Selina hat geschrieben:Es käme also keine Allgemeinheit für "mich" auf.
Die Frage, warum dann aber automatisch der Kinderlose in Saus und Braus leben könnte, bleibt bestehen.
Das stimmt, ohne ein solidarisches Sozialsystem käme die Allgemeinheit nicht für dich auf. Aber ein solches System würde ich nie befürworten. Der Kinderlose lebt bestimmt nicht
automatisch in Saus und Braus, ab einer gewissen Einkommensstufe aber eben schon -
gerade weil er (ebendieser Kinderlose ab einer bestimmten Einkommensstufe) keine Kinder hat. Und er lebt eben in Saus und Braus - eben
weil er keine Kinder hat - auf Kosten des
Gesellschaftskerns (s. die rechtliche Erläuterungen des Schutzes von Ehe und Familie),
weil dieser höhere Ausgaben mit der Kindererziehung und -Fürsorge hat, die von den staatlichen Familienhilfen nicht gedeckt werden. Vielleicht ist es jetzt noch einmal klarer geworden.
Selina hat geschrieben:Kinderlose werden dafür mehr zur Kasse gebeten, denn, wie gesagt, sie zahlen für etwas, das sie nicht nutzen. Das ist in einer Solidargemeinschaft auch korrekt und sinnvoll und wird von kaum jemandem bestritten. Lediglich eine zusätzliche Mehrbelastung halte ich weiterhin für moralisch fragwürdig, denn es kommt eine Bestrafung gleich für etwas, auf das viele Menschen keinen Einfluss haben.
Und ich frage mich eben, weshalb eine solche steuerliche Mehrbelastung moralisch fragwürdig wäre - ganz abgesehen davon, dass ein Rechtssystem viele Dinge erlaubt oder regelt, die moralisch fragwürdig sind - es
könnte ja der Punkt erreicht werden, an welchem die Reproduktionsrate der Bevölkerung trotz Zuwanderung hinten und vorne nicht mehr ausreicht, um ein bestehendes Solidarmodell weiter finanzieren zu können, Stichwort "Generationenvertrag". Dazu einmal
Oswald von Nell-Bräuning:
Wenn die Kinderlosen und die Kinderarmen ihr Dasein, insbesondere ihre Versorgung im Alter, auf anderer Leute Kinder aufbauen, dann bilden Familienlastenausgleich und Altersversorgung eine Einheit; eine sinnvolle Regelung ist nur möglich, wenn man beides zusammen anfasst. Der Gesetzgeber habe bei der 1957 in Kraft getretenen Rentenreform diesen Zusammenhang zwischen Familienlastenausgleich und Altersversorgung völlig übersehen und außer acht gelassen. Diejenigen, die Beiträge zahlen, empfangen ja nicht ihre Beiträge zurück, wenn sie alt geworden sind. Durch die Beiträge haben sie nicht die Rente erdient, sondern durch sie haben sie erstattet, was die Generation zuvor ihnen gegeben hat. Damit sind sie quitt. Die Rente, die sie selbst beziehen wollen, die verdienen sie sich durch die Aufzucht des Nachwuchses. Wer dazu nichts beiträgt, ist in einem ungeheuren Manko.
Soweit der Theologe, der für den bundesdeutschen Sozialstaat die Soziallehre der Kirche auslegt. Was aber sagen denn Juristen, gar Verfassungsrechtler, zu dieser angeblichen
"moralischen Fragwürdigkeit"? Schauen wir mal bei
Wolfgang Zeidler:
„Was die Sozialversicherung, insbesondere das System der Alters- und Hinterbliebenenversorgung betrifft, hat dieses sich noch weiter von den Verfassungsgeboten und Wertvorstellungen des Grundgesetzes entfernt als das Steuerrecht.“
Oder bei
Paul Kirchhof:
„Solange sich die Kinderlosen überhaupt nicht am finanziellen Kindesunterhalt beteiligen, gebührt die im Rahmen des Generationenvertrages erbrachte Alterssicherung ausschließlich den Eltern; die übrige Bevölkerung müsste für ihr Alter durch sonstige Vorkehrungen, z. B. eine Lebensversicherung, vorsorgen.“
Aber auch Juristinnen haben sich dazu geäußert, z.B. Eva Marie von Münch, eine Koryphäe im Ehe- und Familienrecht:
„Die Alterslast wurde kollektiviert, die Kinderlast blieb Privatsache. Mit dieser Konstruktion bestraft das geltende Rentenrecht die Familie und innerhalb der Familie ganz besonders die nicht oder nicht voll berufstätige Mutter.“
Oder, zu guter Letzt, der gute
Roman Herzog:
„Es kann nicht sein, dass ein Ehepaar – bei dem nur der eine ein Leben lang ein Gehalt oder einen Lohn einsteckt – Kinder aufzieht und am Ende nur eine Rente bekommt. Auf der anderen Seite verdienen zwei Ehepartner zwei Renten. Und die Kinder des Paares, das nur eine Rente bekommt, verdienen diese beiden Renten mit. Das ist ein glatter Verfassungsverstoß.“
Alle Quellenangaben hier. Das klingt alles andere als
"moralisch fragwürdig", im Gegenteil.
