Weil Dan Diner kein Unbekannter ist und weil er gerade kein notorischer Islamiphobiker wie Raddatz und kein offenkundiger Rassist wie Daniel Pipes ist. Diner steht vielmehr für einen neu-alten Typus von Wissenschaftler und sein Buch steht für einen stärker werdenden Trend in der deutschen Wissenschaftslandschaft.
Der Trend ist der Orientalismus, der bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr wie früher aus den kleinen Regionalwissenschaften erwächst (eine Ausnahme wäre z.B. Tilman Nagel), sondern immer stärker aus den großen Fächern wie eben der Geschichtswissenschaft erwächst. Von Seite derjenige, welche die Orientalismusdebatte in den vergangene Jahrzehnten geführt hatten, wurde bislang zu dieser Entwicklung geschwiegen, weil sich hier eben Wissenschaftler äusserten, denen die Materie fremd war (und ist), die eben keine Expertise in Religion, Geschichte oder Sprache der Region hatten. Auch dieses Schweigen hat die Ausbreitung des Orientalismus gefördert.
Auch zu Diners aktuellem Werk sind bislang wenig kritische Stimmen zu vernehmen. Ein erster Versuch der Einordnung kommt aus der Schweiz, vom langjährigen NZZ-Nahost-Korrespondeten Arnold Hottinger. Seiner Einschätzung von Diners Orientalismus will ich mich anschließen:
Diner ist also Orientalist, auch wenn er nicht einfach platt vom Orientalen bzw. dem Araber an sich schreibt.In diesem Bereich steht das Buch dem von Dan Diner selbst klug angesprochenen «Orientalismus» - im kritischen Sinne des Begriffs - nahe. Er nennt diesen Begriff «eine Übertreibung». Sein eigenes Buch ergreift und definiert in durchaus «orientalistischer» Art eine «Essenz», die in seiner ausgesprochen eurozentrischen Sicht die heutige islamische und besonders die arabische Welt bestimme. Diese «Essenz» ist durch ihre Gegensätzlichkeit zu jener «des Westens» (des Motors der Entwicklung aufgrund der Trennung von Religion und säkularer Welt) umschrieben. Wenn sie, die Unterentwickelten, werden wollen wie wir, die Entwickelten, müssen sie nachholen, was wir, die Entwickelten, ihnen vorleben, ist eine Botschaft von Diners Buch.
Die neue Qualität von Diners Argumentation ist, dass sie genaue Vorschriften für das Objekt ihres Orientalismus beinhalten. Diners Feststellung eines Entwicklungsunterschiedes, verbunden mit der alleinigen Verortung der Gründe hierfür bei den kulturellen Eigneheiten der Anderen (hier: die Araber) geht allerdings über reinen Orientalismus hinaus. Er bewegt sich vielmehr im Fahrwasser von C. H. Becker (Der Islam als Problem), dem Mitbegründer der deutschen Kolonialwissenschaften. Der Ansatz von Diner, den Arabern die eigene Sprache auszutreiben sind also keineswegs neu. Diese Vorstellung war eine treibende Kraft der Kulturpolitik des französischen Kolonialismus in Nordafrika. Die Verteufelung und die Negierung der kulturellen Identität der Kolonialisierten war immer ein wesentlicher Bestandteil des Kolonialismus.
Das ideologische Umfeld von Diner ist also deutlich. In einem Rückblick auf Diner´s Versiegelte Zeit wird man einst urteilen, dass dieses Buch die Wiederbelebung der deutschen Kolonialwissenschaften markierte.
