Robert Ketelhohn hat geschrieben:Halten zu Gnaden, Frau von Storch, aber ich muß widersprechen. Die Aussage, mit welcher der Artikel anhebt, »Mitte des 17. Jahrhundert« hätten »Polen und Russen« die Ukraine »unter sich« geteilt, ist vollkommen ahistorisch. Es gab damals keine „Ukraine“.
Zentrale Gebiete des heutigen ukrainischen Staats mit Kiew als Mittelpunkt sind (neben und nach Nowgorod im heutigen Rußland) die eigentliche Wiege des ostslawischen Reichs der Rus, dessen Blüte mit seiner „Taufe“ 988 einen starken Aufschwung nahm.
Die durch Erbfolgeregelungen bedingte Zersplitterung im 12. Jht. ermöglichte die mongolische Invasion im 13. Jht., durch welche die Teilfürstentümer der Goldenen Horde untertan und tributpflichtig wurden. Die Führungsrolle innerhalb der Rus ging von Kiew zunächst an Wladimir-Susdal, später an Moskau über.
Im 14. Jht. traten Tatarenchanate (Kasan, Krim) die Nachfolge der zerfallenden Goldenen Horde an. Im Westen eignete sich Litauen weite Gebiete an (zunächst im wesentlichen, was heute Weißrußland ist, dann weit über Kiew hinaus ausgreifend, ohne jedoch dort dauerhaft seine Herrschaft festigen zu können). Im Norden verselbständigten und konsolidierten sich allmählich die dortigen Teilfürstentümer der Rus, ausgehend von Wladimir-Susdal, dessen Führungsrolle dann von Moskau übernommen wurde, nachdem der Metropolit der russischen Kirche seinen Sitz von Wladimir nach Moskau verlegt hatte.
Ab dieser Zeit bildeten sich allmählich die drei Zweige des ostslawischen Volkstums heraus, welche man hernach „Großrussen“, „Kleinrussen“ und „Weißrussen“ nennen sollte. Weite Teile des nachmaligen „Kleinrußland“ blieben jedoch zunächst mehr oder weniger herrschaftsfreies Gebiet: von Kiew nach Süden bis nahe ans Schwarze Meer und nach Osten weit in die dortigen Steppen hinein.
Die Tataren des Krimchanats errichteten keine wirkliche, dauerhafte Herrschaft nach Norden hin, sondern unternahmen vor allem immer wieder Raubzüge, die eine bäuerliche Siedlung erschwerten. Begünstigt durch die Unterwerfung des Tatarenchanats von Kasan im Nordosten durch Moskau (Iwan IV. den Schrecklichen) konnten sich in jenen mehr oder weniger herrschaftsfreien Räumen zwischen dem inzwischen mit Polen vereinten Litauen, dem Moskauer Großrußland, der tatarischen Schwarzmeerküste und der östlichen Steppe die Kosaken als Ordnungsmacht und Verteidiger der lokalen Bevölkerung etablieren: die Saporoger Kosaken im Gebiet der heutigen östlichen Ukraine, die Donkosaken weiter im Osten (heute Rußland), von wo aus sie Hauptträger der russischen Eroberung und Erschließung sowohl Sibiriens als auch des Kaukasus wurden.
Im polnisch-litauischen Herrschaftsbereich kam es immer wieder zu Aufständen gegen die Unterdrückung der orthodoxen kleinrussischen Bevölkerung durch die polnische Krone und polnische Magnaten, bis 1654 die Erhebung der Saporoger Kosaken unter dem Hetman Bogdan Chmelnitzkij das linksufrige Kleinrußland (östlich des Dnjepr) mit Kiew, Tschernigow, Sumy und Poltawa dauerhaft zum Nachfolgestaat der alten Rus zurückkehren ließ, dem Moskauer Zarentum.
Im Zuge der „Polnischen Teilungen“ unter Preußen, Österreich und Rußland Ende des 18. Jht.s fielen neben Litauen und Weißrußland auch Wolhynien und Podolien (also das rechtsufrige Kleinrußland) an das Großrussische Reich der Zaren, womit das Gebiet der alten Rus weitgehend wieder vereint war; lediglich Galizien kam zu Österreich und blieb damit außerhalb.
Im Lauf des 19. Jht.s kam es, wie überall in Europa, auch in den kleinrussischen Gebieten Rußlands sowie in Galizien zu einem „nationalen Erwachen“, es begann eine eigene Litteratur in kleinrussischer Mundart zu entstehen, man erfand seitens der Nationalisten für die theoretisch eigene, neu erfundene Nation und ihre Sprache den Begriff „ukrainisch“ und „Ukraine“, was historisch eigentlich „Grenzland, Mark“ bedeutet und eher unbestimmt auf verschiedene Gebiete angewandt worden war, hauptsächlich auf die Grenzregionen hin zum „Wilden Feld“, den südlichen und weiten östlichen Tatarengebieten. Zur Bezeichnung eines Volkstums ist das Wort weder passend noch schön; aber es ging wohl darum, jeden Bezug auf Rußland (und die alte Rus) zu tilgen.
