Die Althistorikerin PD Dr.[url=http://wwwuser.gwdg.de/~althist/Topic_Lehrende/Publikationen/Botermann.html]Helga Botermann (Uni Göttingen)[/url] hat geschrieben: Seit Jahren bin ich schockiert über die Art, wie die Neutestamentler mit ihren Quellen umgehen. Sie haben es geschafft, alles so in Frage zu stellen, daß sowohl der historische Jesus wie der historische Paulus kaum noch faßbar sind. Wenn die Althistoriker diese Maßstäbe übernähmen, könnten sie sich gleich verabschieden. Es gäbe nicht mehr viel zu bearbeiten. Es sei deshalb nicht als Zeichen von Arroganz gewertet, wenn hier zunächst auf althistorisches Grundlagenwissen rekurriert wird.
a) Die Quellen: Überreste und Tradition
Die Quellen nach Gattungen zu klassifizieren, bildet eine der methodischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft. In ungefährer Anlehnung an Droysen spricht man von "Überresten oder Monumentalquellen" und "Tradition oder Geschichtsschreibung". Das Unterscheidungskriterium ist Ursache ihres Entstehens. Während die Geschichtsschreibung historisches Wissen an Zeitgenossen oder Nachgeborene überliefern will, erfüllen die Überreste in ihrer Zeit einen bestimmten Zweck: eine Vase, ein Haus, ein privater oder öffentlicher Vertrag, ein Volksversammlungsbeschluß, eine Münze, ein Brief, ein Film - oder was dergleichen mehr ist. Diese Überreste haben den Vorzug, daß sie einen bestimmten Vorgang oder ein bestimmtes Ereignis wie ein Scheinwerfer beleuchten. Sie bieten aber die Schwierigkeit, daß sie in der Regel nur als Quelle zu benutzen sind, wenn zusätzliche Informationen hinzutreten. Unbeschadet dieser Regel, kann der Aussagewert eines Überrestes im jeweiligen Einzelfall unterschiedlich sein. Das Spektrum reicht vom Loch, das ein Schanzpfahl hinterlassen hat, bis zum Tatenbericht des Augustus. Im Gegensatz jedoch zur naiven Anschauung des Laien, Urkunden und dergl. seien wertvoller, weil "objektiver", da nicht überarbeitet, wird der Althistoriker, wenn er sich einer Periode zuwendet, immer zuerst zu den erzählenden Quellen greifen. Die haben den Anspruch, dem Leser einen aus sich heraus verständlichen Text zu unterbreiten. Von dem Problem, daß nicht wir, sondern eine zeitgenössische Leserschaft der Adressat des antiken Autors war, sehe ich hier ab. Wenn die Geschichtsschreibung für eine kürzere oder längere Zeitspanne ganz oder großenteils wegfällt und nur - in der Regel spärliche - Überreste erhalten sind, ist es praktisch unmöglich, einen Ereigniszusammenhang zu rekonstruieren. Schon an den bloßen Tatsachen und an der Chronologie gebricht es. Aus der mykenischen Zeit kennen wir nicht eine Persönlichkeit, nicht ein historisches Ereignis. Für die römische Geschichte läßt sich für die Zeit zwischen 167 v. Chr. (ab da ist Livius nicht mehr erhalten) und 133, also die Vorgeschichte des Tiberius Gracchus, kaum eine historische Darstellung verfassen. Die Epoche der Alten Geschichte hingegen, die zweifellos durch Überreste am besten beleuchtet ist, ist die späte Republik. Aber es würde trotzdem niemand darauf verfallen, die Jahre von 60 bis 43 v. Chr. allein mit 7 oder auch 70 Cicerobriefen bestreiten zu wollen und die kaiserzeitliche Geschichtsschreibung zu ignorieren. Welche Kautelen gelten für ihre Benutzung?
