Eine kurzgefaßte Begriffsgeschichte.
Ich hatte gerade anderswo Veranlassung zu einigen Erläuterungen über Sinn und Geschichte des bekannten, aber oft wenig verstandenen Begriffs vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation«. Vielleicht interessieren sie noch jemanden, der sie dort nicht finden wird: Darum seien sie auch hier noch einmal placiert.
- Natürlich war »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« niemals ein gleichsam „amtlicher“ Name desjenigen Staates, der auch heute noch immer wieder so bezeichnet wird.
- Das so genannte Staatsgebilde war auch nie ein „Nationalstaat“ im modernen Sinne.
- Die Verwendung der genannten Bezeichnung als terminus technicus und gleichsam offizieller Name des alten Reichs ist in der Tat eine Erfindung des 19. Jht. s (von wenigen früheren Vorläufern wie Pufendorf im 17. Jht. abgesehen). Am Anfang steht wohl Karl Friedrich Eichhorn mit seiner »Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte« im Jahre 1812, nach dem Ende des alten Reichs und mitten im „nationalen Erwachen“ im Zuge der Befreiungskriege zur Abwehr Napoleons. Eichhorn interpretierte die Formel so, daß die Herrschaft der deutschen Nation über das Römische Reich gemeint sei.
Der vermeintliche Reichsname verbreitete sich, im Zuge der Zeit liegend, rasant, bis hin zum Anbringen eines entsprechenden Schriftzugs an der Decke des Frankfurter Kaisersaals 1843.
In der notorischen Sybel-Ficker-Kontroverse um 1860 war die Bezeichnung von beiden Seiten akzeptiert und vorausgesetzt, auch wenn Sybel die deutsche Nation betonte und das „Römische“ für einen schädlichen Irrweg hielt, während Ficker gerade darin, in der Übernahme des Römischen Reichs, die Sendung der Deutschen erfüllt und ihr tausendjährig segensreiches Wirken begründet sah.
Das eher großpreußische denn der deutschen Nation entsprechende Bismarckreich konnte, alle Anachronismen vom Tisch und Österreich hinausfegend, daran anknüpfen und sich als „Zweites Reich“ definieren, im Sinne Sybels oder Treitschkes vom Römertum befreit.
- Vor Annäherung an den historischen Ort der Formel vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« ist der lateinische Schlüsselbegriff natio zu klären.
Oft zitiert wird die Behauptung von Wikipedia: »Das lateinische Wort natio bedeutete bis ins 18. Jahrhundert nicht „Volk“, sondern bezeichnete den „Ort der Geburt“ (im Gegensatz zu gens = Sippe, Stamm, Volk).« – Wiewohl dieser Satz sich im Internet vielfach kopiert findet und sogar bis in gedruckte vermeintliche Fachlitteratur vorgedrungen ist (z. B. Markus Osterrieder, Welt im Umbruch, Stuttgart 2014), stellt er hanebüchenen Unsinn dar.
Was also heißt natio -onis f?- Die Grundbedeutung ist diejenige eines nomen actionis zu nascor – „werde geboren“, also: „das Geborenwerden, die Geburt“ (wie actio zu ago, laudatio zu laudo etc.).
- In weiterem Sinn – zum nomen qualitatis geworden – bezeichnet natio eine Qualität, die sich von der Geburt herleitet oder in ihr gründet, so etwa: „Art“, „Rasse“, „Geschlecht“, „Herkunft“, „Geburtsstand“.
- Im nächsten Schritt der Bedeutungsentwicklung – zum nomen concretum geworden – bezeichnet natio (Menschen-)Gruppen, die sich durch eine gemeinsame Eigenschaft nach b. auszeichnen, insbesondere durch gemeinsame Geburtsherkunft: „Volk“, „Stamm“, „Nation“; in übertragenem Sinn, oft ironisch, kann die Bedeutung auch sein: „Sippschaft“, „Schar“, „Klasse“, „Menschenschlag“ etc.
- Von c. leitet sich die Sonderbedeutung des Plurals nationes – „Heiden“ als Lehnübersetzung des hebräischen „Gojim“ ab, gleichbedeutend und austauschbar mit gentes und pagani.