Caviteño hat geschrieben:Wenn man also die Familienleistungen verbessern will, sollte man das auch ganz klar und deutlich sagen, daß die steuerliche Belastung erhöht werden soll.
Ja, ich denke schon, dass die genannten Juristen dieser Ansicht sind. Da kommt im Moment aber auch viel Bewegung in die politische Landschaft in Deutschland.
Faktum bis hierher bleibt: Der gewollt Kinderlose bewegt sich im Rahmen geltenden Rechts, welches maßgebliche Juristen aber als unzureichend bezeichnen. In Bezug auf die Soziallehre der Kirche in diesem Punkt (s.
centesimus annus et.al.) kann er sich nimmermehr als rechtgläubigen Katholiken betrachten.
Selina hat geschrieben:Übrigens, Stichwort "Berufung": Warum ist dies keine Wahl bzw. kein Lebensmodell, während es ungewollte Kinderlosigkeit ist? In letzterem Falle hat doch offensichtlich ebenso der Herrgott entschieden, dass der- oder diejenige sich nicht fortpflanzen wird!
Es gibt Grenzen für den Begriff "Berufung" im säkularen Bereich; zu etwas "berufen" zu sein, verweist eigentlich immer auf eine metaphysische Instanz, die der Staat allein nicht bieten kann. Weshalb so jemand nicht nur meiner Meinung nach sich nicht im geistlichen Sinne als "Berufener" betrachten kann, müsste aus den Dokumenten der Kirche eigentlich deutlich geworden sein.
Selina hat geschrieben:Eine "bewusste Verweigerung" ist eben jenes - ein bewusster, aktiv erwählter (Willens)akt. Wie aber kann etwas Ungewolltes diese Kriterien erfüllen? Wo ist die bewusste Verweigerung der Frau mit fehlgebildeten Eileitern oder des Mannes mit Hodenkrebs?
Da greifst du dir einen Sonderfall heraus, der pars pro toto für eine Gesamtheit gelten soll. Ich bin aber mitnichten der Meinung, dass alle kinderlosen Paare fehlgebildete Eileiter oder Hodenkrebs haben, im Gegenteil; da du die obige Frage gestellt hast, würde mir andernfalls dazu ein Beleg weiterhelfen.
Selina hat geschrieben:Machst du es dir nicht ein wenig sehr einfach, wenn du so lapidar über Menschen urteilst, die keinen Partner finden? Wo führt das denn in letzter Konsequenz hin - zu einer Verpflichtung zum Zuchtprogramm für alle, die mit, sagen wie 30, noch nicht dauerhaft verpaart sind? Das ist allerdings auch nicht unbedingt das, was die Soziallehre der Kirche vorgibt.
Noch einmal: Zwischen
"keinen Partner finden" und
"zu hohe und unrealistische Ansprüche" (aus Kalkül oder Narzissmus) an einen möglichen Partner gibt es m.M. nach durchaus Schnittmengen und das gar nicht so selten. Und die Soziallehre der Kirche
verneint - auch noch einmal - die Möglichkeit einer Wahl bei der Erfüllung des Schöpfungsauftrages.
Selina hat geschrieben:Das ist nicht willkürlich formuliert, sondern ein Beispiel, das gerade in Zeiten von hohen Arbeitslosenzahlen und Billiglöhnen recht aktuell ist. Kinder in die Welt zu setzen, nur damit dann die ganze Familie von Hartz IV leben kann/muss, ist nun auch nicht sozialverträglicher als keine Kinder zu bekommen.
Das ist eine beliebte versuchte Exkulpation bei vielen (übrigens
gewollten) Kinderlosen und ich hätte gerne auch dafür einen Beleg, dass bei größerem Kinderreichtum eine solche Entwicklung zwangsläufig stattfinden würde.