b) Der erste Grundsatz der Quellenkritik
In meinem ersten Proseminar im Sommersemester 1958 - und dies wiederholt sich in jedem Semester in den von mir geleiteten Seminaren - wurde von Hermann Heimpel die Frage aufgeworfen, wie der Historiker mit seinen Quellen umzugehen habe. Natürlich sagten alle: kritisch. Ja, aber was heißt das? Ich war sehr erstaunt und habe es deshalb nie vergessen: die Quelle hat zunächst grundsätzlich Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Der Kritiker trägt die Beweislast. Es gibt Ausnahmen: Für die frühe römische Geschichte z.B. hat es nie Quellen gegeben. Die schönen Geschichten, die wir darüber kennen, sind im 2. und 1.Jh.v. Chr. erfunden worden. Hier kann man sagen: die ersten fünf Bücher des Livius verdienen per se keinen Glauben. Wer etwas daraus benutzen will, hat seinerseits plausibel zu machen, aus welchen Gründen er dafür die Möglichkeit einer zuverlässigen Überlieferung annimmt12.
c) Die Anwendung auf die neutestamentlichen Quellen13
Die Apostelgeschichte gehört zur Gattung Traditionsquellen, die Paulusbriefe zu den Überresten. Nach den eben referierten Grundregeln würde man für den Rahmen einer Geschichte des Urchristentums die Apostelgeschichte zugrundelegen und in diesen die Informationen aus den Paulusbriefen und, was es sonst noch an Nachrichten gibt, einfügen. Dieser Weg ist dem "kritischen" Neutestamentler aber durch die Abwertung des Lukas verbaut. Da es keine andere erzählende Quelle gibt, kann er jedoch auf die Apostelgeschichte gar nicht verzichten. Er macht von ihr also Gebrauch, wie und soweit es ihm vertretbar erscheint. Daß bei diesem Verfahren die reinste Willkür herrscht, lehrt ein kurzer Blick in beliebige Darstellungen und Kommentare. Der eine hält dies Detail für historisch, jenes für völlig undenkbar, der andere umgekehrt. Nicht anders steht es mit der angeblichen Tendenz des Lukas. Hier ist der freien Erfindung Tür und Tor geöffnet. Das wird natürlich jeder Neutestamentler bestreiten. Denn er hat ja die Paulusbriefe. Von denen geht er aus. Sie geben ihm den Maßstab für das, was er an der Apostelgeschichte für historisch oder unhistorisch erachtet. Nur, die Briefe sind als Angehörige der Gattung Überreste gar nicht aus sich heraus zu verstehen. Selbstverständlich ist es etwas anderes, wenn man sie theologisch-systematisch interpretieren will. Aber für die historische Interpretation gilt: nicht nostra res agitur, sondern Paulus steht in einem genau zu definierenden situativen Zusammenhang, aus dem heraus er verstanden werden muß. Um diesen zu rekonstruieren, um eine Entwicklung nachzuzeichnen, um das Typische vom Besonderen abzuheben, kommt man mit den Briefen nicht aus14. Und dann greift jeder zur Apostelgeschichte. Ein nicht endender Zirkel.
Die methodische Forderung, die sich aus dem Ausgeführten ergibt, ist also, daß man sich zunächst klar darüber werden muß, ob die Apostelgeschichte einen Wert als historische Quelle besitzt oder nicht. Erst wenn dies grundsätzlich geklärt ist, darf man ihre Mitteilungen verwenden. Alles andere ist Eklektizismus und Willkür15.
