Ich würde nun nicht sagen, dass Erkennen Denken sei, sondern dass Erkennen mit Denken einhergeht, denn nicht jedes Denken ist notwendigerweise auch Erkennen.Thomas vA (in summa theol., I-II, q109, a1) hat geschrieben:...
Denn das thatsächliche Erkennen nennt man Denken, (Aug. 14. de Trin.)
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Nun werden offenbar, ... alle Bewegungen überhaupt, sowohl die geistigen wie die körperlichen, auf Gott zurückgeführt, als auf den schlechthin und ohne weiteres Erstbewegenden. Wie weit auch immer eine Natur also, sei es eine körperliche oder geistige, vollkommen sei, sie kann nur unter der Voraussetzung, daß sie von seiten Gottes den Anstoß zur Bewegung erhält, in Thätigkeit treten; und zwar ist dieser Anstoß zur Bewegung gemäß der Richtschnur und dem Charakter seiner Vorsehung
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So nun hat die menschliche Vernunft eine gewisse maßgebende Erkenntnisform, nämlich das natürliche Vernunftlicht selber, das da von sich aus hinreicht, um Einiges zu erkennen, zu dessen Kenntnis man nämlich gelangen kann vermittelst der sinnlich wahrnehmbaren Dinge.
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Deshalb muß man sagen, zur Erkenntnis jeglicher Wahrheit bedürfe die Vernunft eines Beistandes von Gott, daß nämlich der Anstoß zur einzelnen vernünftigen Thätigkeit von Gott ausgehe. Jedoch bedarf sie nicht zur Kenntnis jeglicher Wahrheit eines neuen zum natürlichen hinzugefügten Lichtes, sondern nur da, wo das Bereich des Natürlichen überschritten wird.
Denken als geistige Bewegung muss durch einen Impuls initiiert werden. Da dieser Impuls abhängig entsteht gemäß Gottes Vorsehung, kann er also – wie es die Vorsehung ganz allgemein beinhaltet, mit Notwendigkeit aus einer konkreten Ursache oder nur unter bestimmten zusätzlichen Bedingungen aus einer konkreten Ursache entstehen.
Von Gott kommt also die Form des wahrnehmbaren Dinges, welches die Vernunft verarbeitet, als auch der Impuls zur Verarbeitung mittels der der Vernunft eigenen Erkenntnisform, des natürlichen „Vernunftlichtes“, welches ausreicht, um Wahres im Kontext der sinnlich wahrnehmbaren Dinge zu erkennen. Eine Gnade als zusätzliches Vernunftlicht zum Erkennen des Wahren in diesem Kontext benötigt der Mensch also nicht. Deshalb kann der Mensch auch ohne Gottes Gnade (im eigentlichen Sinne) Naturwissenschaft betreiben, weil diese auf dem Erkennen des Wahren im Kontext sinnlich wahrnehmbarer Dinge beruht.
Der den Kausalitäten der Vorsehung gehorchende Impuls scheint demnach zu beinhalten: Aufmerksamkeit bzgl. eines konkreten Objektes, Interesse an diesem Objekt, Fokusierung auf das Objekt, woraus das primäre Erkennen des Objektes als 'dies oder jenes' und dann ggf. das sekundäre Erkennen infolge eines nachfolgenden "Nachdenkens über" ggf. unter fortlaufender Beobachtung resultieren.
Nun sind mit dem Erkennen also nicht nur die Identifizierung eines Objektes, sondern ggf. auch das Erkennen der Eigenschaften des Objektes, das Erkennen der Abhängigkeiten des Objektes in einem ganz konkreten setting und also zunehmend Erkenntnisformen involviert, welche als solche gar nicht mehr auf sinnlicher Wahrnehmung beruhen, sondern auf gedanklichen Abstraktionen, die sich - ausgehend von dem sinnlich wahrnehmbaren Objekt und seines settings - per rekursiver Abstraktion immer "höher schrauben" können bis sie schließlich in metaphysischen Gefilden ankommen, die doch gar nichts mehr mit den sinnlich wahrnehmbaren Objekten zu tun haben. Wenn dies alles dem "natürlichen Vernunftlicht" unterliegt, welches der eigentlichen Gnade Gottes nicht bedarf, dann kommt über die Vorsehung eine ganze Menge von Konditionalitäten ins Spiel, welche dafür verantwortlich ist, dass unterschiedliche Menschen beim Nachdenken über sinnlich wahrnehmbare Dinge zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen, weshalb Thomas schreiben kann:
So muss also nicht nur der Impuls zum Nachdenken, sondern auch die Art und Weise wie über etwas nachgedacht wird, Ergebnis dieser Vorsehung sein, welches kausal ggf. mit einer Unzahl vorhergehender Denkprozesse verbunden ist. Jeder dieser Denkprozesse hätte auch in eine andere Richtung gehen können, wodurch das Ergebnis eines aktuellen Denkprozesses, das aktuelle Erkennen also, ein anderes hätte sein können. Wenn aber nicht bei jedem, oder den entscheidenden der vorhergehenden Denkprozesse, potentiell immer wieder die Möglichkeit bestanden hätte, in eine "gute" Richtung zu denken, so dass die Voraussetzungen geschaffen werden, die Existenz der ersten Wahrheit nachfolgend zu erkennen, dann wäre der, der die erste Wahrheit nicht erkennt oder sogar negiert, nicht wirklich dafür verantwortlich. Nur wenn eine allgemeine, aber dennoch "eigentliche" göttliche Gnade bei allen im Rahmen der Vorsehung kausal relevanten Denkprozessen, - angeboten wird, welche die natürliche Vernunft in die "gute" Richtung leiten könnte, diese Gnade aber vom Selbst-Willen zurückgewiesen wird, kann demjenigen, der die erste Wahrheit nicht erkennt oder negiert ein Vorwurf gemacht werden.Thomas vA (in summa theol., I, q2, a1) hat geschrieben:... die Kenntnis aber der Existenz einer ganz bestimmten Wahrheit, nämlich der ersten, ist keine von vornherein ohne weiteres notwendige.
Ob es nun um die "erste Wahrheit" geht oder um eine andere göttliche Wahrheit, die "gute" Kognition hängt also auch im Rahmen des natürlichen Vernunftlichtes von der "eigentlichen" (d.h. übernatürlichen) Gnade Gottes ab. Aber es ist richtig, dass der Mensch auch so "manches Wahre" (zB in der Naturwissenschaft) auch ohne die "eigentliche" Gnade Gottes erkennen kann.
Interessant ist dann die Frage wie im Zuge des natürlichen Nachdenkens über 'dieses oder jenes' vermieden werden kann, dass der Selbst-Wille die "eigentliche" göttliche Gnade (unbewußt?) zurückweist, wie also sichergestellt werden kann, dass die göttliche Gnade die kognitiven Aktivitäten bestimmt, "wenn es drauf ankommt" (was man ja gar nicht wissen kann, weil man die Vorsehung gar nicht kennt).