- Ebenfalls von c. abgeleitet ist die Bezeichnung der landsmannschaftlichen Körperschaften, in welche die Universitäten sich gliederten, als nationes, also natio – „Landsmannschaft (als universitäre Körperschaft)“.
- Nach dem Vorbild von e. gliederten sich im Zeitalter des Konziliarismus auch die Konzilsteilnehmer in nationes, also natio – „Landsmannschaft (als konziliare Interessengemeinschaft)“.
Eine Bedeutung „Herkunftsort“ oder „Ort der Geburt“ gibt es nicht, natio bezeichnet niemals einen Ort; wohl aber – siehe oben b. – die Herkunft aus einem Ort, einem Land oder dergleichen. Dann ist es aber eben doch ein nomen qualitatis, kein concretum. Beispiel: natio Alexandrina bedeutet „alexandrinische Herkunft“ (Eigenschaft), eine natio Alexandrinorum ist das „Volk der Alexandriner“ (kollektives concretum). In keinem Fall kann die Stadt Alexandrien selbst gemeint sein.
- Was meint nun „Nation“ in der Rede vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation«? – Sprachlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist eine Qualität gemeint – das Reich wäre angesprochen als „von deutscher Art“ oder „deutscher Nationalität“ –, oder es ist konkret die deutsche Nation gemeint, das Volk: dann wäre das Reich bezeichnet als von den Deutschen beherrscht oder innegehabt. Um diese Frage zu entscheiden, müssen wir die Formel vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« an ihrem historischen Ort aufsuchen.
- Als Otto I. der Große 962 zu Rom die Kaiserkrönung empfing, war das von Karl dem Großen begründete westliche Kaisertum seit dem Tode Berengars von Friaul im Jahre 924 verwaist. Ward das „Römische“ Reich nun durch Ottos Krönung nach 38jährigem Interregnum wiedererweckt? – Der Sache nach eigentlich wohl, möchte man erwidern, im kaiserlichen Kanzleigebrauch und in den Urkunden Ottos spiegelt sich dies jedoch nicht wider.
Otto führt zwar durchaus den Titel imperator, aber ohne das Attribut Romanorum. An das Römische Reich (oder gar eine „Romidee“) ist zunächst ganz offensichtlich nicht gedacht. Doch weshalb dann „Imperator“? – Es geht um die Superiorität eines Kaisers, wie wir imperator auf deutsch zu übersetzen gewohnt sind, gegenüber den Königen dieser Welt. Solche Superiorität beanspruchte Otto bereits, indem er sich mit seiner eigenen Königswahl 936 zu Aachen – anders als noch sein Vater Heinrich – demonstrativ in die Tradition Karls des Großen stellte, und er besaß sie faktisch spätestens, seit er im Jahre 951 zur ostfränkisch-deutschen Königskrone auch diejenige des italienischen Langobardenreichs übernommen hatte, erst recht nach dem epochalen Sieg über die Ungarn 955 auf dem Lechfeld. Die Krönung in Rom 962 und die Annahme des Kaisertitels gaben der gewonnenen tatsächlichen Superiorität auch formal Ausdruck und bestätigten sie.
- Unter Otto II., Sohn und Nachfolger Ottos des Großen, erscheint vereinzelt zum Kaisertitel bereits der Zusatz Romanorum, doch erst dessen Sohn Otto III. zeichnet seit seiner Kaiserkrönung 996 konsequent als imperator Romanorum, im Sinn seines universalen Anspruchs und seines Programms einer renovatio imperii Romanorum, womit er ausdrücklich an Karl den Großen anknüpfte, diesen aber, inspiriert von seinem Lehrer Gerbert von Aurillac (Silvester II.) und seiner griechischen Mutter Theophanu und anders als sein Großvater, nicht als primär fränkischen, sondern als römischen Kaiser verstehend.
- Ottos III. Maxime der renovatio imperii Romanorum ziert seit 998 die Bullen seiner Kaiserurkunden. Im Text der Urkunden fehlt sie jedoch ganz, erst recht unter seinem Nachfolger Heinrich II. dem Heiligen, welcher bekanntlich erst einmal wieder auf renovatio regni statt imperii setzte. Wir müssen uns jedoch vergegenwärtigen, daß imperium Romanorum ganz anderes bedeutet als jener Reichsname des imperium Romanum, wonach wir hier eigentlich forschen. Denn mit imperium Romanorum ist zunächst kein Staatsgebilde gemeint, sondern das „Kaisertum der Römer“ an sich, als Institution, als Herrschaftsform. Zur Bezeichnung des Staats konnte man den Begriff des Imperiums zeitgenössisch noch nicht verwenden. Anders gesagt: Es gab im Selbstverständnis der Zeit kein „Kaiserreich“ (Imperium) als Staat, das eines Namens bedurft hätte.