4. Das Proömium des Lukasevangeliums im Kontext antiker Geschichtsschreibung
Der Einfachheit halber gehe ich von Hemer (wie Anm. 10) aus. Die Apostelgeschichte ist für ihn auf Grund ihrer Verbindung mit dem dritten Evangelium und damit der synoptischen Tradition das wichtigste Buch für die historischen Probleme des gesamten Neuen Testaments (22). Um zu wissen, welchen Gebrauch wir von der Apostelgeschichte als Quelle für das frühe Christentum machen könnten, benötigten wir eine Einschätzung ihrer Qualitäten mit Blick auf ihren eigenen kulturellen Kontext. Das werde uns in die Lage versetzen, sie kritisch im besten Sinne zu handhaben (49)16. Als Grundlage hierfür nimmt er die theoretischen Standards antiker Historiographie, die durch eine hochrangige Reflexion über die Quellenprobleme und kritischen Methoden charakterisiert waren (66). Im Zentrum der Reflexion stand der Forscher und die Art und Weise, wie er sein Material beschaffte und behandelte. Von Herodot über Thukydides und Polybios bis zu Lukian wurde der Autopsie und ihrer Ausweitung durch die persönliche Befragung von Augenzeugen der Vorrang vor den schriftlichen Quellen eingeräumt. Entscheidend war daher, daß der Historiker selbst etwas von der behandelten Materie verstand, denn der Befrager trug zur Erzählung genauso bei wie der Informant: seine Anregungen leiten das Gedächtnis des Informanten (69). Auch erwartete man von ihm, daß er sich nach Möglichkeit an den Ort des Geschehens begab. Es sei nicht entscheidend, so Hemer, ob Lukas sich an diese Maßstäbe gehalten habe, aber an ihnen müsse er gemessen werden. Daß dies auch im Sinne des Lukas ist, läßt sich am besten am Proömium zu seinem Evangelium zeigen.
Auf "den Dingen, die sich unter uns ereignet haben", liegt eine starke Emphase. Es war wichtig, einen bedeutenden Gegenstand zu wählen, und üblich, dies dem Leser kundzutun. In ähnlicher Weise spricht Herodot im Proömium von den großen und bewundernswerten Taten, die Griechen und Barbaren vollbracht haben. Thukydides bezeichnet den Peloponnesischen Krieg als groß und als den denkwürdigsten, der jemals in der griechischen Welt stattgefunden habe (1,1,1), und Polybios spricht seinen Gegenstand als außerordentlich an, weil die Ökumene in nicht ganz 53 Jahren unter die alleinige Herrschaft der Römer gefallen sei (1,1,5 und 6,1,2).
Der nächste Punkt betrifft die Beschaffung des Materials. Es lägen schon Berichte vor, sagt Lukas, die nach den Angaben der Apostel verfaßt seien, nach den Berichten derjenigen also, die dabei gewesen waren. Er selbst habe sich ebenfalls bemüht, alles von Anfang an zu verfolgen. Das kann nach Lage der Dinge nichts anderes heißen, als daß Lukas sagen will, er habe die Augenzeugen, soweit er ihrer habhaft werden konnte, noch einmal - vielleicht kompetenter - befragt. Denn Lukas wird nicht seinen Vorgängern das Verdienst zugestanden haben, aus der besten Informationsquelle geschöpft zu haben, um zugleich damit auszudrücken, er selbst habe sich mit der Auswertung sekundärer Quellen zufriedengegeben.
Besteht also der zweite Anspruch darin, daß er die Recherche sorgfältig betrieben habe, so zielt der dritte auf die Form der Darstellung. Der Reihe nach oder, nach anderer Übersetzung: in guter Ordnung, habe er den Bericht auf Grund seiner Untersuchungen aufgesetzt. Dies zielt also auf die Organisation des gewonnenen Materials in einer den Verhältnissen adäquaten Erzählung.
