Gesundheit statt Gottheit
Verfasst: Montag 15. März 2004, 14:27
Auszug aus einem Artikel in der Welt vom 25.10.2003 von Manfred Lütz
Gesundheit ist Kult. Wer behauptet, dass hier zu Lande die Religion verdunste, der irrt. Alle Üblichkeiten der Religion sind inzwischen im Gesundheitswesen wieder zu finden.
Krankenhäuser, das sind die Kathedralen des 20. Jahrhunderts und an den Wegekreuzen, wo früher Kapellen die Christen zum Gebet einluden, stehen heute Fitnessstudios, die die Menschen zu den persönlichen Riten der Gesundheitsreligion drängen. Im Jahr 2000 hat erstmals die Zahl der Mitglieder von Fitnessstudios die der sonntäglichen Messbesucher in Deutschland übertroffen. Diätbewegungen gehen wie wellenförmige Massenbewegungen über Land, in ihrem asketischen Ernst die Büßer- und Geißlerbewegungen des Mittelalters bei weitem übertreffend. Kein mittelalterlicher Beichtvater hätte dem bekennenden Sünder Bußwerke auferlegt, wie sie heute jeder Hausarzt ohne mit der Wimper zu zucken seinem Patienten verschreibt. Das sind Vorschriften im Stil verschärfter Ordensregeln. Und der Patient nimmt sie demütig auf, jeden Misserfolg nicht einem Mangel der ärztlichen Weisung, sondern der eigenen Inkonsequenz zurechnend.
„… denn das höchste Gut ist doch die Gesundheit“, dieser Satz darf inzwischen auf keiner Geburtstagsfeier jenseits der 65 fehlen. Selbst der Herr Pfarrer klatscht da Beifall, das gehört sich so. Dabei ist, näher besehen, dieser Satz barer Unsinn. Und er hat katastrophale Folgen.
Niemals war in der gesamten geistigen Tradition des Westens und des Ostens ein so zerbrechlicher Zustand wie die Gesundheit der Güter höchstes. Nähme man einen solchen rituellen Satz nur für einen Moment ernst, würde das zum sofortigen finanziellen Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen. Denn dann wären maximale Diagnostik und maximale Therapie für jeden Einzelnen absolute Pflicht. Das wäre aber schon heute völlig unbezahlbar, wie jeder Kenner der Lage sehr gut weiß. Nur sagen darf man das nicht. Zumindest nicht als Politiker. Sonst braucht man sich die Mühe mit dem Wahlkampf gar nicht mehr zu machen. Denn auf dem Gebiet der Gesundheit ist die Political Correctness unerbittlich. Schließlich ist die Gesundheit die einzige satirefreie Zone in unserer Gesellschaft. Während jeder heute hemmungslos über Jesus Christus albern darf, hört bei der Gesundheit der Spaß auf.
Die totale Macht der Gesundheit hat aber noch eine weitere bedrohliche Folge. Wir erleben zurzeit die Zerstörung des abendländischen Menschenbilds, das davon ausging, jeder Mensch sei gleich wertvoll und besitze die gleiche Würde. Behinderte oder dauerhaft nicht gesunde Menschen gelten in unserer Gesundheitsgesellschaft bereits als Menschen zweiter Klasse. Und der alte medizinische Grundsatz „Wer heilt, hat Recht“ wird heute lebensgefährlich. Um Menschen gesund zu machen, plädiert man unter dem Begriff „Ethik des Heilens“ für die Tötung von Embryonen. Wer dagegen aufbegehrt, gilt als zynisch. Die so verstandene „Ethik des Heilens“ ist der Fundamentalismus der Gesundheitsreligion.
Freilich ist die Weise, wie die Gesundheitsreligion das Leben nimmt, nicht immer so drastisch. Sie tut das zumeist erheblich netter. Viele Menschen kommen gar nicht mehr zum eigentlichen Leben, weil sie nur noch vorbeugend leben. Fit for Fun heißt die Parole. Doch für den Spaß, für den man sich fit macht, haben dann die meisten gar keine Zeit mehr.
Daher muss man der Tyrannei der neuen Religion endlich die Stirn bieten, um wirklicher Lust am Leben wieder Platz zu schaffen – vielleicht schon dadurch, dass man sich weigert, die strengen Sprachregeln in diesem Bereich weiter zu beachten, und dadurch, dass man die Absurditäten des Gesundheitstrubels zwischen Realsatire und Horrorszenario beim Namen nennt.