- Die regna dagegen, deren reges die Kaiser waren, trugen durchaus Staatscharakter und wurden so gesehen. Gelegentlich taucht im einen oder andern Fall sogar die Bezeichnung res publica auf. Zu beachten ist aber, daß es ein „deutsches“ Reich – um welches es uns ja (in seiner Verbindung mit dem römischen) geht – in den Augen der Zeitgenossen noch gar nicht gab. Die Begriffe theotiscus (vorübergehend gebrauchtes Lehnwort aus ahd. diotisk – „volkssprachlich, deutsch“) und t(h)eutonicus (gelehrte Neubildung in Anlehnung an die alten Teutonen mit der Bedeutung „deutsch“) bezeichneten Sprache und Leute, aber noch längst keinen Staat. Die regna, welche die ottonischen Kaiser innehatten, waren das regnum Francorum orientalium (Ostfrankenreich) und das regnum Langobardorum (Langobardenreich). Hinzu kam 1033 mit der Übernahme auch der burgundischen Königskrone durch den Salier Konrad II. das regnum Burgundionum, womit die Trias der drei unter der Kaiserkrone vereinten regna komplett war, welche das Reich die nächsten Jahrhunderte prägen sollte.
- Der Anstoß zu Änderungen im Selbstverständnis und in der Begrifflichkeit kam nun aus Italien. Es war die Italienische Kanzlei Konrads II., die in den 1030er Jahren begann, in Kaiserurkunden vereinzelt vom imperium Romanum (statt Romanorum) im Sinne eines Staatswesens zu reden, was auch dadurch bestätigt wird, daß sie bisweilen mit gleicher Bedeutung den Begriff einer Romana res publica verwendete.
Weshalb aber gerade Italien? – Ausgangspunkt sind die Ambitionen oberitalienischer Adelsgruppierungen. Wenige Wochen nach dem Tode Ottos III. im Jahre 1002 ließ sich Markgraf Arduin von Ivrea in Pavia zum rex Italiæ krönen. Zwar war dies Unternehmen nicht erfolgreich, Arduin mußte bald vor dem anrückenden Heinrich II. klein beigeben, der schließlich 1004 in Pavia zum rex Langobardorum gekrönt wurde (womit er zugleich die Landesbezeichnung Italia für sein italienisches Königtum abwies). Aber zwei Jahrzehnte später, nach Heinrichs II. Tode 1024, versuchte erneut eine oberitalienische Adelsfaktion, selbst über das regnum Italiæ oder Italicum (man blieb bei dieser Bezeichnung, ohne Erwähnung der Langobarden im Reichsnamen) zu verfügen. Man sandte eine Delegation an Wilhelm V. von Aquitanien (nachdem der als erster kontaktierte Robert von Frankreich abgelehnt hatte) und bot ihm das italienische Königtum samt römischer Kaiserwürde an. Wilhelm lehnte für sich ab, akzeptierte aber nach einigem Zögern für seinen Sohn. Die Delegation sicherte eidlich zu, dem Aquitanen die italienische Krone zu „gewähren“ und nach Kräften sich zu bemühen, ihm die Kaiserwürde zu „erwerben“.
Auffällig ist in den Berichten von diesen Vorgängen die Verwendung des Begriffs imperium Romanum statt, wie bis dahin üblich, Romanorum. Gleichwohl ist das imperium hier weiterhin als Kaisertum verstanden, nicht etwa als das Reich selbst in einem staatlichen Sinne, zugleich aber als nicht an das Reich des „deutschen“ Königs gebunden (der Begriff rex Teutonicus wird in Italien, analog zu Italicus, inoffiziell immer gebräuchlicher, wenn auch im gerade geschilderten Zusammenhang in den Quellen nicht benutzt).