Das vierte Element der Einleitung ist der Zweck. Lukas will Theophilus, dem das Buch gewidmet ist, durch diese Erzählung, die auf den besten Quellen beruht und die in der ihm richtig erscheinenden Anordnung die Ereignisse gestaltet, sichere Gewähr geben für die Zuverlässigkeit dessen, was er vom Christentum erfahren hat. Mit anderen Worten: durch eine wahrheitsgemäße Geschichtserzählung will er für den christlichen Glauben zeugen. Keinem antiken Historiker ist nach unserer Kenntnis das Erzählen Selbstzweck. Alle verfolgen einen politischen oder moralischen Zweck. Thukydides will einen "Erwerb für immer" geben, denn er meint, auf Grund der anthropologischen Grundkonstanten könne die Zukunft ungefähr richtig beurteilen, wer die Vergangenheit genau kenne (1,22,4). Für Polybios ist die Geschichte Lehrmeisterin, besonders für die Politiker in den Stadtstaaten: das Studium der Katastrophen, die andere erlitten und gemeistert hätten, könne eine Vorbereitung sein, die plötzlichen Wechselfälle des Glücks im eigenen Leben zu bestehen (1,1,2f). Am nächsten steht dem Verfasser der Apostelgeschichte vielleicht Herodot in seiner tiefreligiösen Weltsicht. Auf das Wirken der Götter ist es zurückzuführen, daß Machtausweitung zum Scheitern führt: menschliche Hybris trägt den Keim göttlicher Vergeltung in sich17.
Lukas stellt sich mit seinem Proömium also bewußt in die Tradition griechischer Geschichtsschreibung, besser gesagt, einer Richtung. Es wäre nämlich ein fundamentaler Irrtum anzunehmen, daß Polybios die Norm war. Er galt vielmehr als unlesbar. Die große Mehrheit antiker Geschichtsschreiber sprach nicht den Intellekt, sondern das Gefühl an. Der Leser, besser Hörer, sollte miterleben können, was von den Helden der Darstellung berichtet wurde, wie Thornton (wie Anm.10, S. 355ff.) sehr richtig ausführt.
Auf keinen Fall darf man Luk 1,1-4 dahingehend zusammenfassen: also wolle er nicht Geschichte erzählen, sondern ein Erbauungsbuch liefern, oder: damit sei eine theologische Geschichtsbetrachtung und -darstellung gefordert, die das lukanische Werk von den Programmen eines Herodot, Thukydides und Polybios grundsätzlich unterscheide18. Solche Urteile zeigen die Befangenheit der Theologen in ihrem eigenen Milieu und haben den Effekt, historisches Denken für das Verständnis der Apostelgeschichte zu eskamotieren. Auch Droysen bezeichnete als Aufgabe der Geschichte die Theodizee. Aber er war trotzdem nicht Theologe, sondern Historiker. Nicht einmal in der Neuzeit wäre ein Denken, daß hinter menschlichem Handeln Gott vermutet, eo ipso gleich "theologisch" zu nennen. Für die Antike kann man gar nicht so reden. Man müßte erst einmal Kriterien für die Unterscheidung von religiösen und ethischen Motiven auf dem Hintergrund antiker Reflexion liefern. Treffend ist die Zusammenfassung von Hemer: Grundlage für Lukas sei sicher eine theozentrische (oder christozentrische) Sichtweise, aber sein Ziel sei, eine Chronik dessen zu geben, was wirklich passierte, und dabei zu zeigen, "that the proclamation of divine events is rooted in a matter-of-fact reality which the reader can know to be true". Seine Stärke liege in seinem Anspruch, einen akkuraten Bericht zu geben (85).
Hinter den eben angeführten Aussagen der Kommentarliteratur steht die Auffassung, Geschichte sei für die Zeitgenossen des Lukas etwas Unwichtiges gewesen. Das Gegenteil ist richtig. Konstituens ihres Selbstbewußtseins war die lebendige Erinnerung an die Ursprünge. Das ist aber für jedes Individuum wie für jede Gemeinschaft die urtümliche Form, in der sie Geschichte besitzt19. Die christlichen Gemeinden waren kleine Gemeinschaften in einer Umwelt, die ihnen verständnislos oder feindselig gegenüberstand. Um von ihrer Sache überzeugt zu bleiben und sogar neue Mitglieder zu werben und zu integrieren, mußten die Christen sich ständig selbst Mut machen, daß der eigene Weg der richtige war. Man erzählte sich die Geschichten, die alle kannten: vom Leben und Leiden Jesu, von seiner Auferstehung und Himmelfahrt, der Gründung der Urgemeinde und von der Gründung der eigenen Gemeinde. Angesichts der erstaunlichen Mobilität, die aus den Paulusbriefen deutlich wird, hat es auch von Anfang an einen Austausch dieses Wissens zwischen verschiedenen Gemeinden gegeben. Diese mündlich tradierte Geschichte war grundsätzlich nichts anderes als das, was jede menschliche Gemeinschaft zum Überleben braucht, der "gesellschaftliche Wissensvorrat"20.
