schnitt er geistesabwesend aus bunten Blättern Figuren aus, die er achtlos zu Boden fallen ließ. Ich sagte dann immer zu ihm: ‚Henri, was machen Sie denn da? Wollen Sie sie nicht aufheben?‘ Ich fand sie wunderschön. Ich habe sie dann aufgesammelt und eingerahmt. Und jetzt sind sie hier. Henri hatte sehr viel Persönlichkeit und teilte meine Vorliebe für das Mittelalter und für Johanna von Orléans.“
- Beginn des Interviews -
30GIORNI: Madame Pernoud, was können Sie uns über jene Pläne der Professoren, Politiker und Kleriker erzählen, die Johanna durchkreuzte und sich somit ihren Haß zuzog?
RÉGINE PERNOUD: Dieser Plan war an der Universität von Paris ausgeheckt worden. Der Frieden von Troyes hatte dem Erben Heinrichs V. von Lancaster und Katharinas von Frankreich zwei Kronen zugestanden, nämlich die Frankreichs und die Englands. Im Klartext bedeutete dies, daß Frankreich eine Provinz Englands werden sollte. Man befand sich damals in einer allgemeinen Übergangsphase, die politische Lage war reichlich verworren, und so schien es, dieses Projekt würde auf keinen großen Widerstand mehr stoßen. Wer zur Verwirklichung beitrug, dem versprach England Geld, Privilegien und Pfründe.
Die Intellektuellen ließen sich nicht lange bitten, und schon bald standen die Universität von Paris wie auch viele Fürsten, z.B. die Herzöge von Burgund und der Normandie, aber auch viele Bischöfe vollkommen auf der Seite des englischen Königs. Als die Engländer im Oktober 1428 Orléans, eine Stadt im Herzen Frankreichs, belagerten, hatten alle begriffen, daß die Nation endgültig verloren war.
Doch dann ereignete sich etwas vollkommen Unvorhergesehenes. Im März 1429 trat ein Bauernmädchen vor den König und stellte sich ihm vor. Sie konnte weder schreiben noch lesen, behauptete aber, von Gott gesandt zu sein, um Frankreich zu befreien. Sie riet dem König, noch einmal in den Krieg zu ziehen, und zur Verwunderung aller schenkte er ihr Gehör. Ein paar Wochen später führte eben dieses Mädchen die Truppen an. In nur acht Tagen gelang es ihr, Orléans zu befreien. Nach dieser Heldentat konnte sie den König überreden, sich in Reims krönen zu lassen.
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welchen Haß die Engländer und jene Lobby von Professoren, Politikern und Klerikern auf Johanna hatten, die ihren mühsam ausgeklügelten Plan so vollkommen unerwartet scheitern zu lassen drohte. Als Johanna ihre Macht eingebüßt hatte, von einem feigen König im Stich gelassen und für zweitausend Dukaten verkauft worden war, beschloß diese Lobby, mit ihr abzurechnen und sie durch einen Prozeß zum Tode verurteilen zu lassen.
30GIORNI: Am meisten verblüfft dabei aber, daß es sich um einen Kirchenprozess handelte, der von einem Bischof geleitet wurde, und daß man ausgerechnet die tiefgläubige und der Kirche treuergebene Johanna wegen Häresie verurteilte.
RÉGINE PERNOUD: Ja, diejenigen, die über sie Gericht hielten, wußten genau, daß sie einen Kirchenprozess führten. Drahtzieher war kein Geringerer als der Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon, der das Projekt, von dem ich gesprochen habe, ins Leben gerufen und ausgearbeitet hatte.
1231 wurden die sogenannten Inquisitionsprozesse gegen den Manichäismus eingeleitet, eine Häresie, welche die wichtigsten Stellen der Kirche des Mittelalters infiziert hatte. Zu dieser Art von Prozessen gehörte auch der gegen Johanna von Orléans. Aber die Kirchengerichte kümmerten sich schon bald um mehr als rein kirchliche Belange. Philipp der Schöne benutzte sie zum Beispiel ungeniert für seine Zwecke, um mittels ihm blind ergebener Kleriker mit den Templern abzurechnen. Der Templerprozeß ist nicht weniger abscheulich als der gegen Johanna von Orléans. In beiden Fällen hat sich die Kirche zur politischen Macht aufgeschwungen. Sie hat sich dazu hergegeben, für politische Machthaber Willkürprozesse zu führen. Einen solchen Klerikalismus findet man aber nicht nur im 14. Jahrhundert. Auch heute gibt es diese Tendenz: sie ist Teil des kirchlichen Lebens. Der Unterschied ist nur, daß sie heute andere Formen angenommen hat. Ich glaube, Italien und Deutschland sind davon mehr betroffen als Frankreich.