Trotz umfangreicher diplomatischer Aktivitäten Wilhelms von Aquitanien scheiterte dieser italienische Plan, vor allem an der mangelnden Unterstützung in Italien selbst. Insbesondere der Episkopat stand nahezu geschlossen auf seiten Konrads, aber auch die Grafen waren sich nicht einig. Ende 1025 zog Wilhelm, die Lage erkennend, die Bewerbung seines Sohnes zurück.
Die oben erwähnten begrifflichen Neuerungen der kaiserlichen Kanzlei für Italien, die aufs engste mit dem lombardischen Episkopat verbunden war, stellen sich somit als Reflex auf die Ambitionen italienischer Markgrafen mit ihren Weiterungen bis nach Frankreich dar: Es ging darum klarzustellen, daß weder Würde noch Reich des Kaisers (das imperium) noch seine einzelnen regna irgend zur Disposition stünden. Der von den lombardischen Markgrafen gebrauchte Begriff vom imperium Romanum wird aufgenommen, aber als nun Bezeichnung des Gesamtstaats, die zugehörigen regna umgreifend. Diese Verwendung des Imperiumsbegriffs wird im Verlauf des 11. Jht.s überall geläufig und bleibt dies bis zum Ende des Reichs, ja bis heute.
- Die zweite aus Italien herrührende Neuerung betrifft die Volks- und Sprachbezeichnung Teutonicus und ihr Eindringen in die offizielle Nomenklatur. Daß sie in erzählenden Quellen aus Italien im 11. Jht. immer häufiger zur Bezeichnung nicht nur der Sprache und ihrer Sprecher, sondern auch des ostfränkischen Reichs und Königs verwendet werden konnte, haben wir bereits angedeutet. Sie in offizielle Kanzleisprache zu übernehmen, war Sache des Reformpapsttums, insbesondere Gregors VII. ab 1070. Natürlich war das kein Zufall, sondern politisches Programm: genau jenes Programm, welches den Investiturstreit auslöste.
Daß Gregor Heinrich IV. konsequent als rex Teutonicorum zu bezeichnen beginnt, dient dem Zweck, ihn gleichsam zu einem König unter anderen zu machen, ihm die imperiale Würde und den Anspruch auf die (noch bevorstehende) Kaiserkrönung abzusprechen, vor allem aber – das ist die Motivation des Reformpapsttums –, den König in kirchlichen Dingen auf sein in Gregors Sicht eigentliches regnum Teutonicum zu verweisen und zu beschränken und ihn zumindest aus Italien und Burgund hinauszudrängen.
Bekanntermaßen endete der Investiturstreit, den wir hier nicht weiter verfolgen können, 1122 im Kompromiß des Wormser Konkordats. Für unsere Frage des Reichsnamens bleibt zu konstatieren, daß die Bezeichnung regnum Teutonicum oder Teutonicorum für das bisherige ostfränkische Reich von der kaiserlichen Seite akzeptiert wurde und sich in der Folge im allgemeinen Sprachgebrauch fest verankerte (wiewohl noch Otto von Freising eine Generation später beide Bezeichnungen nebeneinander gelten ließ, regnum Francorum orientalium und regnum Teutonicorum). Sie konnte durchaus auch weiterhin von Gegnern – etwa im Westfrankenreich oder in England – beschränkend oder pejorativ verwendet werden. Andererseits war die Einheit der drei regna, des deutschen, italienischen und burgundischen, unter dem römischen Kaisertum und innerhalb des Gesamtstaats des Römischen Reichs gewahrt und von der päpstlichen Seite im Grundsatz anerkannt.
- Die nächste Neuerung erfolgt während der Regierung Friedrichs I. Barbarossa. Dabei bleibt die kaiserliche Kanzlei zunächst auch unter dem ersten Stauferkaiser noch beim Brauch der Vorgänger: Bald wird ohne jeden Zusatz bloß vom imperium geredet, bald vom imperium Romanum. Dies ändert sich jedoch auffällig seit 1157, ein knappes Jahr, nachdem Rainald von Dassel, bald darauf auch Erzbischof von Köln, in die kaiserliche Kanzlei eingetreten war: Das Reich wird als sacrum („geheiligtes“) imperium tituliert, zunächst vereinzelt, nach einigen Jahren immer häufiger und schließlich ganz geläufig im Wechsel mit imperium Romanum. Die spätere „Vollform“ sacrum imperium Romanum erscheint noch nicht. Vielmehr dürfen wir sacrum als gewissermaßen synonym verstandene Ausdeutung des römischen Charakters des Reichs verstehen.