Die Essays beschreiben die auffällige Resistenz der islamischen Welt gegen die Modernisierung, besonders schlagend anhand der verspäteten Einführung des Buchdrucks; erst 1822 wurde in Bulaq bei Kairo die erste Druckerei dauerhaft installiert. Allerdings ist das nun auch schon bald zwei Jahrhunderte her, und man fragt sich, ob denn nicht seitdem einiges geschehen ist. Nur am Anfang erwähnt Diner das Trauma der kolonialen Erfahrungen kurz; die Ursachen sucht und findet er tiefer und früher. Er verweist zu Recht auf das Fehlen dessen, was der Westen als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet. Dass sich in den arabischen Städten eine zivile Selbstverwaltung und eine auf Selbstverantwortung beruhende Autorität der Bürger nicht entwickelt haben, mag man in der Tat an dem Schrumpfen des öffentlichen Raumes ablesen. Auch die Rolle der Militärkasten, die sich im 9. Jahrhundert gebildet und die muslimischen Gesellschaften bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dominiert haben, wird angesprochen. Beides wären Ansatzpunkte für eine historische Analyse, bei der allerdings auch die vielerorts fortbestehenden tribalen Strukturen mit ihrem System von Patronage und Klientel berücksichtigt werden müssen.
Stattdessen aber macht Diner als letzte Ursache der Stagnation das Sakrale aus, das angeblich alles imprägniert und versiegelt: Es setze sich in den Poren der Schrift und Hochsprache fest, es durchdringe die Ökonomie und die Politik; die Wirkung des Sakralen im Orient ist absolut. Diner dämonisiert das Sakrale geradezu.
Im dritten Essay macht Diner die arabische Sprache und Schrift als besondere Hemmnisse aus; das Sakrale versiegele die Sprache und verhindere ihre Entwicklung zu einem modernen Kommunikationsmittel. Diese fragwürdige These stützt sich auf dubiose Belege; die Behauptung, in der islamischen Welt gebe es einen Generalverdacht gegen das Schreiben, ein Tabu der bleibenden Verschriftlichung, gar ein Schreibverbot aus Furcht, es könne ein neuer Koran geschrieben werden, ist maßlos überzogen. verwundert fragt man sich, wie bei diesem angeblichen Horror vor dem Niedergeschriebenen die großen Bibliotheken von Bagdad, Kairo oder Córdoba oder die heute noch nach Hunderttausenden zählenden arabischen Handschriftenbestände entstehen konnten. Und dass der Koran bis heute nicht mit beweglichen Schrifttypen gedruckt, sondern entweder lithografisch oder fotomechanisch vervielfältigt werde, stimmt einfach nicht.
Auch der arabischen Hochsprache schreibt Diner eine hemmende Wirkung zu; angeblich erschwere sie wegen ihrer Kompliziertheit die Entwicklung zur Moderne. Wie die Schrift sei sie religiös versiegelt; ihr religiöses Prestige verhindere, dass sie durch die - nicht verschriftlichte - Volks- und Umgangssprache ersetzt werde. Aber es gibt nicht nur eine arabische Umgangssprache, sondern mehr als ein Dutzend; zudem ist die moderne Hochsprache viel biegsamer, als Diner annimmt; sie ist gegenüber der klassischen Arabiyya bereits stark vereinfacht und im Wortschatz modernisiert. Das Arabisch der Zeitungen, des Radios und des Fernsehens hat sich längst auch die Computer erobert; wie wenig sakral sein Gebrauch ist, zeigt ein Blick in eine beliebige arabische Tageszeitung mit ihren Sportberichten, Kleinanzeigen und Witzen.
Die Annahme, dass nur ein einziges Prinzip, und zwar ein so abstraktes wie das Sakrale, die Geschichte der Länder von Marokko bis Indonesien seit fast anderthalb Jahrtausenden bestimme, ist doch zweifelhaft. Der Einfluss der Religion ist sicher stark, doch Autoren muslimischer Herkunft wie Navid Kermani warnen immer wieder davor, die Menschen Nordafrikas und des Nahen Ostens ausschließlich als Muslime wahrzunehmen und all ihr Tun und Trachten auf Religiöses und Sakrales zu reduzieren; gerade das aber ist Diners Perspektive. Die Macht und der Einfluss der Religion in der islamischen Welt werden von westlichen Beobachtern allzu häufig als allmächtig eingeschätzt; dadurch wird der Blick auf all die anderen sozialen, ökonomischen und politischen Wirkkräfte der Geschichte, die ganz diesseitiger Natur sind, nur verstellt.