30GIORNI: Könnte man sagen, daß Johanna erst innerhalb der Kirche auf ihren wahren Feind stieß?
RÉGINE PERNOUD: Ja. Ihre größte Schlacht war die Auseinandersetzung mit ihren eigenen christlichen Glaubensbrüdern. Kann man sich etwas Ungeheuerlicheres vorstellen? Aber obwohl sie sich bewußt war, vor einem Kirchengericht zu stehen, rief sie aus: „Ihr seid nicht die Kirche!“ Niemand war jemals zuvor der Kirche so bedingungslos treu gewesen wie sie, aber dennoch unterschied sie in dieser heiklen Situation sehr wohl zwischen der wahren Kirche und jenen Pariser Professoren, die nur politische Ziele verfolgten.
Ihre Unbeirrtheit ist umso bewundernswerter, wenn man bedenkt, mit welch heimtückischen Mitteln man versuchte, sie zu überlisten, um sie wegen Häresie verurteilen zu können. So fragte man sie beispielsweise nach dem Unterschied zwischen der streitenden Kirche und der triumphierenden Kirche. Das einfache Mädchen kannte diese Begriffe nicht, und so antwortete es gleichgültig: „Da die ganze Kirche die Kirche Gottes ist, kann der Unterschied nicht so wichtig sein.“ Und damit hat sie recht: Christus und seine Kirche sind eine Einheit. Hier genau zu definieren, worin der Unterschied liegt, mag für Theologen von Interesse sein, im Evangelium steht aber nichts davon.
30GIORNI: Wie hat sich König Karl in dieser Angelegenheit verhalten?
RÉGINE PERNOUD: Obwohl er alles ihr verdankte, hat sich der König während ihrer langen Haft und während des Prozesses nie um sie gekümmert. Johanna mußte sich auch von ihm, dem christlichen König, verraten fühlen. Denn Karl VII. verstand sich als ein König, der sich in die Belange der Kirche einmischen und Urteile fällen durfte. Wer in der Neuzeit die Trennung von Staat und Kirche angestrebt hat, dem müßte man ein Denkmal setzen. Die Folgen dieser Trennung waren überaus positiv, auch wenn das vielleicht nicht sofort zu erkennen war. Im Nachhinein sieht man es aber deutlich. Auch heute noch sind die Folgen verheerend, wenn es manchmal zu Überschneidungen von politischer und kirchlicher Macht kommt.
30GIORNI: Warum hat man gegen Johanna einen Kirchenprozess angestrengt?
RÉGINE PERNOUD: Aus politischen Gründen. Wenn man beweisen konnte, daß Johanna eine Hexe oder Gotteslästerin war, stellte die Weihe König Karls VII. in der Kathedrale von Reims keinen heiligen Akt mehr dar. Die Franzosen hätten die Achtung vor ihrem neuen König verloren. Aber in Wahrheit erreichte dieser von sechs überaus eifrigen Pariser Universitätsprofessoren, Bischöfen aus der Normandie und England, Kanonikern aus Rouen sowie Anwälten des Kirchengerichts geführte Prozess das genaue Gegenteil.
30GIORNI: Inwiefern?
RÉGINE PERNOUD: Auf diese Weise wurden uns die Akten einer Art „Heiligsprechungsprozess“ überliefert. Bischof Cauchon hatte sicherlich gedacht, daß es für ein aus illustren Universitätsprofessoren, Theologen sowie Fachleuten für Bürgerrecht und Kirchenrecht zusammengesetztes Gericht ein Leichtes wäre, das einfache Bauernmädchen durcheinander zu bringen. Man hoffte, sie würde häretische Aussagen machen oder sich in Widersprüchen verfangen. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Daher sind die Prozeßakten äußerst wertvoll geworden.
