unmittelbare Drohung mit physischer Gewalt gegenüber dem Wähler.
Solches gab es zwar im Vorfeld der 2004er Wahlen, namentlich in der
Westukraine, im Osten kaum, aber das meinte ich nicht.
Es ging mir vielmehr um die psychologische Seite. Kennst du die Er-
fahrung, angesichts von Demonstrationen politische Sitzungen abzu-
halten? Bei besetzter Uni? Zum von der Polizei geschützten Saal spieß-
rutenzulaufen und von beiden Seiten von johlenden und pfeifenden
Demonstranten – na, mit nichts wirklich Schlimmem, aber immerhin
mit Schneebällen beworfen zu werden?
Ich schon. Und vor allem kenne die Erfahrung, wie da gestandene
Männer ebenso wie aalglatte Politiker mir nichts, dir nichts umkippen
und ihre Meinung ändern.
Ich will nur sagen: Die Macht der großen Menschenmenge ist enorm.
Die Kunst ist, diese Menge erstens zusammenzubringen und zweitens
in die gewünschte Richtung zu navigieren. Dafür braucht man viel
Geld und eine ausgefeilte Logistik. So macht man Revolutionen. Dann
kann man getrost auch „frei“ wählen lassen.
In der Ukraine 2004 wurde die „kritische Masse“ von Demonstranten
durch zig Zugladungen aus dem nationalistischen Westen nach Kiew
gebracht. (Zwischenbemerkung: Es gab keinerlei Versuch Kutschmas,
das zu verhindern, was vielleicht durchaus erfolgreich hätte sein kön-
nen. Kutschma hat Janukowitsch damals also gerade nicht unterstützt,
sondern die Sache ihren Lauf nehmen lassen.)
Erst diese „kritische Masse“ hat dann auch die vielen mit der wirtschaft-
lichen Misere und mit der Korruption Unzufriedenen in Kiew und in der
ganzen Nord- und Zentralukraine in großer Zahl als weitere Verstär-
kung mobilisieren können. (Weitere Zwischenbemerkung: In Weißruß-
land ist derselbe Versuch gescheitert, weil erstens das nationalistische
Potential fehlt und zweitens auch keine vergleichbare Unzufriedenheit
herrscht; vielmehr lebt die große Mehrheit der Weißrussen in dem Be-
wußtsein, daß es ihnen deutlich besser geht als den Nachbarvölkern.)
Die psychologische Wirkung der Kiewer Demonstrationen nun war
dort, wo sie wirkte, beträchtlich. Das war nicht in den Gegenden, wo
eine Seite bereits übermächtig war. (Genauer gesagt: dort war die
jeweilige kleine Minderheitsgruppe ohnehin schon längst eingeschüch-
tert, im Osten gewiß nicht anders als im Westen.) Auch wo Januko-
witsch zwar keine überwältigende, aber doch eine Mehrheit hatte,
änderte sich nichts.
Dort aber, wo klare Juschtschenko-Mehrheiten gegen mehr oder we-
niger starke Janukowitsch-Minderheiten standen, da tat sich was. Und
nicht erst bei der nächsten Wahlrunde. Nein, überall in den größeren
und in vielen kleinen Städten füllten sich die Rathausplätze, teils die
Rathäuser selber, nicht selten wurden prompt als „régimetreu“ ver-
schriene Amtsleiter hinausgeworfen. Das heißt, in diesen Gebieten
hatten die eher russophilen Minderheiten ständig die Kiewer Fernseh-
bilder ebenso wie den Aufruhr in der eigenen Stadt vor Augen. Das
ist es, was ich am Dienstag mit der Einschüchterungskulisse meinte.
(’tschuldigung, ist doch etwas länger geworden. Nun noch Nummer 2: )
Roman, erst mal kann man eine Präsidenten-Stichwahl mit zwei Kan-
didaten schwer mit einer Parlamentswahl mit 45 Parteien sowie zahl-
reichen weiteren lokalen Gruppierungen und Einzelkandidaten ver-
gleichen.
Tatsächlich wird man oft örtliche Gegebenheiten berücksichtigen müs-
sen, die wir hier freilich nicht kennen. Ein Beispiel. Vergleiche mal die
Ergebnisse der Wahlkreise 46 und 47 (Makejewka, Donjezker Oblast,
83,6 bzw. 78,2 % für die Partei der Regionen) mit denen der benach-
barten Wahlkreise 48 und 49 (Mariupol, nur 52,9 bzw. 58,4 % Partei
der Regionen). Was finden wir? – In Makejewka ist die „Sozialistische“
Partei von Alexander Moros praktisch nicht existent, in Mariupol da-
gegen liegt sie bei 22,6 bzw. 16 %. Offensichtlich ein persönlicher Er-
folg ihres dortigen Kandidaten Wladimir Bojko, des Vorstandsvorsit-
zenden des Mariupolitaner Metallurgischen Kombinats.
Solche lokalen Besonderheiten mußt du prinzipiell immer einkalkulie-
ren. Dann kommt hinzu, daß Julia Timoschenko und Juschtschenkos
Partei getrennt, ja sogar zerstritten marschierten (auch wenn sie nun
doch wieder koalieren wollen, samt Moros). Dann der Gasstreit mit
Rußland. Da hat die Timoschenko wiederum gegen Juschtschenko
punkten können.
Kurz, Einzelergebisse zu analysieren würde äußerst schwierig. Das
Gesamtbild allerdings ist unverändert: Die Ukraine ist ist zwei annä-
hernd gleichstarke Teile gespalten: den Westen und Norden, der sich
eher an Westeuropa und Amerika orientiert und dessen politische
Führer meist aus der Finanzelite kommen, und den Osten und Sü-
den, der mehr auf Rußland schaut und seine politischen Führungs-
figuren eher aus der Industrie nimmt. Die Zentralukraine gehört da-
bei überwiegend zum west-nördlichen Teil, mit Zonen des Übergangs
zur „anderen Ukraine“.