Peregrin hat geschrieben:Wie bist Du das angegangen?
cantus planus hat geschrieben:Ich habe drei Jahre gekämpft, um meiner jetzigen Gemeinde das völlig unrhythmische Durchlatschen der Choräle abzugewöhnen. Jetzt zeigen sich die Früchte.
Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, eine Pfarrei in Wien zu übernehmen, in der sich jahrelang die Organisten im Monatstakt die Klinke in die Hand gegeben haben (das hätte mir eine Warnung sein sollen!) und es einige Monate vor mir keinen festen Organisten mehr gab.
Die Gemeinde war also beim Singen völlig verunsichert, hatte sich ihre eigenen Melodien zurechtgesungen und vor allem ein schier unglaublich langsames Tempo drauf.
Also habe ich erstmal das Tempo dezent angezogen und vor allem sehr deutlich artikuliert: präzises Vorspiel ohne viel Geschnörksel, klares Tempo, einfacher Kantionalsatz, keine Pausen statt Atemzeichen, oft hervorgehobener
cantus firmus auf einem anderen Manual etc.
Viele Lieder habe ich auch komplett neu vor der Messe einüben müssen. Für die gesamte Osterzeit stand eigentlich nur ein (ich wiederhole: ein!) Choral zur Verfügung.
Ebenso habe ich in vermeintlich bekannten Liedern schwierige Stellen angesprochen, vorgesungen und dann mit der Gemeinde geübt.
Zunächst hat es bei einigen älteren, die immer nur die Schubert-Messe singen wollten, einen gewaltigen Widerstand gegeben. Aber nach und nach haben sich die Leute daran gewöhnt und neue Freude am Singen gefunden.
Aber es war schon ein sehr mühsamer und langwieriger Prozess. Erst jetzt zeigt sich wirklich der Erfolg.
Peregrin hat geschrieben:Wie bist Du das angegangen?
cantus planus hat geschrieben: Auch ist es mir gelungen, antiphonales oder responsoriales Singen der Antwortgesänge einzuführen. Aber ich will nicht verschweigen, dass das unheimlich viele Nerven gekostet hat.
Das deckt sich im Prinzip mit dem, was ich oben schrieb. Bisher wurde immer nur die Strophe eines passenden Liedes gesungen. Zur Abwechslung machen wir das auch heute noch.
Ferner habe ich folgendes gemacht:
1. Wiedereinführung des Hallelujaverses. Ich singe den Hallelujaruf, Gemeinde wiederholt, ich singe den Vers, Gemeinde wiederholt das Halleluja.
2. Nach der Wiedereinführung der zweiten Sonntagslesung auf Wunsch des Pfarrers haben wir zunächst das gleiche Prinzip angewendet. Ich singe eine Antiphon vor (z.B.: Der Herr ist mein Hirte, er führt mich an Wasser des Lebens), die Gemeinde wiederholt. Dann singe ich einen Doppelvers aus einem passenden Psalm, die Gemeinde singt die Antiphon, dann wieder ein Vers, Gemeinde singt die Antiphon. etc. Wir verwenden meistens nur drei oder vier Doppelverse. Das ist bis heute das "normale" und einfachste Vorgehen.
3. Danach haben wir eingeführt, die Antiphon zu singen und die Psalmverse abwechselnd zu sprechen (linker Block, rechter Block oder Vorbeter, Gemeinde), damit die Leute das Prinzip verstehen.
4. Dann haben wir die Verse auf einer einzigen Tonhöhe rezitiert (Cantillation)
5. Nach alledem haben wir es dann mit den ganz einfachen Psalmtönen versucht. Diese Phase läuft noch. Die Gemeinde tut sich schwer, aus oben schon erwähnten Gründen. Es bedarf außerdem sehr viel liturgischer Bildungsarbeit, weil der Orden, der die Pfarrei bis vor einigen Jahren betreute, gelinde gesagt einen pastoralen und liturgischen Saustall hinterlassen hat. Hier ist unglaublich viel nachzuholen. Deshalb habe ich das alles auch nicht aus Privatinitiative gemacht, sondern es zuerst mit dem Pfarrer und den Kaplänen und dann mit dem Liturgieausschuss abgestimmt. Ohne Rückendeckung hätte ich es nicht bis hierher geschafft.
Außerdem habe ich, wie in einem anderen Strang schon erwähnt, einige gute Kantorinnen und eine tüchtige Schola. Wenn vorne (an den Stufen des Altares...) engagiert vorgesungen wird, fällt es den Leuten gleich viel leichter.
Wie gesagt: die Widerstände waren am Anfang unglaublich, und ich hatte viele Erlebnisse und Zusammenstöße, auf die ich gerne verzichtet hätte. Aber rückblickend muss ich sagen: es hat sich doch gelohnt. Gemeinde ist halt immer eine träge Masse. Ich habe mittlerweile aus anderen Gründen meine Kündigung eingereicht, und erstaunlicherweise hat das viele Gemeindemitglieder sehr getroffen, die mir am Anfang sehr skeptisch gegenüberstanden. Aber sie haben gemerkt, dass es nicht darum geht, den Gottesdienst zu komplizieren, sondern zu vertiefen. Und sie haben sicherlich gespürt, dass eine tiefe Überzeugung dahinter steht. Sonst hätte es sicherlich nicht geklappt.