Von Johanna sind uns weder ein Bildnis noch ein Grab geblieben. Um einer möglichen Verehrung nach ihrem Tod vorzubeugen, wurde sogar ihre Asche in die Seine gestreut und somit für immer beseitigt. Was uns geblieben ist, sind nur ihre Worte und die vor Gericht gemachten Zeugenaussagen. Es erscheint paradox, aber in Wahrheit wurde ihr durch ihren Prozeß ein Denkmal gesetzt - auch wenn man sie wegen Häresie zum Scheiterhaufen verurteilt hatte.
Die verschlagenen kirchlichen Würdenträger konnten ihrer Heiligkeit und unbeirrbaren Treue zu Gott nichts anhaben. Trotz aller List gelang es ihnen nicht, sie zu einer Falschaussage zu verleiten. Johannas Antworten, die Guillaume Manchon Tag für Tag aufzeichnete, zeigen deutlich, daß ihr Leben nur einen einzigen Sinn hatte: dem Ruf Gottes zu folgen.
Es ist verblüffend, wie unmißverständlich dieser Ruf erging: durch Stimmen, die sie ganz deutlich vernehmen konnte. Und als Johanna verstanden hatte, daß diese geheimnisvollen Stimmen eine Botschaft Gottes waren, hat sie keinen Moment gezögert. Ihr Leben hatte nur noch einen Sinn: das zu tun, was Er von ihr verlangte. Selbst als die gelehrten Universitätsprofessoren sie die absurdesten Dinge fragten, wissen wollten, wo sie denn ihre „Alraune“ versteckt hätte (ein Kraut, das angeblich dämonische Kräfte verleiht), antwortete sie mit verblüffender Sachlichkeit.
Auf ihre geheimnisvollen Stimmen angesprochen, meinte sie: „Das erste Mal hatte ich große Angst. Es war um die Mittagszeit, im Sommer, und ich befand mich im Garten meines Vaters. Am Vortag hatte ich nicht gefastet.“ Nach dem Schicksal ihrer „Truppe“ befragt meinte sie: „Noch vor Ablauf von sieben Jahren werden die Engländer ganz Frankreich verloren haben. Gott wird den Franzosen einen großen Sieg bescheren.“ Sechseinhalb Jahre später zog Karl VII. siegreich in Paris ein.
Wenn man die Prozeßakten durchliest, erkennt man, daß Johanna diesen selbstherrlichen Intellektuellen gegenüber den Glauben verkörpert. Diesen von politischen Machthabern unterstützten Männern, die meinen, der Geschichte gerecht zu werden. Einen einfachen und doch starken Glauben. Nicht ohne Grund bezeichnete sie Kardinal Jéan Danielou als „die Heilige des Zeitlichen“.
30GIORNI: Achtzehn Jahre nach der Verurteilung wegen Häresie wurde ein neuer Prozeß eingeleitet. Warum?
RÉGINE PERNOUD: König Karl VII. eroberte damals die Normandie und zog in Rouen ein, wo man Johanna verbrannt hatte. Er ordnete eine inoffizielle Untersuchung an, um „die Wahrheit über diesen Prozeß und die Art, wie er geführt wurde“ ans Licht zu bringen. Die Zeugen, darunter auch der Notar, der die Prozeßakten abgefaßt hatte, waren noch am Leben. In den darauffolgenden Jahren wurden zwei weitere Untersuchungen durchgeführt. Dieses Mal offizieller Natur. Das Ergebnis war ein erneuter Inquisitionsprozeß 1456 in Notre-Dame de Paris. Bei der ersten Verhandlung verhörten die Untersuchungsrichter des Königs Johannas Mutter, Isabelle Romée. Danach wurden Zeugen aus ihrer Kindheit und Mädchenzeit vernommen. Der Rehabilitierungsprozeß erklärte den ersten Prozeß für nichtig und zeigte dessen Unrechtmäßigkeiten auf. Johanna wurde von jedem Verdacht der Häresie freigesprochen.
