Pilgerer hat geschrieben:Stand Dutschke vielleicht der Befreiungstheologie nahe? Diese war zum großen Teil Marxismus im christlichen Gewand (die sozialistische Gesellschaft als "Reich Gottes").
(ich hoffe, das Zitieren ist urheberrechtlich in Ordnung

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„Seit wann und wodurch gibt es überhaupt für mich den Namen Sozialismus, den 'Marxismus', 'Marxismus-Leninismus' usw.? Eins steht fest, das Christentum im allgemeinen und Jesus Christus im besonderen lagen da bei mir viel früher. Mit dem Beten begann ich schon in den vierziger Jahren, und als die Bomben in der Nähe unseres Hauses fielen (…) hatte ich dazu wie viele andere durchaus Gründe. In der vom Faschismus befreiten Ostzone (…) ging dann das Leben weiter.
Der Grund für das Beten, der Krieg, war weg, doch es ging noch weiter. Schließlich war der Vater noch nicht zuhause, und die Mutter weinte des öfteren, es war nicht zu übersehen. Das Beten festigte sich, und die Mitarbeit in der christlichen Gemeinde im nächsten Jahrzehnt war neben Schule uns Sport von wesentlicher Bedeutung. (…) Genauso wie es bei uns nie einen sich ausschließenden Gegensatz von Christentum und Sozialismus gab. Die soziale Frage und die Glaubensfrage waren lutheranisch verknotet (…).
Eines begann ich bald zu lernen: Der Zweite Weltkrieg war nicht aus dem Himmel gekommen, so wenig wie die Hölle der deutschen Konzentrationslager. Mein christliches Selbstverständnis wehrte sich dagegen, denjenigen dafür verantwortlich zu machen, der die Liebe gelebt hatte und dafür ans Kreuz mußte. (…). Meine christliche Scham über das Geschehene war so groß, das ich mich mit einer allgemeinen Erkenntnis zufrieden gag: Der Sieg und die Macht der NSDAP, das Entstehen des Zweiten Weltkrieges ist von dem Bündnis zwischen NSDAP und den Reichen (Monopolkapital) nicht zu trennen.“
Aus: „Warum ich Marxist bin“, 1979
„Der erste regelmäßige Gang in die Kirche von Berlin-Schlachtensee oder in die Universitätskirche ließ nach [1961, Zeit des Mauerbaus; Anm. von mir]. Von Mutter, Vater und Brüdern getrennt worden zu sein, nicht mehr über eine familiäre oder gemeinschaftliche Bindung zu verfügen, wird dabei zentral gewesen sein. Die Bindung war gerissen, der neue gesellschaftliche und persönliche Standpunkt mußte erst wirklich noch gefunden werden.“
Aus: „Warum ich Marxist bin“, 1979
„Gaus: Sind Sie nach wie vor ein Christ?
Dutschke: Was heißt Christ? Heute sind Christen und Marxisten in diesen entscheidenden Grundfragen, in diesen geradezu emanzipatorischen Interessen – Friede, und es gibt noch andere – da sind wir uns einig. Wir kämpfen für gemeinsame Ziele. Der Pater in Kolumbien, der an der Spitze der Guerillos steht und mit der Waffe in der Hand kämpft, ist ein Christ! Und der revolutioäre Marxist anderswo ist auch ein...
Gaus: Welche Rolle spielt aber für Sie das Transzendente?
Dutschke: Ja, für mich war Gottesfrage nie eine Frage. Für mich war immer die entscheidende schon realgeschichtliche Frage: Was hatte Jesus da eigentlich getrieben? Wie wollte er seine Gesellschaft verändern und welche Mittel benutzte er? Das war für mich immer schon die entscheidende Frage. Die Frage der Transzendenz ist für mich auch 'ne realgeschichtliche Frage, wie ist die bestehende Gesellschaft zu transzendieren, einen neuen Entwurf zu machen einer zukünftigen Gesellschaft, das ist vielleicht materialistische Transzendenz.“
Aus einem ARD-Fernseh-Interview „Rudi Dutschke zu Protokoll“, 3. Dezember 1967
Zitations-Quelle: Rudi Dutschke: Mein langer Marsch. Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren. Hg. v. Gretchen Dutschke-Klotz, Helmut Gollwitzer und Jürgen Miermeister. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 29 ff.