Diakon Andrej Kuraew hat geschrieben:"Die Religion Israels ist relativ spät auf der Arena der Weltgeschichte erschienen. Die Menschheit hatte mehr als ein Jahrtausend Kulturgeschichte hinter sich. Die ägyptischen Pyramiden standen schon. Die sumerischen Legenden waren schon geschrieben. Auf Kreta war das Labyrhinth bereits gebaut. In den verschiedensten Völkern wurden verschiedene Varianten der Legende erzählt, daß Gott gestürzt und/oder getötet worden ist. Seine Stelle nahmen inzwischen die jetzigen "Herren des Himmels" ein: die "Baale" ("Baalim", vgl. z.B. Ri. 2,11; 3,7 u.a.). Die Verwandten der Hebräer, die Bewohner Kanaans, glaubten so; der Höchste Gott (der von ihnen El genannt wurde; daher "Allah" bei den Moslems und El, Eloah, Elohim als Namen Gottes in der Bibel) sei von seinem Urenkel Baal gestürzt worden. Ähnliches glaubten die Griechen; die Welt wurde in ihren Vorstellungen vom Usurpator Zeus beherrscht, der seinen Vater Kronos entmachtet hatte. Im Sumer wurde geglaubt, daß ihr derzeitiger Gott - Marduk - an die Macht kam, nachdem er die Urmutter Tiamat getötet hatte...
Die Menschen dienten Geistern, und die Religion war untrennbar mit Magie und Zauberei verbunden. Das lag nicht nur am schwachen menschlichen Wesen. Jene Geister, die unter so verschiedenen Namen angerufen wurden, waren hinreichend real. Sie konnten den Menschen eine gewisse Hilfe gewähren, aber unter der Bedingung, daß sich die Anbetung durch die Menschen auf sie beschränkt und nicht Gott sucht.
Mit einem Wort - die Menschheit hatte zur Zeit Mose schon eine sehr lange, und nicht allzu erfolgreiche religiöse Geschichte hinter sich. Das, was mit Moses passierte, ist nicht zu verstehen, wenn man ihn lediglich aus unserer Zeit und mit unseren Maßstäben betrachtet. Wenn die Sonne strahlt, scheint einem ein kleines Lichtchen unnötig, es macht eher Ruß als Licht. Aber stellen wir uns vor, daß die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Dann finden sich gute Worte auch über ein kleines Licht.
Die Brutalitäten des Alten Testaments scheinen erschreckend. Aber ... wenn wir darüber so empfinden, dann heißt das, es hat uns letzten Endes doch zu dem Ziel geführt, dessentwegen es einst gegeben wurde. Die Welt ist tatsächlich besser geworden. Das moralische Empfinden hat sich verfeinert. Wir sind inzwischen fähig, uns über das, was in früheren Zeiten als selbstverständlich galt, zu empören.
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Ein ganz und gar nicht heller Hintergrund existiert beim Auftauchen Israels und umgibt es im Verlaufe seiner Wanderungen. Die Welt ist von Heidentum und Tod befallen. Da bauen die Menschen den babylonischen Turm. Wozu? Nicht dazu, um zu den Füßen Gottes niederzufallen, sondern dazu, sich vor dem Himmel und den anderen Menschen mit den Errungenschaften ihrer "wegweisenden Technologie" zu brüsten und "sich einen Namen" zu machen.
Darin liegt das Problem: wenn Gott verloren wurde, ist es dem Menschen unmöglich, Ihn wiederzufinden. Wie es einst der hl. Johannes Chrysostomos ausdrückte - wie kann der Mensch das wiederherstellen, was Gott Selbst zerstört hat? Wenn Gott Sein Gesicht abgewendet hat, kann der Mensch in keiner Weise "drumrumlaufen", um Ihm wieder in die Augen zu schauen. (...)
Zurück zur Ausgangssituation für die ganze Geschichte Israels. Gott wurde einsam auf der Welt. "Es ist kein Mensch auf Erden, der Gutes tue..." (Ekkl. 7:20). Die Strahlung der Sünde und des Todes hat nach einer Reihe von ersten Katastrophen (von den Ereignissen im Garten Eden bis zum Turmbau zu Babel) die ganze Erde erfaßt.
Stellen wir uns vor, auf der Erde hat ein Atomkrieg stattgefunden. Eine gewisse Anzahl Menschen hat überlebt. Aber sie befanden sich nun in einer Welt, in der nicht einmal Bunker sie vor dem Tod schützen können. Die ganze Erde, das Wasser, die Luft sind von der tödlichen Strahlung durchdrungen. Es gibt eine einzige Chance, wenigstens einer Handvoll Menschen aus zukünftigen Generationen Sicherheit zu geben: während des Kriegs war eine Raumstation im Orbit, auf der man Experimente zum Pflanzenwuchs in der Schwerelosigkeit durchführte. Da sie sich im Orbit befand, haben die Stürme des Atomkriegs sie nicht behelligt. Auf dieser Raumstation, und nur dort gibt es gesundes Saatgut, eine Handvoll unverseuchte Erde und einen Tank mit sauberem Wasser. Und diese Raumstation wird auf die Erde geholt, damit man diese nun schon unikalen Ressourcen nutze. Wenn man die Samen, die sich auf ihr befinden, einfach nur verteilt, würde das niemandem helfen.
