Maurus hat geschrieben:Russland hat diese Länder überfallen. Teilweise sogar mehrfach. In den 90ern war es freilich ein anderes Russland, aber die Staaten waren offenbar skeptisch, ob dies immer so sein werde. Jetzt wissen sie (oder meinen es zumindest), dass sie Recht hatten.
Der Wunsch der Ostmitteleuropäischen Staaten zum "Westen" hatte und hat zunächst primär ökonomische Gründe, wobei die (wesentlich einfacher zu erlangende) Nato-Mitgliedschaft nur als Durchgangsstation zur finanziell lukrativeren EU-Mitgliedschaft gesehen wurde. Man sollte solche Dinge einfach offen benennen, um die nötige Klarheit zu schaffen. Vor den letzten EU-Wahlen in Polen hatten die Parteien Werbespots aufgelegt, die die Frage, wer "Brüssel mehr Geld aus dem Hintern leiert" zum Gegenstand hatten. Wer polnisch kann, wird hier auf youtube fündig.
Daneben war natürlich auch eine Abwendung vom alten System relevant, die ich mittlerweile aber nicht mehr 1 zu 1 als Abwendung von Russland beschreiben würde. Anlässlich der aktuellen Krise wird hier auch eine interessante Zweiteilung deutlich. Während Tschechien, die Slowakei und Ungarn möglichst überhaupt keine Sanktionen gegen Russland wollen, kann es den baltischen Staaten und Polen nicht hart genug zugehen.
Interessant wird es, wenn man dieser Zweiteilung auf den Grund geht. Die ehem. Habsburgerstaaten hatten mit dem zaristischen Russland gar keine Berührungspunkte, außer allenfalls positive im Rahmen des Panslawinismus. Negative Erfahrungen kamen mit der Blockbildung nach dem zweiten Weltkrieg hinzu, diese scheinen aktuell aber gerade keine Rolle zu spielen.
Die Abneigung der baltischen Staaten und Polens gegenüber Russland hingegen wurzelt im 19. Jahrhundert und der Zugehörigkeit dieser Länder bzw. Teilen von ihnen zum zaristischen Russland. Konkret rührt sie aus den Russifizierungskampagnen des späten 19. Jahrhunderts. Allerdings hat diese Abneigung ganz handfeste zeitgenössische Gründe. Bei den Balten sind es die nach wie vor nicht gelösten Minderheitenprobleme mit v.a. den russischsprachigen Minderheiten. Wie man dort mit Minderheiten umspringt, wäre das mal eine echte Aufgabe für linksliberale deutsche Integrationsfunktionäre. Ich meine hier i.ü. nicht nur die russischsprache Minderheit sondern beispielshalber in Litauen auch die polnische, die extrem schlecht behandelt wird.
Polens Aversionen sind wiederum teilweise kaum rational zu beurteilen. Vielmehr scheint die gesellschaftliche Situation einen definitiven äußeren Feind zu erfordern, weil sich sonst die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der herrschenden Kaste anders entladen würde. Schließlich haben seit dem EU-Beitritt Polens weder die nationalkonservative noch die liberalkonservative Regierung einen nachhaltigen und breitenwirksamen Wirtschaftsaufschwung zu Stande gebracht, vielmehr sind seither Millionen Polen gen Westen emigriert oder es arbeitet wenigstens der Ernährer im Ausland. Da sich Deutschland trotz klassischer Dispositionen nicht wirklich als Feind anbietet, weil es gut zahlt (s.o.), bleibt nur Russland.