Daß wir hinter dieser Neuerung die Hand und den Geist Rainalds erkennen können und nicht bloß etwa zeitliche Koinzidenz, versteht sich. Es war Rainald, der maßgeblich die neue Politik Friedrichs prägte und umsetzte, das eigene, unmittelbar zu Gott stehende Recht des Kaisers zu betonen und zu urgieren, vorsorglich selbst da, wo es gar nicht direkt bestritten war, wie beim notorischen „Ereignis von Bisanz“ (Besançon), wo er, um die Großen des Reichs in Frontstellung gegen jegliche päpstliche Superioritätsansprüche zu bringen, eine wohl harmlos gemeinte Floskel des Papstes so übersetzte, als hätte der Papst seine Lehnshoheit über den Kaiser ausdrücken wollen.
Das Königs- und Kaisertum als solches hatte im Verständnis jener Zeit zwar ohnedies sakralen Charakter, die Königssalbung war eine liturgische Handlung, von namhaften Theologen sogar unter die Sakramente gerechnet. Friedrich Barbarossa ging aber unter Rainalds Ägide darüber hinaus, indem er das Reich selbst sakralisierte: nicht wegen eines gesalbten Königs – den hatten andere Reiche auch –, sondern weil es römisch war, war das Reich geheiligt.
- An dieser Stelle bedarf es einer Begründung, weshalb das imperium Romanum als heilig oder geheiligt angesehen werden konnte. Grundlage eines solchen Verständnisses ist natürlich nicht etwa besondere Heiligkeit oder Frömmigkeit seiner Träger oder seiner inneren Ordnung, sondern seine heilsgeschichtliche Funktion.
Ausgangspunkt dieser Vorstellung ist die damals geläufige Lehre von den vier die Geschichte bis zum Ende der Zeit bestimmenden Weltreichen, und zwar in der Gestalt, die Hieronymus ihr in seinem Daniel-Kommentar gegeben hatte. Der Prophet deutet bekanntlich im zweiten Kapitel den Traum des Königs Nabuchodonosor („Nebukadnezar“) vom vierteiligen Standbild auf tönernen Füßen auf vier aufeinanderfolgende Reiche. Hieronymus identifiziert diese Reiche als das babylonische, das medisch-persische, das griechisch-mazedonische und schließlich das römische, die Zerstörung des Standbilds aber als die letzten Dinge, das Aufkommen des Antichrists und dann die Errichtung der endgültigen Königsherrschaft Jesu Christi. Diese Deutung weist dem römischen Kaisertum eschatologische Funktion zu. Es muß bis zum Ende der Zeit fortdauern, es kann kein weiteres Großreich mehr entstehen, nach ihm folgen die Eschata.
Rund drei Generationen nach der programmatischen renovatio imperii Romanorum Ottos III., gegen Ende des 11. Jht.s, hatten die Historiker begonnen, die vorliegenden Geschichtsmodelle neu zu durchdenken und wendeten den bisher im wesentlichen von der Übertragung der Weltherrschaft von einem der vier genannten Reiche auf das nächste geltenden Begriff einer translatio imperii („Übertragung der Herrschaft“ oder „des Reiches“) nun innerhalb des letzten, des Römischen Reichs, an: Weil es nicht untergehen könne, sei es von einem Volk auf das nächste übertragen worden, von den Römern auf die Griechen (Byzanz), auf die Franken und schließlich auf die Sachsen, oder zusammenfassend auf die Deutschen (Teutonici). Es ist der „Aufhalter“ (Katechon) des Paulus (II Thess 2,6-7), der die Heraufkunft des Antichrists noch aufhält. Diese Geschichtsdeutung wurde in der Folgezeit so selbstverständlich, daß sie keiner besonderen Erklärung mehr bedurfte.
