Die „russische“ Liturgie ist die griechische, mal so am Rande. – Vielleicht sind an dieser Stelle einige weitergehende liturgiegeschichtliche Überlegungen angebracht. Die Liturgien, wie sie aus dem Altertum bis auf die Gegenwart gekommen sind, haben ihre Gestalt – vor allem hinsichtlich der Meßtexte – im wesentlichen in der Kirchenväterzeit gewonnen. Ähnlich wie die byzantinischen Liturgien ihre Namen vom heiligen Johannes Chrysostomus und vom heiligen Basilius dem Großen bekommen haben, kann man die überlieferte lateinische Liturgie mit dem Namen Sankt Gregors des Großen verbinden (ohne daß damit eine exakte Aussage über den persönlichen Anteil der genannten Kirchenväter getroffen sein soll).Schmitz-Backes hat geschrieben:»Im eigentlichen ist es so, dass alle Liturgien, bis auf die neue römische (beim erneuerten ambrosianischen weiß ich es nicht) sehr alt sind, sich auf die frühchristliche Messe zurück führen lassen, organisch aus dieser entstanden sind. Während die russische Liturgie meines Wissens nicht sonderlich alt ist (aus der grieschichen entstanden, wenn mich nicht alles täuscht), ist der armenische Ritus sehr alt, wie auch die Liturgie der indischen Thomaschristen und die mozarabische Liturgie (trotz Erneuerung). Sie haben alle eines gemeinsam mit der trid. Messe: Sie sind organisch aus der frühchristlichen Messe entstanden!«
Wiewohl diese Liturgien der Kirchenväterzeit nicht vom Himmel fielen, sondern auf ältere, gemeinsame Formen zurückgriffen, stehen sie doch für einen Wandel liturgischer Formen hin zu einer stärker kultorientierten Liturgie in Abkehr vom urkirchlichen, in ein rituelles Mahl („agape“ oder „homonoia“) eingebetteten Meßopfer.
Dieser Wandel hat sich in der Kirche zu unterschiedlichen Zeiten vollzogen: im Osten gewiß schon vor Konstantin begonnen, nach der Legalisierung des Christentums auf alle Metropolen des Reichs auch im Westen ausgedehnt, zur großen Kirchenväterzeit in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts allgemein durchgesetzt bis auf Restgebiete marcinischer Tradition, nämlich des Patriarchat Aquileja, wo der Wandel erst um die Wende zum fünften Jahrhundert erkennbar wird, und Ägypten, wo er sich teils bis ins sechste Jahrhundert hinzog.
Parallel änderte sich auch die Bußpraxis. Denn in derselben Zeit wurden bekanntlich die Möglichkeiten der Buße – also das Beichtsakrament zu empfangen – erheblich erweitert. Die Möglichkeit, nach einer schweren Sünde mit der Kirche versöhnt zu werden, war nicht länger auf ein oder zwei Male beschränkt, sondern bestand immer wieder neu – ein Akt der Barmherzigkeit, der es zugleich aber auch nötig machte, Regeln für den Ausschluß und die Versöhnung nach Kirchenbuße festzusetzen.
Wenn auch die Liturgie seit dieser Zeit in ihrem Grundbestand weitestgehend unverändert blieb, so hat sich an der Praxis der äußeren Formen doch im Lauf der Jahrhunderte noch vielerlei gewandelt. Eine interessante Frage etwa ist, wann denn der Übergang zur ausschließlichen Mundkommunion erfolgt sei. Mir selbst scheint sie, je öfter ich sie durchdenke, um so schwerer beantwortbar. Klar ist zunächst, daß zu der Zeit, als im Westen die Kommunion des Volks nur unter einer Gestalt, der des Brotes, sich allgemein durchgesetzt hatte – wovon wir um die Wende zum dreizehnten Jahrhundert ausgehen dürfen, nach einem anderthalb Jahrhunderte währenden Prozeß –, die Hostie nicht mehr mit der Hand aufgenommen wurde.
Andererseits ist die Aufnahme des eucharistischen Brots mit der Hand etwa fürs Frankenreich des späten sechsten und siebenten Jahrhunderts noch gut bezeugt, sowohl durch fragmentarisch überlieferte gallikanische Sakramentarien als auch durch erzählende Quellen, namentlich Gregor von Tours, sowie verschiedene Konzilsbeschlüsse. In Gallien im sechsten Jahrundert traten die Laien, Männer und Frauen, zur Kommunion ins Allerheiligste – die sancta sanctorum, die während des Hochgebets durch einen Vorhang verhängt waren – an den Altar. Die Männer hatten zuvor ihre Hände zu waschen, die Frauen bedeckten sie mit einem weißen Linnen.Im gotischen Spanien des siebenten Jahrhunderts traten die Laien nicht mehr in den Altarraum, doch nahmen sie die Hostie nach wie vor mit der Hand auf, um sie zum Mund zu führen.
Im neunten Jahrhundert sind zunächst zwei Neuerungen deutlich greifbar. Die eine ist der Übergang zum ungesäuerten Brot, der „Oblate“ oder „Hostie“, wie wir sie im wesentlichen bis heute kennen, im lateinischen Westen (was unabhängig hiervon die Armenier übrigens schon im sechsten Jahrhundert vollzogen hatten).
Die zweite Neuerung wird aus im Laufe des neunten Jahrhunderts unternommenen Versuchen deutlich, sie einzudämmen: Die Kommunion beider Gestalten durch die sogenannte intinctio panis – „Eintauchen des Brots“ in den konsekrierten Wein – oder auch durch Kelchkommunion, der Partikeln des konsekrierten Brotes beigemengt sind.
Letztgenanntes ist übrigens die im byzantinischen Ritus bis heute übliche Kommunionpraxis, wobei sie sich dort aber frühestens im zehnten Jahrhundert herausgebildet zu haben scheint (jedoch fehlen mir im Augenblick eindeutige Anhaltspunkte). Beide Formen schließen aber einen Empfang mit der Hand offensichtlich aus: Entweder wird die Hostie oder Partikel vom Leib Christi in den Kelch getaucht oder mit etwas vom Blut Christi beträufelt und vom Priester dem Kommunikanten direkt in den Mund gereicht, oder man kommuniziert vielleicht aus dem Kelch, eher aber wohl wie heute noch von einem Löffelchen, das beide Gestalten enthält.
Parallel zu den genannten Erscheinungen ist im achten und neunten Jahrhundert ein eklatanter Rückgang der Kommunionpraxis des Volks zu beobachten. Das wird mit der in dieser Zeit ausgearbeiteten Bußkasuistik zusammenhängen und konnte auch von den wiederholten entgegengesetzten Ermahnungen gerade der Reformbestrebungen nicht aufgehalten werden.
Auch dies mag zum Übergang zur ausschließlichen Mundkommunion beigetragen haben. Wie auch immer, es scheint sich eher um einen längeren Prozeß gehandelt zu haben, an dessen Ende die scholastisch-wissenschaftliche Durchdringung der Sakramententheologie und neu aufkommende Frömmigkeitsformen, namentlich die eucharistische Anbetung, den definitiven Ausschlag gegeben haben.
So viel für jetzt, sine ira et studio, bloß zur historischen Aufarbeitung.