2. Gottes ewige Vorherbestimmung zum Heil
Die erste und für alles Weitere grundlegende Aussage über die Begnadung des Menschen lautet: Gott hat uns von aller Ewigkeit her erwählt, berufen und angenommen. Gott ist dem Menschen mit seiner helfenden Gnade je schon zuvorgekommen. Bevor wir nach Gott und seiner Gnade fragten, bevor wir uns auf den Weg zu ihm machten und uns durch ein gutes Leben seiner würdig zu erweisen suchten, ja, noch bevor wir überhaupt waren, hat Gott uns schon aus reiner Liebe auserwählt und für seine Gemeinschaft vorherbestimmt. Er hat uns, wie der Anfang des Epheserbriefes sagt, von aller Ewigkeit her "mit allem Segen seines Geistes gesegnet".
"Denn in ihm - Jesus Christus - hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott; er hat uns aus Liebe im voraus dazu bestimmt, seine Söhne zu werden durch Jesus Christus und nach seinem gnädigen Willen zu ihm zu gelangen, zum Lob seiner herrlichen Gnade." (Eph 1,4-6)
Diese Lehre von der Vorherbestimmung (Prädestination) scheint jedoch vielen ein besonders dunkles Kapitel zu sein. Sie sehen darin einen verwegenen Versuch, in das verborgene Geheimnis des Willens Gottes einzudringen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine wesentliche Ausdrucksgestalt des Evangeliums, also um eine aufrichtende, tröstende, helfende, frohe Botschaft. Denn das Ziel dieser Lehre ist nicht ein vorwitziges Eindringen in das Geheimnis des Willens Gottes, sondern die Gewißheit, "daß Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt, bei denen, die nach seinem ewigen Plan berufen sind" (Röm 8,28), so daß nichts in dieser Welt uns trennen kann von der Liebe Gottes, die ist in Jesus Christus, unserem Herrn (vgl. Röm 8,39). Diese Botschaft kann ein letzter Halt sein in den Widerwärtigkeiten der Welt. Sie sagt, daß Gott in Jesus Christus von Ewigkeit her der Immanuel, der Gott mit uns und für uns ist.
Diese frohe Botschaft gilt grundsätzlich von allen Menschen. Gottes Heilswille ist universal. Gott "will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2,4). Er will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er umkehrt und am Leben bleibt (vgl. Ez 33,11; 2 Petr 3,9). Diese Universalität des göttlichen Heilswillens ist vom II. Vatikanischen Konzil nochmals mit Nachdruck zur Geltung gebracht worden
"Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche^ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen. Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe." (LG 16)
Die Erwählung und Berufung des Menschen, jedes Menschen, besagt freilich auch, daß Gott den Menschen als Menschen annimmt und ernst nimmt. Deshalb will er die freie Antwort und Zustimmung des Menschen. Ja, Gott macht in seiner Liebe die Verwirklichung seines Heilswillens von unserer Freiheit abhängig. Das bedeutet, daß wir durch unsere Schuld das Heil auch verfehlen können. Die Vorherbestimmung im engeren Sinn gilt darum nur denen, die mit Gottes Gnade das ewige Heil auch erlangen.