In den 1150er Jahren, in welchen wir uns in der chronologischen Untersuchung der Entwicklung gerade befinden, hatte Otto von Freising, der bedeutendste Historiker der Zeit, eben erst in seiner Chronik die translatio imperii als Deutungsmodell der Geschichte ausführlich dargestellt und begründet. Die daraus fließende eschatologische Rolle des Römischen Reichs war den Gebildeten also geläufig. Sie erlaubte die Sakralisierung des Reichs in der Begrifflichkeit ebenso, wie sie den von Friedrich und Rainald erhobenen politischen Anspruch untermauerte, welchen die Begriffe illustrierten.
- Es dauerte noch ein knappes Jahrhundert – bis 1254, unter Wilhelm von Holland –, daß aus dem Nebeneinander der Begriffe sacrum imperium und imperium Romanum die später als „eigentlicher“ Reichsname angesehene Vollform sacrum imperium Romanum entstand, die allmählich immer häufiger wurde, freilich ohne die weiter im Gebrauch bleibenden kürzeren Varianten je ganz zu ersetzen.
- In Kaiserurkunden deutscher Sprache, die seit Rudolf von Habsburg vereinzelt auftreten, wird seit Karl IV. (erstmals 1347) die Formel „heiliges Romisches rich“ gebraucht.
- Ein auf Deutschland bezogener Zusatz zum Reichsnamen erscheint erstmals 1442 unter Friedrich III., wo die Rede ist von »dem heiligen Romischen Reich und Dewtschen Landen« (in der sogenannten Reformation Friedrichs III. vom Frankfurter Reichstag). An anderer Stelle desselben Dokuments heißt es: »in dem heiligen Romischen reich und sonderlich in Deutschen landen«, woraus erhellt, daß hier erstens keine formelhafte Reichsbenennung gemeint ist und zweitens die „deutschen Lande“ als ein Teil des Reichs (neben andern) zu verstehen sind.
Ab den 1470er Jahren, noch unter Friedrich III., tritt in kaiserlichen Dokumenten, Urkunden, Reichsabschieden und dergleichen (nun viel in deutscher Sprache, aber auch noch auf Latein) neben den Begriff des Reichs erst vereinzelt, bis zur Jahrhundertwende immer öfter jener der „Teutschen Nation“: teils koordinierend („Reich und Nation“), teils attributiv („Reich der Nation“), wobei die Formulierung des Reichsbegriffs schwankt: „heiliges Reich“, „Romisches Reich“ oder einfach nur „Reich“.
- Was bedeutet hier nun die „Teutsche Nation“? – Die Frage stellt sich sowohl auf der lexikalischen wie auf der syntaktischen Ebene, was freilich aufs engste miteinander zusammenhängt. Lexikalisch ist beides möglich: deutsche Nationalität (Sprache, Herkunft etc.) oder deutsches Volk. Denn anders als bei der vieldiskutierten Frage nach der Ethnogenese der „Deutschen“ im sogenannten frühen bis hohen Mittelalter, ist das Bewußtsein von einer „deutschen Nation“ als deutschem Volk im 15. Jht. vielfach belegt und steht außer Frage. Hinzuweisen ist hier auch darauf, daß – ausgehend von den seit Ende des. 12. Jht.s bezeugten nationes als landmannschaftlichen Körperschaften an den Universitäten – sich im 15. Jahrhundert, der Epoche des Konziliarismus, die Teilnehmer der Konzilien in nationes als landsmannschaftliche Interessengruppen gliederten. Da war der Begriff der Nation sehr populär, und es ist auf den ersten Blick ohne weiteres möglich, ihn auch in Verbindung mit dem Reichsnamen im Sinn von „Volk“ oder „Staatsnation“ zu verstehen.
Also doch die „Teutsche Nation“ als Träger des Reichs, wie das 19. Jht. es wollte? – Dagegen spricht, daß man da den bestimmten Artikel erwartete: „der Teutschen Nation“. Ferner steht auch entgegen die Parallele zur etwas früheren Wendung, die das Reich mit „deutschen Landen“ verband. Da war ganz deutlich, daß eine Einschränkung gemeint war: „Deutsche Lande“ meinten das Reich, insofern es eben deutsch war, das war 1442 ganz ausdrücklich gesagt. Dasselbe ergibt nun auch die Untersuchung der Belege für „Teutsche Nation“ in Verbindung mit dem Reichsnamen: Oft erhellt aus dem Kontext klar, daß der Zusatz einschränkend gemeint ist. In andern Fällen ermöglicht der Kontext zwar keine eindeutige Entscheidung; aber es gibt umgekehrt keine Belege, welche eine Identifikation des „Reichs deutscher Nation“ mit dem Reich schlechthin zumindest nahelegten. Gemeint ist also stets das Reich insoweit, als es deutsch war, insbesondere ohne Reichsitalien und Burgund.
