Erste Lagebeurteilung:
Zunächst muß man sich vergegenwärtigen, daß der Umsturz in der Ukraine Ende letzten Jahres ein von außen gesteuerter Putsch war, bei dem man sich den Riß, der das Land in zwei Blöcke teilt, zunutze gemacht hat. Die Vorbereitung, Steuerung und Finanzierung des Putschs erfolgte durch das Geflecht an Instituten und Stiftungen des György Soros und durch den US-amerikanischen Geheimdienst selbst.
Die Spaltung der ukrainischen Bevölkerung läßt sich paradigmatisch an der jeweiligen Ausrichtung auf der weltpolitischen Bühne festmachen: Die eine Hälfte orientiert sich am „Westen“, an (West- und Mittel-)Europa und den USA, die andere an Rußland. Die westliche Ausrichtung findet sich im Westen und Norden und überwiegend im Zentrum, die östliche im Süden und Osten.
Vor allem in den östlichen Gebieten konzentriert sich die Wirtschaftskraft des Landes, während der Westen arm ist, dazu aber um so nationalistischer – verbreitet extrem nationalistisch –, wobei bisweilen schon das Zentrum, immer der Süden und Osten neben Rußland das Feindbild darstellt.
Um die Entwicklung kurz und vergröbert zu skizzieren, kann man wohl sagen, daß unter Krawtschuk – der ersten Präsidentschaft der neugewonnenen Unabhängigkeit – die Westorientierung überwog, wobei zugleich durch wilde, korrupte „Privatisierung“ eine kleine Schicht extrem reicher Oligarchen entstand.
Die Präsidentschaft des Krawtschuk-Nachfolgers Kutschma, eines Technokraten aus Dnjepropetrowsk, versuchte einige Auswüchse der Korruption zu bändigen, arrangierte sich aber bald auch mit einer Reihe von Oligarchen. International verfolgte Kutschma eher eine Politik der Balance zwischen West- und Ostorientierung. Wichtig für die weitere Entwicklung wurde, daß der westlich orientierte ehemalige Zentralbankpräsident und zwischenzeitliche Ministerpräsident, der Finanztechnokrat Juschtschenko, von der Macht entfernt wurde; ebenso die unter Krawtschuk reich gewordene zwischenzeitliche Ministerin Julia Timoschenko.
In der letzten Phase der Präsidentschaft Kutschma begann die Rußland-Orientierung allmählich etwas die Oberhand zu gewinnen, vor allem wegen des wirtschaftlichen Aufstiegs der Donezker Gruppe um den Tataren Rinat Achmetow (den einzigen Nichtjuden übrigens aus der ersten Garde der „Oligarchen“). Daher stammte auch Juschtschenkos Gegenkandidat im Präsidentschaftswahlkampf, Viktor Janukowitsch. Die Balance-Politik der Dnjepropetrowsker Gruppe um Kutschma und Viktor Pintschuk hatte keinen eigenen Kandidaten.
So erklärt sich die massive Intervention des Westens anläßlich dieser Wahlen. Es ging um die Verhinderung einer sich verstärkt an Rußland anlehnenden Regierung und um die Installierung eines „westlichen“ Régimes, sowohl im Interesse der internationalen Finanz als auch aus strategischen Gründen (künftiges Vorschieben der NATO an der Südflanke Rußlands, Isolierung und perspektivisch Beseitigung der Schwarzmeerflotte).
Dazu machte man sich alle Tendenzen und Kräfte in der Ukraine, die dem Zweck dienen konnten, zunutze. Die verbreitete Unzufriedenheit mit wirtschaftlicher Lage und verbreiteter Korruption allein genügten nicht, denn in der Süd- und Ostukraine sind einem die „eigenen“ Bosse allemal noch lieber als die (nicht minder korrupten) Sapadenzy („Westler“).
Wie man für die Öffentlichkeit (vor allem im Westen) die „Revolution in Orange“ inszeniert hat, will ich hier nicht nochmals ausbreiten. Vor allem mußte man auch die Kräfte sammeln, welche die neue Regierung tragen sollten. Das wurde ein reichlich heterogenes Gemisch.
Zunächst fiel schon auf, daß Kutschma und die Dnjepropetrowsker Gruppe sich in der entscheidenden Phase sehr zurückhielten und keineswegs Janukowitsch und die Donezker voll unterstützten. Vielmehr ließ man die Sache laufen. Zahlreiche Abgeordnete der Werchowna Rada (des Parlaments) wechselten die Seiten.
Die Juschtschenko-Wahlplattform war aber auch selbst schon bunt gemischt. Neben den Finanztechnokraten wie dem (nicht von ungefähr in zweiter Ehe mit einer Amerikanerin verheirateten) Viktor Juschtschenko waren auch „oligarchische“ Interessen vertreten, vor allem durch Juschtschenkos Sicherheitsratschef Petro Poroschenko. Dann die Demagogin Julia Timoschenko, die als Ex-Gasprinzessin vor allem von Rachegelüsten gegen die Dnjepropetrowsker Gruppe getrieben wird, aus welcher sie ursprünglich selber stammt. Schließlich der ganze westukrainische Nationalismus, an dessen Spitze sie sich stellte, sich als blondbezopft-arische Ukrainerin stilisierend (obgleich ihr Vater Armenier, ihr Mutter Jüdin war).
Nun sind gegensätzliche Interessen aufeinandergeprallt, weil Frau Timoschenko, geborene Grigjan, bei ihren „Reprivatisierungen“ (Rückverstaatlichung und neue Privatisierung) schärfer vorging als vielen – besonders Poroschenko – lieb war, vor allem aber auch dabei sehr einseitig ihre verhaßten Todfeinde der Dnjepropetrowsker Gruppe um Pintschuk ins Auge faßte.
Wegen der „Reprivatisierung“ eines zu Pintschuks Konglomerat gehörenden metallurgischen Werks in Nikopol kam es nun zum offenen Bruch innerhalb der Regierung, die Juschtschenko darum komplett entließ und durch eine Technokraten-Regierung ersetzte – nicht ohne telephonisch den Herrn und Meister, George Bush, telephonisch zu versichern, daß alles weiterhin den vorgesehenen Westweg nehme.
Übrigens versuchte Julia Timoschenko ihre Pfründe noch zu sichern, indem sie noch in der Nacht nach ihrer Entlassung Abgesandte zum amerikanischen Botschafter in Kiew entsandte. Dies scheint zunächst nicht erfolgreich gewesen zu sein, denn am nächsten Morgen war auch ihr Nachfolger Jechanurow an selber Stelle, wohl um – im Sinne von Juschtschenkos Telephonat mit Bush – entsprechende Zusicherungen zu geben.
Juschtschenko wird künftig aber entweder neue Unterstützer benötigen oder sich mit Frau Timoschenko wieder arrangieren müssen. Vorerst scheint mir offen zu sein, ob es ihm gelingen wird, eine eindeutige Westorientierung beizubehalten, oder ob er doch zu einer Art Balancepolitik à la Kutschma wird zurückkehren müssen. Die Karten werden derzeit neu gemischt, und wer die Trümpfe hält, ist schwer erkennbar – nicht zuletzt, weil zahlreiche Falschspieler am Tische sitzen.