1. Es ging mir mehr um den Artikel, weniger um Frau Steinbach. - Einer Bundestagsabgeordneten vorzuwerfen, sie nutze Twitter, ist einfach derart daneben, dass ich das nicht ohne jeden Kommentar lassen wollte. Ob man immer selbst betroffen (gewesen) sein muss, um für eine Menschengruppe Partei zu ergreifen, ist auch eine Frage, die man unterschiedlich beantworten kann. So zu tun, als sei es unverschämt, sich für Vertriebene einzusetzen, wenn man selbst nicht vertrieben (oder nicht wirklich vertrieben) wurde, halte ich für sehr tendentiös. Ich persönlich schätze Frau Steinbach aufgrund ihres Engagements für verfolgte Christen. Sie gehört zu den wenigen deutschen Spitzenpolitikern, die das Wort "Christenverfolgung" nutzen. Das ist mir positiv aufgefallen. Ansonsten weiß ich sehr wenig über sie und kann mir kein Urteil erlauben.
2. Auch Wikipedia liefert nur Einzelmeinungen, von Historikern zwar, aber damit immer noch nicht völlig frei von Tendenzen. Von "Fakten" würde ich da also nicht unbedingt sprechen wollen (gerade, was den Relativierungsvorwurf angeht). Frau Steinbach selbst hat sich via Facebook übrigens schon beschwert, dass selbst einige biographische Angaben im Text nicht stimmen. Das nur am Rande. Dass sich ein Journalist bei Wikipedia schlau macht, ist auch nichts Neues, aber hier hätte etwas Distanz zu den dort vorgefundenen Vorwürfen dem Text sicher gut getan - nicht nur stilistisch.
3. „Der Massenmord an den Juden“ versinke „im Meer der Geschichte.“ - Das ist - bei aller Polemik der Formulierung - wirklich ein interessanter Punkt. Wir müssen sehen, was denn die Folge einer Wahrnehmung der deutschen Geschichte ist, bei der die Shoa gleichsam aus dieser herausfällt bzw. herausgelöst wird, eine historische Singularität bildet, einen "Rückfall in die Barbarei" - und eben keinen Teil der Geschichte unserer Moderne (so sieht es etwa Z. Bauman, vgl.
https://jobo72.wordpress.com/211/1/27/moderne-morde/ - Versucht er damit, die Shoa zu relativieren? Ich denke, er versucht zunächst einmal, die Shoa zu erklären!).
Damit haben wir das Problem derart überhöht, dass wir es isolieren und von außen darauf schauen können wie auf einen Fremdkörper in der Vitrine. Die Shoa hat dann nichts mit uns zu tun. So besteht die Gefahr, dass wir nicht oder zu spät bemerken, dass sich die Shoa (mit anderen Opfern und anderen Methoden) jederzeit wiederholen kann, eben weil sie nur der Methode nach etwas Besonderes war (gleichwohl etwas, das in der industriell-automatisierten Art der Vernichtung viel mehr zur technizistischen Moderne passt, in der wir leben, als es aus ihr herausfällt), nicht aber in der genozidalen Absicht. Die gab es zuvor (Armenien), die gab es danach (Ruanda) und die gibt es auch heute (IS). - Also, es ist für mich die Frage, was "schlimmer" ist: die Singularitätsthese oder die Kontinuitätsthese.
JoBo
Jobo72's Weblog - Christliche Existenzphilosophie. Gott, die Welt und alle Dinge überhaupt