Die Regierung, die die verbliebene Menschheit führt, entscheidet sich für harte Maßnahmen: es wird ein kleines Grundstück ausgewählt, von dem die obere, verseuchte Erdschicht abgetragen wird. Die zutagegetretenen Schichten werden mit Feuer ausgebrannt und durchgeglüht, damit keine einzige Spore eines mutierten Gewächses auf dieser Oberfläche bleibe.
Auf dieses gesäuberte Grundstück wird die gesunde Erde von der Raumstation geschichtet. Das gesunde Saatgut von ebendaher wird dort ausgesät, und sparsam mit unverstrahltem Wasser gegossen. Und an den Begrenzungen des Grundstücks wird eine Wache aufgestellt, damit keiner von den Menschen oder Tieren diesen einmaligen Anbau zertreten könne. Damit nicht einmal der Blütenstaub von Mutanten oder radioaktiver Staub hereindringt, wird das Grundstück mit einer durchsichtigen Kuppel überdacht.
Trotzdem dringt durchs Grundwasser, durch Risse in der Kuppel, durch eintretende Menschen, Hintergrundstrahlung von benachbarten Grundstücken die Radioaktivität selbst hier hinein. Die Pflanzen sind weniger krank als in nichtgereinigten Bereichen, aber trotzdem auch krank. Auch hier tauchen hin und wieder mutierte Pflanzen auf. Und wenn der eine oder andere Trieb so aussieht, als würde er diese krankhaften Mutationen zeigen, schneidet der Gärtner ihn ohne Gnade ab und verbrennt die vertrockneten oder mutierten Halme und Zweige. Die erste Ernte wird nicht unter den Menschen verteilt. Sie wird vollständig wieder angepflanzt (denkt daran, wie der Gärtner Robinson Crusoe seinen Garten bestellte). Manche verhungern - aber auch ihnen wird keine Handvoll der wertvollen Körner gegeben. Und das läuft so viele Generationen lang, bis, letztlich, ein Saatgut entstanden ist, das so resistent gegen die Strahlung ist, daß man daraus ein Gegenmittel gewinnen kann und alle Pflanzen zu heilen vermöge - sowohl unter der Kuppel, als auch außerhalb - auf der ganzen Erde. Letzlich hat unter den vielen Tausend Trieben ein Zweigchen die Frucht gebracht, wegen welcher diese seltsame Art Gärtnerei angelegt wurde. Diese Frucht kann man aus dem Bereich der Versuchskuppel heraustragen und allen denen geben, die sie wünschen, damit bei ihnen, die schon seit Generationen krank sind, eine neue, diesmal eine gutartige, Mutation stattfinde.
Analog zu diesem Szenario sind auch die Grausamkeiten in der Geschichte Israels nicht so sehr durch die Grausamkeit des Volkes von Israel und seines Gottes bedingt, als durch die Einmaligkeit Jener Gabe, Die durch Israel in die Welt treten sollte. Damit die "neue Generation Israels nicht Pepsi-Cola wählt", wird um Israel herum eine Wand der Isolation aufgebaut. Jeder Mensch und jedes Volk trägt das Heidentum in sich. Wenn man dem religiösen Gefühl des Menschen freien Lauf läßt, schafft es sich genau das Heidentum, eine angenehme Religion des Verkehrs mit Geistern. Wenn es dazu noch eine äußere Einwirkung gibt, die von der heidnischen Kultur und dem Alltag ausgeht, wird das gänzlich unvermeidlich. Also wird eine strenge Quarantäne verordnet.
Und das alles, damit auf dem Baum Jesse ein einziger Zweig entstünde, ein einziger Trieb. Damit es auf der Erde eine Seele von solcher Reinheit gäbe, solch einer Offenheit vor Gott, daß, wenn Sie sagt: "Siehe, ich bin des HERRN Magd; mir geschehe, wie Du gesagt hast", in Ihr das Wort Gottes menschlichen Leib annehmen könne. Auf der Erde entsteht jenes Himmlische Brot, das man nunmehr schon allen Menschen, allen Epochen verteilen kann.
Das ist der fundamentale Unterschied zwischen dem christlichen Verständnis der Geschichte Israels und dem jüdischen. Vom Standtpunkt der Christen hat die Geschichte Israels ein Ziel. Das ist ein schwerer, aber notwendiger Weg, der eines Tages zu Ende sein wird. Und das, was am Ende dieses Weges erworben werden sollte, wird nicht nur Israel und nicht nur um Israel willen gegeben werden. Durch Israel wird es allen und um aller Menschen willen gegeben werden. Das bedeutet - Israel tötet die Heiden nicht für das Glück seiner eigenen Nachkommen, sondern ebenso für das Heil der Nachkommen derer, die ihm und seiner Mission jetzt noch entgegenstehen.
Das Christentum achtet die historische Mission des Volkes Israel weit höher als Israel selbst. Nicht um seiner selbst willen existiert Israel, sondern um der ganzen Menschheit willen. Jenes Maß an Nähe zu Gott, das es hat, wurde ihm nicht dafür gegeben, es für immer von den anderen Völkern abzuheben, sondern dafür, daß die besonderen Privilegien Israels einmal allen Menschen zuteil würden."