Damit ergibt sich, daß „Teutsche Nation“ als Attribut des Reichsnamens doch nicht ein „Staatsvolk“ meint, sondern eine Eigenart: deutscher Art, deutscher Sprache, deutscher Besiedlung – oder eben einfach deutsch. Aber nicht das ganze Römische Reich, sondern – das ist entscheidend – es war nur der deutsche Teil damit angesprochen.
- Die im 19. Jht. aufgegriffene Vollform „Heiliges Romisches Reich Teutscher Nation“ erscheint erstmals 1512 (Eingangsformel des Kölner Reichsabschiedes), dann erst wieder 1519 in der Wahlkapitulation Karls V., wo auch ganz deutlich ist, daß Karl Aufenthalt und Hofhaltung eben genau im deutschen Reichsteil zusichert. In fast allen kaiserlichen Wahlkapitulationen bis zum Ende des Reichs findet sich diese Formel, von Karl V. übernommen, wieder, bleibt insgesamt aber selten gegenüber den verschiedenen kürzeren Varianten (bei denen eines oder mehrere der Attribute fehlen).
Der Zusatz „teutscher Nation“ ist dabei nur in der ersten Hälfte des 16. Jht.s vorherrschend – was immerhin für diese Zeit ein gesteigertes Interesse an den Angelegenheiten speziell der „deutschen Lande“ zeigt –, dann geht seine Verwendung allmählich zurück und verschwindet nach der Wende zum 17. Jht. fast ganz.
- Damit haben wir die eingangs aufgestellten Postulate bestätigt. „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ war niemals der Name des alten Reichs – das bleibt ein Mißverständnis des 19. Jht.s –, vielmehr wurde diese Formulierung nur zeitweise und nur dazu gebraucht, einen Teil (den deutschen) des gesamten Römischen Reichs zu benennen. Und obschon man durchaus die Deutschen oder zuvor Franken als Träger des Reichs ansah – das ist der Sinn des Modells von der translatio imperii –, hatte die Rede vom „Römischen Reich Deutscher Nation“ zu keiner Zeit vor dem 19. Jht. je diesen Sinn.
- Dürfen wir nach all dem fragen, wie jenes „alte Reich“ denn nun wirklich „hieß“? – Die Frage selbst ist schon anachronistisch. Sie setzt rechtspositivistisches Denken samt geschriebener, im Wortlaut verbindlicher Verfassungsurkunden voraus. Gleichwohl hatten das Reich, seine Träger und Völker ein Verständnis davon, was dies Reich war, und konnten es entsprechend bezeichnen. Dies Selbstverständnis hat sich in einem über Jahrhunderte währenden Prozeß entwickelt, an dessen Ende Formulierungen standen, welche am besten und vollständigsten wiedergegeben sind mit der Bezeichnung: sacrum Romanum imperium oder Heiliges Römisches Reich.
Können wir also schon das Reich Ottos des Großen so nennen, oder gar dasjenige des großen Karl? – Auf deren je eigene Zeit bezogen, wäre das anachronistisch, wie wir gesehen haben. Vom Römischen Reich kann erst seit den salischen Kaisern geredet werden, die begriffliche Sakralisierung trat unter den Staufern hinzu. Dennoch war dies Reich immer derselbe Staat, dessen Kontinuität ohne Brüche, ohne Untergänge und Neugründungen über die Ottonen bis zu den Karolingern, ja sogar bis zu den merowingischen Frankenkönigen zurückreicht.
Was bleibt, ist das Desiderat einer neuen christlichen Geschichtsdeutung, nachdem die das vorige europäische Jahrtausend prägende Sinngebung mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. im Jahr 1806 Grundlage und Ziel verloren zu haben scheint, und endlich die Frage nach Ursprung, Sinn und Ziel der Geschichte des deutschen Volks, die seit eben jenem Jahre 1806 noch keine dauerhaft befriedigende Antwort gefunden hat.