Leider hat sich diese frohe Botschaft in der Vergangenheit oft vermischt mit einer Angst erzeugenden Schreckensbotschaft. Im Anschluß an den hl. Augustinus, den großen Lehrer der Gnade, hat man aus einzelnen Aussagen der Heiligen Schrift über die Verstockung einzelner (vgl. Ex 7,3; 9,12; Jes 6,10; Mk 4,12; Röm 9,18), vor allem aus Aussagen des Apostels Paulus in Röm 9-11 oft die Lehre von der doppelten Vorherbestimmung abgeleitet: Die einen sind von Ewigkeit her zum Heil erwählt, die anderen sind nicht erwählt. Manchmal wollte man sogar wissen, daß nur die kleinere Zahl der Menschen zum Heil vorherbestimmt ist, während die Mehrzahl zur Masse der Verdammten gehört. Die Kirche hat jedoch diese extremen Vorherbestimmungslehren (etwa bei dem Mönch Gottschalk im 9. Jahrhundert oder bei Calvin im 16. Jahrhundert), wonach Gott bestimmte Menschen durch einen Willensakt zur Verdammung vorherbestimmt hat, abgelehnt. Die Kirche hat daran festgehalten: "Der allmächtige Gott will, daß alle Menschen ohne Ausnahme zum Heil kommen, auch wenn tatsächlich nicht alle gerettet werden. Daß die einen gerettet werden, ist Geschenk des Retters; daß andere verlorengehen, ist die Schuld derer, die verlorengehen" (DS 623; vgl. 1567; NR 835). Jesus Christus ist nicht nur für die Erwählten, auch nicht nur für die Gläubigen, sondern für alle Menschen gestorben (vgl. DS 2005; 2304; NR 875). Deshalb sagte man: Alle besitzen hinreichende Gnade, aber nicht bei allen wird die Gnade zur wirksamen Gnade.
Doch mit diesen an sich richtigen Abgrenzungen ist das Problem keineswegs gelöst. Die Frage ist ja: Wie ist der absolute Primat Gottes noch gewahrt, wenn das Wirksamwerden des Heilswirkens Gottes von der Zustimmung des Menschen abhängt? Umgekehrt: Muß das Nichterreichen des Heils letztlich nicht doch auf Gott zurückfallen, der allen Menschen zwar hinreichende Gnade, aber nicht allen Menschen wirksame Gnade schenkt? Wie soll man also die beiden Aussagen zusammenbringen, daß Gott einerseits das Heil aller Menschen will und es andererseits Menschen gibt, die aus eigener Schuld das Heil nicht erreichen? Wie verhalten sich Gottes Vorherbestimmung und menschliche Freiheit?
Um dieses schwierige Problem drehte sich der sogenannte Gnadenstreit im 16./17. Jahrhundert zwischen den Theologen aus dem Dominikanerorden und den Theologen aus dem Jesuitenorden. Der Papst ließ die Frage schließlich offen und verbot nur die gegenseitige Verketzerung. Das war eine weise Entscheidung. Denn so, wie die Frage damals gestellt wurde, war sie gar nicht zu lösen. Das Verhältnis von Gottes Freiheit und der Freiheit des Menschen ist für uns letztlich ein unauflösliches Geheimnis. Man kann das Verhältnis von Gottes und des Menschen Freiheit nicht in der Weise bestimmen, daß man Gott das abzieht, was man dem Menschen gibt, oder umgekehrt. Gott ist in der Freiheit seiner Liebe so unendlich groß, daß er die endliche menschliche Freiheit nicht nur zuläßt, sondern sie ermöglicht, trägt, ermutigt, befreit und erfüllt. Dieses Verhältnis von Gott und Mensch ist uns in Jesus Christus ein für allemal erschlossen. Deshalb läßt sich auch das Problem der Vorherbestimmung nur von Jesus Christus her erhellen. Dieser Ausgangspunkt kam in der traditionellen Vorherbestimmungsdiskussion zu kurz, weshalb sie sich in viele nutzlose Fragestellungen verrannte.
Ihrem ursprünglichen Sinn nach will die Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung ein Dreifaches sagen:
1. Der Ausgangspunkt der Lehre von Gottes Vorherbestimmung ist kein abstraktes Willensdekret Gottes, kein allgemeines Prinzip, sondern die konkrete Erwählung in Jesus Christus (vgl. Eph 1,4-6.11-12; 3,2-13). In Jesus Christus ist Gott reines Ja und nicht Ja und Nein zugleich. Deshalb stehen Erwählung und Verwerfung nicht parallel nebeneinander, es geht vielmehr allein um die Erwählung zum Heil. Das ist der Grund, weshalb wir nicht abstrakt und unbestimmt von Vorherbestimmung, sondern konkret und bestimmt von der Vorherbestimmung zum Heil sprechen. Sie geschieht in Jesus Christus. Denn Gottes Erwählung bestimmt uns, "an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben" (Röm 8,29). Gott hat ihn für uns zur Sünde gemacht (vgl. 2 Kor 5,21); so sind alle, auch die Sünder, in Christus zum Heil berufen.