Man muß nun fragen, warum dieser gewissermaßen selbstverständliche Umgang mit der lebendigen Vergangenheit plötzlich nicht mehr genügte. Es kam auch in der christlichen Gemeinschaft der Moment, wo der bis dahin mündlich geformte und tradierte Wissensvorrat aufgeschrieben wurde. Das ist das, was wir in den Evangelien und der Apostelgeschichte sowie den nicht kanonisierten Schriften vor uns haben. Dabei mag ein Motiv für die Aufzeichnung gewesen sein, daß mit dem Aussterben der ersten Generation die Erinnerung ihr Fundament zu verlieren drohte. Auch spielte wohl eine Rolle, daß die jüdische und heidnische Tradition als Vorbild wirkte. Aber das reicht als Erklärung nicht aus. Wie kam Lukas darauf, die Überlieferung in einer Geschichtserzählung zusammenzufassen und individuell zu gestalten? Welches Bedürfnis erfüllte er bei seinen Lesern, daß sie sein Werk aufnahmen und abschrieben? Lukas und seine Addressaten sind in einer Umbruchsituation angesiedelt. Jerusalem war zerstört. Die Juden wollten die Botschaft von Christus nicht annehmen. Weiter blieb die Wiederkehr des Herrn, von der die ersten Christen geglaubt hatten, sie stehe unmittelbar bevor, aus. Statt dessen erlebte man die staunenswerte Ausbreitung des Christentums in der ganzen Ökumene. Das war eine andere Welt als die der Christen der ersten Stunde. Um sich in ihr zu orientieren, reichte das vorhandene Wissen, jedenfalls in der Form, in der es vorhanden war, nicht aus. Die Vergangenheit von den drängenden Problemen der Gegenwart her zu deuten und damit Richtwerte für die Gegenwart und die Zukunft zu finden, war die Aufgabe der Stunde. Lukas hat sich ihr gestellt. Das macht ihn zum Historiker21. Er gab dem Geschehen einen Sinn, indem er es als Wirken Gottes in der Welt verstand.
Wie ging er vor? Wie jeder Historiker hatte Lukas sein Quellenmaterial zu organisieren, eine Auswahl zu treffen und das geschichtliche Bild, das er überliefern wollte, durch die Erzählung zu strukturieren. Selbstverständlich muß man auch bei ihm davon ausgehen, daß sein Werk aus einer für ihn individuell maßgeblichen Sichtweise konzipiert wurde. Es kommt aber darauf an, das spezifische Verhältnis zu erfassen, in dem bei Lukas das Sammeln der Infomationen und die Herausbildung seines Geschichtsbildes standen. Das - trotz einer grundsätzlichen Abkehr von der tendenzkritischen Richtung - auch in der heutigen Forschung immer noch verwandte Modell von Redaktion und Tendenz ist dazu nicht geeignet.