Liest man die Akten dieses Rehabilitierungsprozesses und die Aussagen derer, die sie gekannt hatten, so kommt einem unweigerlich der Gedanke - ohne hier übertreiben zu wollen -, daß Johanna genauso heilig gewesen wäre, wenn Gott ihr nicht eine so außergewöhnliche Sendung zugedacht hätte, wenn sie nicht zuvor davon informiert worden und wenn nicht „aus dem rechten Winkel des Gartens ihres Vaters“ der Ruf an sie ergangen wäre. Denn im Glauben haben auch die einfachsten und alltäglichsten Dinge ihren Wert. So erinnerten sich ihre alten Freunde aus Domremy: „Sie war wie alle anderen auch und tat das, was alle taten: sie hielt das Haus in Ordnung, spann, weidete das Vieh.“
Was aber wirklich beim Lesen dieser Zeugenaussagen verblüfft ist, daß man bei den Mitbürgern Johannas denselben aufrichtigen Blick und dieselbe realitätsnahe Frömmigkeit wie bei ihr findet. Auch sie sind erfüllt von der christlichen Botschaft, vom Evangelium, das ihnen der Pfarrer verkündigt. Es sind aufrichtige Menschen. Sie haben die Schrecken des Krieges erlebt, der Belagerung - aber ihr Glaube ist nicht ins Wanken geraten.
Wie der Prozeß Johannas ganz deutlich zeigt, war das Christus-Ereignis im Volk immer noch konkret verwurzelt, während die sogenannte Elite der Intellektuellen und Geistlichen es zu einer Sache des Intellekts gemacht und sich somit bereits davon entfernt hatten. Auch aus diesem Grund kann man Johanna wirklich als Heilige unserer Zeit bezeichnen.
30GIORNI: In seinem Mystère de la charité de Jeanne d’Arc scheint Charles Péguy Johanna Madame Gervaise gegenüberzustellen. Während letztere jedoch die traditionelle Lehre der Kirche repräsentiert, wonach der Glaube eine selbstverständliche Pflicht ist, verkörpert Johanna den Menschen der Neuzeit, der erst an erwiesene Gnaden glaubt, wenn er dieses Wunder mit eigenen Augen sieht und anfassen kann. „Denn,“ so schreibt Péguy, „die Ewigkeit selbst liegt im Zeitlichen.“ Ist Péguys Johanna von Orléans nur eine literarische Figur, oder ist sie dieselbe, die uns in den historischen Dokumenten begegnet?
RÉGINE PERNOUD: Péguy hat ein umfassendes Wissen über Johanna von Orléans. Und er hat die Gabe, die geschichtlichen Zusammenhänge richtig zu deuten. Über die Entchristlichung der Neuzeit, deren letzte Konsequenzen wir heute erleben, schreibt er: „Alles ist a-christlich, vollkommen entchristlicht. Das ist es, was man erkennen muß und was die Kleriker nicht erkennen wollen.“
30GIORNI: Hans Urs von Balthasar schrieb über Péguy: „Nie zuvor hat jemand so christlich gesprochen.“ Und dennoch hat Jacques Maritain das Mystère de la charité de Jeanne d’Arc heftig kritisiert. Wer hatte recht?
RÉGINE PERNOUD: Das ist mir neu, daß Maritain Péguy angegriffen haben soll! Sind Sie sich da sicher?
30GIORNI: Ich habe den Brief von Maritain im Charles-Péguy-Archiv von Orléans gefunden. Der Brief trägt das Datum des 2. Februar 1910. Maritain schreibt an Péguy: „Nachdem ich Ihr Werk gelesen habe, bin ich zutiefst betrübt. Ich erkenne darin, daß Sie vom Christentum noch weit entfernt sind, obwohl Sie selbst vom Gegenteil überzeugt sind. […] Die Berufung der heiligen Johanna ist vollkommen verzerrt dargestellt. […] Die Betrachtung des Leidens des Herrn ist oberflächlich und voller Unehrerfürchtigkeiten. […] Sie haben gewagt, von der Heiligen Jungfrau respektlos zu sprechen! Wie soll man das hinnehmen? Dieses Werk, dem Sie sich mit Ihrem ganzen Eifer gewidmet haben, ist Ihnen bedauerlicherweise vollkommen mißlungen […], und das betrübt mich sehr.“
RÉGINE PERNOUD: Das ist unglaublich. Ich wußte nichts von diesem Brief, ich kann es kaum glauben. Was Maritain da schreibt, ist Unsinn. Aber er war eben ein Intellektueller, und Péguy hatte die intellektuellen Kreise ins Visier genommen. Vielleicht hat ihn das verärgert.