2. Gottes Heilswille in Jesus Christus richtet sich nicht auf den isolierten einzelnen, sondern auf das Volk Gottes im ganzen, auf den einzelnen, insofern er eingebettet ist in die große Gemeinschaft des Gottesvolkes, als dessen Glied er das Heil erlangt (vgl. Dtn 7,7-8; 14,2 u. a.). Deshalb ist von Erwählung nicht im Singular, sondern im Plural die Rede (vgl. Eph 1,4-6; 1 Petr 1,1-2, 2,5-10). Die Erwählung des einen ist am Ende auch das Heil des andern (vgl. bes. Röm 11,31-32). Die Erwählung des einzelnen ist also immer auch Erwählung zum stellvertretenden Dienst für die andern. Darum ist die Erwählung kein Privileg derer, die das Heil "gepachtet" haben, sondern Aussonderung zum Dienst am Heil aller. Auf die Frage, ob es nur wenige sind, die gerettet werden, antwortet Jesus mit einem Appell: "Bemüht euch mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen" (Lk 13,24). Dieser Appell wird im Missionsauftrag des Auferstandenen zu einem Anruf, allen Geschöpfen das Evangelium zu verkünden (vgl. Mk 16,15). Deshalb darf es keine prädestinierten und privilegierten Familien, Völker oder Rassen, keine Herrenmenschen neben Menschen zweiten Ranges geben. Gegen eine solch falsch interpretierte Erwählungslehre weist uns die Heilige Schrift darauf hin, daß Gott gerade das Schwache erwählt, um das Starke zu beschämen (vgl. 1 Kor 1,26-28).
3. Für den einzelnen ist Gottes Vorherbestimmung der Inbegriff des Evangeliums. Denn sie besagt, daß es letztlich nicht auf das Wollen und Streben des Menschen, sondern allein auf das Erbarmen Gottes ankommt (vgl. Röm 9,16; Eph 2,8). So ist die Erwählungsgewißheit der größte Halt und der stärkste Trost. Aber sie durchkreuzt zugleich alle natürlichen Absicherungen und verweist uns ganz und gar auf Gottes Gnade. Gerade weil Gott auch das Wollen und Vollbringen wirkt, gilt es, das Heil in Furcht und Zittern zu wirken (vgl. Phil 2,12-13). Wo der Mensch dagegen der Gnade nicht entspricht, da wird sie ihm zum Gericht. Das Wort "viele sind gerufen, aber nur wenige auserwählt" (Mt 22,14) zeigt, daß Erwählung kein sicherer Besitz, sondern als Gabe zugleich Aufgabe ist. Sie schließt die Verantwortung des Menschen nicht aus, sondern setzt sie ganz im Gegenteil frei und beansprucht sie aufs äußerste. Sie konfrontiert den Menschen mit der Möglichkeit, durch eigene Schuld sein Leben zu verfehlen und dem ewigen Verderben zu verfallen. Die Erwählungsgewißheit gibt darum keine Sicherheit, sondern ist letztlich eine Hoffnungsgewißheit. Sie stützt sich allein auf die Treue Gottes und hofft, daß er der das gute Werk begonnen hat, es auch vollenden wird (vgl.Phil 1,6). So wie die Erwählung von Gott ausgeht, mündet sie darum am Ende wieder in den Lobpreis Gottes ein:
"O Tiefe des Reichtums,
der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Wie unergründlich sind seine Entscheidungen,
wie unerforschlich seine Wege!
Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt?
Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?
Wer hat ihm etwas gegeben,
so daß Gott ihm etwas zurückgeben müßte?
Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin
ist die ganze Schöpfung.
Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen." (Röm 11,33-36)