Angesichts der Ubiquität, die diese Vorstellung immer noch besitzt, sei es gestattet, zur Karikatur zu greifen: Da sitzt der Redaktor an seinem Tisch und sichtet sein Material. Was er braucht, ist eine Schere und eine Tendenz. Dokument (a) paßt zur Tendenz, kann also übernommen werden. Dokument (b) fügt sich der Tendenz überhaupt nicht. Das beste ist, es zu unterdrücken und verschwinden zu lassen. Dokument (c) ist eine anschauliche Geschichte, aber die Tendenz fehlt. Die kann der Redaktor mit ein paar Federstrichen "eintragen". Dann stehen ihm als weitere Gruppe (d) noch eine Reihe hübscher Geschichten zur Verfügung, die er irgendwo in der antiken Literatur einmal gelesen und exzerpiert hat. Wenn er in sie "Paulus" und "wir" gelegenlich "einträgt", kann er auch diese "Lesefrüchte" für seine Darstellung verwenden, obwohl sie mit dem frühen Christentum von Hause aus nichts zu tun haben22. Wenn gar nichts mehr hilft, muß der Redaktor etwas hinzuerfinden (e).
Ein adäquates Gegenmodell kann man nur von der frühchristlichen Welt her konzipieren, in der und für die diese Geschichtsschreibung entstand. Lukas mag auch für die Apostelgeschichte23 schriftliche Quellen benutzt haben. Aber es ist wohl kein Zufall, daß alle Bemühungen, diese auszusondern und abzugrenzen, zu keinem Resultat geführt haben. Sein Material war plastisch und bedurfte der Formung. Es war ebenso Teil der christlichen Gemeinschaft wie der Autor selber. Seine Vorstellung von ihrer Geschichte prägte sich deshalb nicht in abstrakter Gedankenarbeit, sondern bildete sich im aktuellen Vollzug christlichen Lebens. Dabei ist gut vorstellbar, daß es unterschiedliche Weisen gab, dieselben Geschichten zu erzählen. Lukas kam vielleicht durch Gespräche mit verschiedenen Partnern darauf, daß er eine besondere Kompetenz besaß, die Wahrheit in ganz prononcierter Form, d.h. besser als andere, zu erheben. Es kommt mir nicht darauf an zu behaupten, seine Darstellung sei nicht durch sein persönliches Urteil über die Dinge geprägt. Wichtig ist aber zu erkennen, daß dieses Urteil nicht von vornherein feststand, sondern im Dialog mit den Informanten geprägt wurde, indem es gleichzeitig durch die Form der Befragung den Bericht der Befragten bestimmte24.
Unter diesen Gegebenheiten ist es äußerst schwierig, den Beitrag des Lukas von dem, was ihm erzählt wurde, zu trennen. Ich nehme als Beispiel den Anfang der Apostelgeschichte. Wie 1 Kor 15,1-11 zeigt, gehört das Zeugnis derjenigen, denen der Auferstandene erschienen ist, zum ältesten Bestand christlichen Wissens. Mir ist immer die Szene, in der Christus und die Apostel miteinander essen und sprechen, als besonderer Ausweis des dramatischen Gestaltungstalents erschienen, das die lukanische Geschichtserzählung charakterisiert. Auch daß er den Missionsbefehl und damit zugleich das Thema seines Buches dem Auferstandenen in den Mund legt, habe ich für eine glänzende "lukanische" Komposition gehalten. Ich meinte auch, daß sich nicht der ursprüngliche Jüngerkreis mit der weltweiten Mission betraut gesehen hat, sondern erst die Hellenisten und Paulus. Nach der Lektüre von Hemers Buch bin ich mir darin überhaupt nicht mehr sicher. Er hat so viele Indizien dafür gebracht, daß Lukas Petrus gekannt und befragt hat (351), daß ich heute die Gestaltung der Szene von 1,4-8 mit gleichem Recht für "petrinisch" wie "lukanisch" halten möchte.
