Joseph Schumacher (in: Mariologisches Jahrbuch „Sedes Sapientiae“ 2 [1998] Bd. 2, S. 108-111) hat geschrieben:
…
Im Denken der Juden rangiert die Gemeinschaft stets vor dem Indi-
viduum. Im Alten Testament steht primär das Volk als Ganzes vor
Gott, erst sekundär der einzelne. Deshalb kann und darf man nach
jüdischem Verständnis nicht den Glauben an eine Person in das Zen-
trum der Religion stellen, wie dies im Christentum geschieht. Die
Mitte des Judentums ist nicht eine Person, sondern ein Buch. Das hat
es mit dem Islam gemeinsam[33]. Der Jude versteht sich zunächst als
Teil seines Volkes, er findet seine Identität, indem er sich einreiht in
den „Kehal Jahwe“[34]. So steht auch Jesus, ein Jude unter Juden, für
sein Volk. An ihm verdichtet sich das jüdische Volksschicksal zur
Einzelgestalt. Jede Singularität, die man Jesus zuerkennt, speziell in
seiner Passion, ist daher Verrat an den anderen, Verrat an dem Volk,
für das er steht[35].
Die Propheten haben in der Tat ihre Zuhörer auf die Thora verpflich-
tet, aber nicht so Jesus. Er hat sie auf seine Person verpflichtet. So
sagen es jedenfalls die Evangelien. Er hat sich völlig identifiziert mit
seiner Botschaft und sich selber als die Basileia Gottes verstanden. In
der Perspektive des Judentums wird das nicht zur Kenntnis genom-
men. Da ist Jesus ein Jude unter Juden und Symbol des Volkes Israel,
wie es Schalom Ben-Chorin, ausdrückt, das immer wieder „aus tief-
ster Erniedrigung und Gottverlassenheit“ emporgestiegen ist, aber
auch in dieser Hinsicht ist er keineswegs singulär[36]. Wenn Jesus
nicht mehr gewesen ist als ein Mensch, wenn ihm gar jede heilsge-
schichtliche Bedeutung abgesprochen wird, wenn er nur ein gläubi-
ger Jude gewesen ist, ein Lehrer, ein Rabbi, so tritt damit auch Maria
zurück in die Masse der Gläubigen. Wie sollte auch die Mutter eines
gewöhnlichen Menschen hervortreten? Man kann zwar von ihr re-
den, aber das ist nicht üblich und überraschend. Wie Schalom Ben-
Chorin meint, ist nicht einmal die Kategorie des Propheten auf ihn
anwendbar[37], da damals die Zeit der Propheten schon vorüber ge-
wesen sei und der Prophetismus der Vergangenheit angehört habe.
Dennoch meint er, Maria sei für die Geschichte Jesu nicht gleichgül-
tig[38]. Er hat selber ein Marienbuch geschrieben. Aber fällt die Be-
deutung Mariens nicht in sich zusammen, wenn Jesus nur ein Rabbi
ist? Nicht einmal die Mütter der Propheten spielen im Alten Testa-
ment eine Rolle.
Die besondere Stellung Mariens ist untrennbar verbunden mit der
Bedeutung, die ihrem Sohn zukommt. Maria steht im Glauben der
Kirche uneingeschränkt im Kontext des Inkarnationsgeheimnisses.
In den Evangelien wird nur wenig über sie berichtet[39], aber was
berichtet wird, wird um ihres Sohnes willen berichtet. Das darf nicht
übersehen werden.
Kulturgeschichtlich tritt Maria schon deswegen in den Evangelien zu-
rück, weil die Frau in der hebräischen Antike ohnehin kaum indivi-
duelle Züge aufweist, wird sie doch „von allgemeinen Vorstellungen,
gesellschaftlichen Regeln, kultischen Gesetzen und biblischen Leit-
bildern“[40] bestimmt. Das Leben der jüdischen Gemeinschaft ist
durch das göttliche Gesetz und dessen rabbinische Auslegung so bis
ins letzte geregelt, daß für die Individualität kein oder nur wenig Spiel-
raum mehr da ist[41]. Die Individualität ist im Judentum zweitrangig.
Das gilt allgemein, besonders aber für die Frau[42].
Zusammen mit Jesus will man im gegenwärtigen Judentum auch
Maria heimholen. Auch von ihr sagt man, daß sie durch das Christen-
tum verfremdet, verfälscht und legendenhaft verunstaltet, daß sie -
mehr noch als Jesus - durch Mythologie und Synkretismus der histo-
rischen Wirklichkeit enthoben worden sei. Deshalb gibt man ihr den
alten jüdischen Namen Myriam oder Mirjam zurück. Ben-Chorin
spricht von „erhabenen Mythologisierungen einer schlichten jüdi-
schen Mutter …, die einen Sohn gebar, den sie nicht verstehen konn-
te, der sich ihr entzog und ihr aggressiv gegenüberstand und dem sie
doch bis unter das Kreuz seiner menschlichen Tragödie folgte“[43].
Seiner Meinung nach - und damit steht er nicht allein - ist Maria, wenn
auch nicht theoretisch, so doch faktisch zu einer Göttin geworden[44].