Selina hat geschrieben:Ja, wer aus Kalkül handelt, erfüllt diverse Aspekte des Narzismus, aber das tut der überzeugte Junggeselle, der jedes Wochenende eine andere Barbekanntschaft beglückt ebenso wie die vierfache Mutter, die ihren Mann für einen Anderen verlässt. Nur weil sie zusätzlich Kinder in die Welt gesetzt hat, wird dieses Verhalten nicht besser und sie nicht beziehungsfähiger.
Es reicht auch, wenn ein solcher Schwanzlurch oder eine solche Nymphomanin jedes Jahr den Bettpartner wechselt. Aber Schwamm drüber, was die Kirche dazu sagt, dürfte ja klar sein und ich sehe keinen Widerspruch zwischen ihren Forderungen und deinem Einwand. Ich freue mich allerdings trotzdem über jedes geborene Kind auch aus solchen Begegnungen, die Alternative wäre furchtbar - es sei denn, das
"wegmachenlassen" (was für ein widerwärtiger Euphemismus) hätte in Kreisen Einzug gehalten, die sich (einstmals?) katholisch dünkten. Aber nun zu Fragen der Sprachästhetik:
Selina hat geschrieben:Und schon wieder ein Seitenhieb auf mein "Lebensmodell", das du überhaupt nicht kennst. Was soll das?
Wenn ich mir deine Standpunkte so ansehe, fügt es sich recht lückenlos in genau das Lebensmodell ein, das im ganzen Strang und von der Kirche kritisiert wird.
Selina hat geschrieben:Auch "wüte" ich nicht, ich widerspreche nur deinen Ansichten und der Form und Weise, in der du sie formulierst.
Dass das Thema hochgradig emotionalisiert, wirst du ja nicht bestreiten können. Wenn ich dich mit meiner Art und Weise verletzt haben sollte, bitte ich dich um Verzeihung, das war nicht meine Absicht. Ich stehe mit meinem Leben für ein Lebensmodell, das mein Glaube - neben dem Zölibat für die dazu
Berufenen (von hier stammt der Begriff genuin ab) - als ein
unbedingtes Ziel des Schöpfergottes bezeichnet und das ich infolgedessen auch staatlich-rechtlich möglichst breitflächig verwirklicht sehen möchte, wogegen eben Lebensformen, die dazu diamentral entgegen laufen, ihren Widerstand setzen. Ich bin mir dessen bewusst, dass dieser Widerstand durch Dialog allein in den seltendsten Fällen gebrochen werden kann; dies könnte allein die Einsicht aus dem Glauben oder staatlicher Zwang durch schiere Notwendigkeit (s.o.) erreichen, so wird es - nach meiner Abschätzung - auch kommen. Dass dieser Widerstand aber aus Kreisen kommen könnte, die sich selbst als gläubig begreifen, ist einerseits sehr menschlich (schließlich schrecken wir allgemein vor der Verfolgung eines Zieles zurück, wenn es uns [auch] Nachteile bringt), andererseits ein eindeutiger Mangel. Wenn dieser Mangel aber mit der Behauptung auftritt, er wäre gar kein Mangel, sondern nur eine weitere Wahlmöglichkeit, steht das im Widerspruch eigentlich zu all dem, was die Kirche zu diesem Thema lehrt. Insofern ist dieser Strang im Brauhaus eigentlich nicht gut aufgehoben und sollte - als recht eindeutige Materie der Christlichen Sozialethik, Moraltheologie und der Caritaswissenschaft - in das Skriptorium verschoben werden.
PigRace hat geschrieben:Hallo an alle Leser dieses Threads,
viele der Maßnahmen, die unter dem Oberbegriff „Kinder- und Familienpolitik“ laufen, sind wohl eher auf Bundes- und Landesebene angesiedelt und von uns üblicherweise kaum zu beeinflussen.
Anders verhält es sich mit der Stadt- oder (noch besser, weil kleiner/überschaubarer) Gemeindepolitik. Dort kann man aktiv werden, sich einbringen und damit auch tatsächlich durchdringen.
Meine Frage:
Welche Maßnahmen, die auf der Ebene des Stadtparlaments oder der Gemeindevertretung umgesetzt werden könnten, würden einer Frau/Familie die Entscheidung für ein jeweils weiteres Kind (also u.U. auch das erste) erleichtern?
Wenn Ihr mehrere Vorschläge habt, könnt Ihr sie auch gerne in ein Ranking setzen.
Jeden Gedanken fände ich spannend! Vielen Dank!
PigRace
PS: Die Hypothese hinter dieser Frage lautet natürlich: mehr Kinder = gut

Das sind sehr wertvolle Hinweise, die ich auch vorhabe, umzusetzen. Vielen Dank, PigRace!