Die Informanten des Lukas waren zugleich seine Kritiker. Das macht die Annahme von vornherein unwahrscheinlich, er hätte willkürlich seine Vorurteile und Intentionen der Geschichtserzählung aufpfropfen können. Da sie kanonische Geltung in den Kommentaren genießt, greife ich die angebliche prorömische Tendenz heraus. Entweder war die römische Administration im großen und ganzen korrekt, wie die meisten Althistoriker annehmen. Dann handelt es sich nicht um eine prorömische Tendenz. Wenn dagegen jeder Mensch im römischen Reich das Unrechtshandeln der römischen Beamten ständig erlebte, wie offenbar die theologische Forschung immer noch unterstellt: dann konnte doch jedes Kind die Tendenz durchschauen. Wie wollte Lukas dann mit seiner Erzählung Gewähr für den Glauben stiften? Oder wie kann man den Gedanken überhaupt denken, der Weg des Evangeliums von den Juden über die Gottesfürchtigen zu den Heiden sei eine theologische Konstruktion des Lukas ohne Rückhalt an den Tatsachen? Ob es die Gottesfürchtigen im Umkreis der Synagogen gab oder ob Lukas sie erfunden hatte, konnte jeder Leser beurteilen25. Auch die allgemein verbreitete Ansicht, Lukas habe ein völlig "unpaulinisches" Bild von Paulus und dessen Theologie gezeichnet, tut so, als habe es keine Zeitgenossen gegeben, die sich an den großen Missionar, seine Predigten und seinen Prozeß erinnerten. Allerdings dürfte Paulus von den Zeitgenossen anders verstanden worden sein als von den Theologen des 20. Jh. Um es zu wiederholen: Wen hätte Lukas überzeugen können, wenn sein "theologisches und apologetisches Programm"26 in diametralem Gegensatz zu den Erinnerungen der Beteiligten stand? Manchmal bedarf es in der Wissenschaft auch des Muts. Hemer hat offenbar recht, wenn er von der "wissenschaftlichen Orthodoxie" sagt, sie könne einen ebenso konformistischen Druck ausüben wie die allerkonservativste religiöse Orthodoxie" (352).
Um zusammenzufassen: Ich vermisse in der neutestamentlichen Forschung weitgehend eine Vorstellung davon, was der Historiker tut oder tun sollte. Der Historiker ist kein Buchhalter oder Redakteur, der aus vorgefertigten Teilen etwas zusammenbastelt. Sondern er entwirft kraft seiner konstruktiven Phantasie ein Bild von der Vergangenheit. Er tut dies unter methodisch richtiger Benutzung von Quellen und mit dem Anspruch der Wahrheit, nämlich die Dinge richtig darzustellen, so wie sie gewesen sind. In diesem Sinne war Lukas Historiker. Was man öfter lesen kann, nämlich er sei kein Historiker im modernen Sinne, ist entweder eine Banalität. Denn bekanntlich ist Geschichte als Wissenschaft ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Oder aber eine solche Bemerkung zielt auf ein Defizit im modernen, wissenschafltichen Umgang mit Geschichte. Dieser ist nämlich nur in seltenen Ausnahmefällen geeignet, für eine größere Öffentlichkeit die Vergangenheit im Bewußtsein zu erhalten und ihr Leitlinien für die Bewältigung der Gegenwart abzugewinnen27. Deshalb enthält die Wertung, die Apostelgeschichte sei Belletristik, auch wenn sie nur abwertend gemeint ist, eine tiefere Wahrheit. Da Geschichte nicht anders als in der Anschauung von ihr existieren kann, bedarf es zu ihrer Hervorbringung der Phantasie. Die Nähe zur Kunst ist also nicht nur sachlich gegeben, sondern aufgrund des begrenzten Wirkungsradius des professionellen Spezialistentums ist heute ein Roman vielleicht eher geeignet, kollektive Erinnerung zu stiften, als eine wissenschaftliche Monographie. Wo läse man gültiger, wie die Sklaverei einen Menschen deformiert, als bei Toni Morison28, wer hat die geteilte Realität des Nachkriegsdeutschland besser zur Anschauung gebracht also Uwe Johnson29? Wer Faulkners "Absalom, Absalom!" gelesen hat, kann sich vorstellen, wie die Apostelgeschichte entstanden sein könnte30.