Gesundheit ist Kult. Wer behauptet, dass hier zu Lande die Religion verdunste, der irrt. Alle Üblichkeiten der Religion sind inzwischen im Gesundheitswesen wieder zu finden.
Krankenhäuser, das sind die Kathedralen des 20. Jahrhunderts und an den Wegekreuzen, wo früher Kapellen die Christen zum Gebet einluden, stehen heute Fitnessstudios, die die Menschen zu den persönlichen Riten der Gesundheitsreligion drängen. Im Jahr 2000 hat erstmals die Zahl der Mitglieder von Fitnessstudios die der sonntäglichen Messbesucher in Deutschland übertroffen. Diätbewegungen gehen wie wellenförmige Massenbewegungen über Land, in ihrem asketischen Ernst die Büßer- und Geißlerbewegungen des Mittelalters bei weitem übertreffend. Kein mittelalterlicher Beichtvater hätte dem bekennenden Sünder Bußwerke auferlegt, wie sie heute jeder Hausarzt ohne mit der Wimper zu zucken seinem Patienten verschreibt. Das sind Vorschriften im Stil verschärfter Ordensregeln. Und der Patient nimmt sie demütig auf, jeden Misserfolg nicht einem Mangel der ärztlichen Weisung, sondern der eigenen Inkonsequenz zurechnend.
„… denn das höchste Gut ist doch die Gesundheit“, dieser Satz darf inzwischen auf keiner Geburtstagsfeier jenseits der 65 fehlen. Selbst der Herr Pfarrer klatscht da Beifall, das gehört sich so. Dabei ist, näher besehen, dieser Satz barer Unsinn. Und er hat katastrophale Folgen.
Niemals war in der gesamten geistigen Tradition des Westens und des Ostens ein so zerbrechlicher Zustand wie die Gesundheit der Güter höchstes. Nähme man einen solchen rituellen Satz nur für einen Moment ernst, würde das zum sofortigen finanziellen Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen. Denn dann wären maximale Diagnostik und maximale Therapie für jeden Einzelnen absolute Pflicht. Das wäre aber schon heute völlig unbezahlbar, wie jeder Kenner der Lage sehr gut weiß. Nur sagen darf man das nicht. Zumindest nicht als Politiker. Sonst braucht man sich die Mühe mit dem Wahlkampf gar nicht mehr zu machen. Denn auf dem Gebiet der Gesundheit ist die Political Correctness unerbittlich. Schließlich ist die Gesundheit die einzige satirefreie Zone in unserer Gesellschaft. Während jeder heute hemmungslos über Jesus Christus albern darf, hört bei der Gesundheit der Spaß auf.
Die totale Macht der Gesundheit hat aber noch eine weitere bedrohliche Folge. Wir erleben zurzeit die Zerstörung des abendländischen Menschenbilds, das davon ausging, jeder Mensch sei gleich wertvoll und besitze die gleiche Würde. Behinderte oder dauerhaft nicht gesunde Menschen gelten in unserer Gesundheitsgesellschaft bereits als Menschen zweiter Klasse. Und der alte medizinische Grundsatz „Wer heilt, hat Recht“ wird heute lebensgefährlich. Um Menschen gesund zu machen, plädiert man unter dem Begriff „Ethik des Heilens“ für die Tötung von Embryonen. Wer dagegen aufbegehrt, gilt als zynisch. Die so verstandene „Ethik des Heilens“ ist der Fundamentalismus der Gesundheitsreligion.
Freilich ist die Weise, wie die Gesundheitsreligion das Leben nimmt, nicht immer so drastisch. Sie tut das zumeist erheblich netter. Viele Menschen kommen gar nicht mehr zum eigentlichen Leben, weil sie nur noch vorbeugend leben. Fit for Fun heißt die Parole. Doch für den Spaß, für den man sich fit macht, haben dann die meisten gar keine Zeit mehr.
Daher muss man der Tyrannei der neuen Religion endlich die Stirn bieten, um wirklicher Lust am Leben wieder Platz zu schaffen – vielleicht schon dadurch, dass man sich weigert, die strengen Sprachregeln in diesem Bereich weiter zu beachten, und dadurch, dass man die Absurditäten des Gesundheitstrubels zwischen Realsatire und Horrorszenario beim Namen nennt.