Wie auch immer, die Nationalisten waren längst keine Mehrheit. Es waren erst die Bedingungen des I. Weltkriegs und der Oktoberrevolution, welche im Jahr 1918 für einige Monate eine sich als unabhängig bezeichnende „Ukraine“ unter dem nationalistischen Großherrn Skoropadskyj ermöglichte. Dieses Staatsgebilde war jedoch faktisch nichts als eine Satrapie der deutschen Armee und wurde – unter gewaltsamer Unterdrückung des widerwilligen Volks – nur durch diese kurzfristig am Leben erhalten.
Ihre Grenzen waren einigermaßen zufällig und hauptsächlich von der militärischen Situation diktiert, unabhängig von Volkstum und Sprache. In groben Zügen haben die damaligen Grenzen aber diejenigen der nachmaligen „Ukrainischen SSR“ innerhalb der UdSSR bestimmt, was jedoch faktisch nicht von großem Belang war, weil das föderative Prinzip in der UdSSR nur Schein war und man gemeinsam in einem russisch geprägtem Staatsverband lebte, wie zuvor im Zarenreich.
So war es auch für die Gegenden an der Schwarzmeerküste samt der Krim – die niemals zu Kleinrußland zählten, sondern, erst ab Ende des 18. Jth.s von den Tataren zurückgewonnen, „Neurußland“ hießen und überwiegend von Großrußland aus besiedelt worden waren, namentlich in den Städten – kein Problem, zur Ukrainischen SSR zu gehören, lebte man doch letztlich gemeinsam in Gesamtrußland. Ein Problem war lediglich das von Stalin im II. Weltkrieg von Polen wieder abgetrennte und der Sowjetunion angeschlossene Galizien mit seinem ausgeprägten „ukrainischen“ Nationalismus, welcher, zunächst gegen Österreich und dann gegen das Polentum erwachsen, sich nun in aller Schärfe gegen alles Russische wandte.
Hinsichtlich des Volkstums sind aber die Grenzen sowohl innerhalb der heutigen „Ukraine“ als auch von der Ukraine nach Großrußland und Weißrußland fließend. Das alteingesessene Volk ist in Belgorod dasselbe wie in Charkow, in Donjezk dasselbe wie in Rostow am Don.
Wenn einer in Donjezk offiziell als „ethnischer Ukrainer“ gilt, sein Nachbar aber als „ethnischer Russe“ – bzw. sie sich bei der letzten Volkszählung so deklariert haben –, dann hat das Gründe wie etwa den, daß vom einen schon die Großeltern im Raum Donjezk ansässig waren, die des andern aber zum Beispiel während der Sowjetzeit aus dem Rostower Gebiet zugezogen sind. „Ethnisch“ sind beide Familien völlig identisch, bloß stammt die eine von jenseits der heutigen, damals nicht existenten Grenze.
Anders sieht es natürlich aus, wenn der Zugezogene meinetwegen aus Wladimir stammt oder Sankt Petersburg. Das ist wie ein Hamburger oder Hannoveraner in Bayern. Und der Großrusse aus Nischnij Nowgorod in Schitomir ist wie vielleicht ein Münchner in Nimwegen. Damit soll gesagt sein, daß die Zahlen über Ethnien, jedenfalls soweit sie Groß-, Weiß- und Kleinrussen in der heutigen „Ukraine“ betreffen, „ethnisch“ wenig bedeuten, ebenso wie die Grenzen zu den Nachbarstaaten, namentlich zu Großrußland, historisch-zufällig sind und nicht „ethnisch“ bedingt.
Eine „ethnisch saubere“ Trennung ist auch an keiner Grenze möglich. Das wäre das alte Elend der aus dem Nationalismus des 19. Jht.s überall geborenen „ethnischen“ Trennungen und anschließenden „Säuberungen“, die vor allem im 20. Jht. unsägliches Elend über Europa gebracht haben.
Es wäre darum bei weitem das Beste und Natürlichste gewesen, wären auch nach 1991 Groß-, Weiß- und Kleinrußland in einem gemeinsamen Staat beisammen geblieben (und auch, ergänze ich, der Transkaukasus und Kasachstan). Nachdem das Unglück damals aber nun einmal geschehen ist, läßt es sich ohne größere Verwerfungen und Kriegsgefahr nicht revidieren. Wenigstens aber sollte man allseits einsehen, daß die drei „Rußländer“ ihrer Herkunft, Geschichte, Sprache und Kultur nach, aber auch hinsichtlich ihrer heutigen ethnischen Wirklichkeit und wirtschaftlichen Verflechtung aufs engste zusammengehören und miteinander eine primäre Staatengemeinschaft bilden sollten.
Eins dieser „Rußländer“ da herauszubrechen, würde die ganze Gemeinschaft der Erben der alten Rus verletzen und allen Gliedern Schaden zufügen, zuallererst aber träfe dies den herausgebrochenen Teil selbst ins Mark und raubte ihm seine Wurzeln und seine Identität.