30GIORNI: Vielleicht. In der Tat gibt es in den Archiven einen Brief vom 1. April 1910, worin Péguy einem Abonnenten seiner Zeitschrift erklärt, Maritain sei darüber erschüttert, daß Johanna von Orléans mehr sei als eines dieser „Heiligenbildchen, die die Katholiken gewöhnlich in den bürgerlichen Pfarreien vorfinden.“
RÉGINE PERNOUD: Ich habe verschiedene Personen kennengelernt, die zu dem katholischen Kreis gehörten, der im Hause von Jacques und Raïssa Maritain über das Christentum diskutierte. Zum Beispiel Stanislav Fumet, ein enger Freund der beiden. Ich selbst war nie dort, ich habe mich nie von diesen Kreisen angezogen gefühlt, vielleicht, weil sie nach intellektuellem Katholizismus rochen. Und ich halte mich nicht für eine Intellektuelle.
Péguys Johanna von Orléans ist ähnlich: Sie lehnt sich gegen die Intellektuellen auf, die den einfachen Leuten den katholischen Glauben beibringen wollen und sich der Illusion hingeben, ihn so zur Kultur zu machen. Als ob der Glaube der einfachen Gläubigen wie Johanna von Orléans nicht vollkommen der Vernunft entspräche, als ob das wirkliche alltägliche Leben der Menschen nicht intelligenter wäre als die hochtrabenden Reden der Intellektuellen.
30GIORNI: Madame Pernoud, eine letzte Frage: Wann haben Sie begonnen, sich für Johanna von Orléans zu interessieren?
RÉGINE PERNOUD: Es war reiner Zufall. Begonnen hat alles im Jahr 1952 in der Adventszeit. Man hatte mich gebeten, einen Artikel über Johannas Rehabilitierungsprozeß zu schreiben. Wie viele andere war auch ich damals der Meinung, Johanna von Orléans wäre nur etwas für offizielle Abhandlungen. Ich lehnte also zunächst einmal ab. Das wollte man aber nicht akzeptieren und so erklärte ich mich doch noch bereit, mir die vorhandenen Dokumente anzusehen. Ich ging in die Bibliothek und stieg auf eine Leiter, um Jules Quicherats Bücher mit den Prozessakten durchzublättern. Ich fand eines, begann darin zu lesen, und kurze Zeit später, so jedenfalls kam es mir vor, hörte ich, wie der Bibliothekar zu mir hinauf rief: „Fräulein Pernoud, wenn Sie nicht wollen, daß wir Sie einsperren, müssen Sie von der Leiter herunterkommen!“ Es waren mehr als zwei Stunden vergangen, und ich stand noch immer dort oben auf der Leiter und las die Dokumente über den Prozess. Ich war hellauf begeistert.
Von da an habe ich nie aufgehört, mich mit Johanna von Orléans zu befassen. Ja, eigentlich glaube ich, daß ich in all diesen Jahren auf jener Treppe stehengeblieben bin. Um mich noch intensiver mit dieser überraschenden Geschichte von einem Gott zu beschäftigen, der so eng mit der Geschichte des Menschen verwurzelt ist, daß er sich nicht scheut, sich in Kriege, Schlachten und Prozesse zu stürzen.
Johanna stellt einen Widerspruch dar, denn sie zeigt, daß man Christus auch nachfolgen kann, wenn man Krieg führt, was wohl die schlimmste aller menschlichen Aktivitäten ist. Gerade hierin zeigt sich ihre Heiligkeit. Indem sie deutlich macht, daß es keine Situation gibt, nicht einmal die widersinnigste, in der die Gnade Christi nicht sichtbar werden könnte.
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Copyright © 30TAGE, Ausgabe Nr. 6/7, Juni-Juli 1997