Deshalb will er all das, was Tradition, Dogma, Liturgie, Legende, Kunst,
Dichtung und Musik zur Verfälschung der Mariengestalt zusammen-
getragen haben, beim Namen nennen, „um das jüdische Antlitz einer
jungen Mutter aus Galiläa wieder deutlich zu machen“[45]. Auf dem
Weg der Entmythologisierung will er Maria oder Mirjam als eine Ge-
stalt vorstellen, die „im Rahmen dessen geblieben ist, was wir als den
Lebensbereich der jüdischen Frau ihrer Zeit und Umgebung aus den
jüdischen Quellen entnehmen können“[46]. Es ist - um mit Martin Bu-
ber zu reden - die Pistis, die das Marienbild der Kirche, analog zur Chri-
stusgestalt, depraviert hat. Was Juden und Christen im Hinblick auf
Maria eint, das ist die Emuna, der schlichte Glaube der einfachen Frau
aus dem Volk.
In den jüdischen Jesus-Büchern der Gegenwart wird uns wiederholt
auch die religiöse und bürgerliche Umwelt gezeigt, in der sich das
Drama des Marienlebens abspielte, wodurch unser spärliches Wissen
über Maria auf Grund des neutestamentlichen Zeugnisses in gewis-
ser Weise bereichert wird. Die Jesusbücher gehen davon aus, daß Ma-
ria einfach als der Typ einer jungen jüdischen Frau ihrer Zeit gesehen
werden muß. Sie nehmen dabei zuweilen entweder negativ oder - ver-
einzelt auch - positiv Stellung zum christlichen Menschenbild.
Zum einen zeigen sie an Maria, wie ein jüdisches Mädchen um die Zei-
tenwende aufgewachsen ist, welche Stellung es in der Familie innehatte,
wie und in welcher Weise ihm eine religiöse Erziehung und Unterwei-
sung zuteil wurde, die damals in erster Linie - nicht ausschließlich - den
Söhnen galt. Man weist dabei auf die kultischen Gesetze hin, die religiö-
sen Leitbilder und die Verhaltensnormen, denen eine verlobte Jungfrau
unterworfen war. So zeigt man etwa, daß die Verlobung zwar die volle
Rechtskraft einer Eheschließung hatte, faktisch aber den Vollzug der
Ehe noch nicht vorsah[47]. Vor allem ist man bemüht, Maria als nor-
male jüdische Mutter kenntlich zu machen und ihr Bild von dem an-
geblichen Wust der christlichen Legendenbildung um ihre Person zu
befreien von dem, was die Dogmatik über ihre heilsgeschichtliche Stel-
lung zu sagen weiß, von den Dogmen, die die Kirche mit der Marien-
gestalt verbindet, speziell von dem Dogma der Jungfräulichkeit. Dabei
wird dann Joseph der Vater Jesu und seine Geburt wird von Bethlehem
nach Nazareth verlegt, wo die Familie des Zimmermanns Joseph behei-
matet war, wo Jesus in einer jüdischen Umwelt und in einer lebendigen
Familientradition mit einer Reihe von Geschwistern aufgewachsen ist.
Damit verbindet sich der Gedanke, daß Joseph zur Zeit des öffentlichen
Auftretens Jesu bereits verstorben und Maria verwitwet war, daß Maria
der jerusalemischen Urgemeinde angehört hat. Sie ist dort auch gestor-
ben und hat ihr Grab gefunden. Dabei wird zuweilen ihre Frömmigkeit
gerühmt, wie sie im Magnificat einen bedeutsamen Ausdruck gefunden
hat, ohne daß man dessen Komposition der schlichten orientalischen
Jüdin aus Nazareth zuerkennt[48].
Man stellt auch fest, das Verhältnis Jesu zu seiner Mutter sei ein gestörtes
gewesen. Maria habe ihren Sohn nicht verstanden, dessen Beziehung zu
ihr sei affektgeladen gewesen, distanziert und ohne Ehrerbietung …
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33 H.-J. LOTH, M. MILDENBERGER, U. TWORUSCHKA (Anm. 30), 90 f.
34 D. FLUSSER, Inwiefern kann Jesus für Juden eine Frage sein, in: Concilium 10
(1974) 597-599; vgl. U. TWORUSCHKA, in: H.-J. LOTH, M. MILDENBERGER, U.
TWORUSCHKA (Anm. 30), 91
35 SCH. BEN-CHORIN, Dialogische Theologie. Schnittpunkte des christlich-jüdischen
Gesprächs, Trier 1975, 29-36
36 Ebd. 29 ff.; vgl. H.-J. LOTH, M. MILDENBERGER, U. TWORUSCHKA (Anm. 30),
42
37 SCH. BEN-CHORIN, Mutter Mirjam. Maria in jüdischer Sicht, München 1971
38 Ebd. 37
39 W. BEINERT, Die mariologischen Dogmen und ihre Entfaltung, in: W. Beinert,
H. Petri, Handbuch der Marienkunde, Re gensburg 1984, 246
40 SCH. BEN-CHORIN, Mutter Mirjam, 19 (Anm. 37)
41 Ebd.
42 SCH. BEN-CHORIN, Dialogische Theologie, 29-36 (Anm. 35)
43 SCH. BEN-CHORIN, Mutter Mirjam, 11 (Anm. 37)
44 Ebd. 11 ff.
45 Ebd. 11
46 Ebd. 19
47 Tosefta-Traktat Ketubot 8,1; vgl. R. BÄUMER, L. SCHEFFCZYK (Anm. 23), 450
48 Vgl. R. BÄUMER, L. SCHEFFCZYK, 450 f. (Anm. 23); SCH. BEN-CHORIN, Mutter
Mirjam, 54 ff. (Anm. 37)