Problematische Bibelstellen

Schriftexegese. Theologische & philosophische Disputationen. Die etwas spezielleren Fragen.
TillSchilling

Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von TillSchilling »

overkott hat geschrieben:Glaubst du, der Mensch gewordene Gott sei nicht menschlich, sondern hätte den Vergleich mit dem warmherzigen Samariter nur so zum Spaß erzählt?

Ich persönlich habe für ein Rechtfertigungsbedürfnis durchaus Verständnis, soweit es Gottes Liebe zum Nächsten nicht verdreht.
Ich persönlich habe für ein Bedürfnis Gottes Gebote ernstzunehmen und den Wunsch dem Heiland gefallen zu wollen durchaus Verständnis und Respekt, solange es nicht die die Lehre von Gottes, sich in den Tod hingebender Liebe zu seinen Feinden verdreht und uns Menschen die Fähigkeit zur Selbsterlösung zuspricht und Gottes Gnadenzuwendung von unsere Initiation anhängig macht.

So weit zu dem Thema. Weiteres bitte bei Augustinus oder Luther nachlesen.

Und NICHT Feuerbach, MND. Ahh, ich kann es kaum glauben. Feuerbach. Womit verschwendest du dein Zeit? Womit fütterst du deinen Geist?

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overkott
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von overkott »

Ausdrücke wie tierisch leben oder Bestie machen in Predigten oder Meinungsäußerungen leider zur Zeit die Runde. Hier sollte man nicht der französischen Hexaemeron-Übersetzung folgen. Im Original steht brutaliter viventium, was im Hinblick auf das Gesetz mit sehr hart oder sehr streng übersetzt werden kann.

Franziskanisches Schöpfungsverständnis schöpft aus diesen Schriftstellen:

Gen 9,9 Hiermit schließe ich meinen Bund mit euch und mit euren Nachkommen
Gen 9,10 und mit allen Lebewesen bei euch, mit den Vögeln, dem Vieh und allen Tieren des Feldes, mit allen Tieren der Erde, die mit euch aus der Arche gekommen sind.

Gen 9,5 Wenn aber euer Blut vergossen wird, fordere ich Rechenschaft, und zwar für das Blut eines jeden von euch. Von jedem Tier fordere ich Rechenschaft und vom Menschen. Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder.

Koh 3,21 Wer weiß, ob der Atem der einzelnen Menschen wirklich nach oben steigt, während der Atem der Tiere ins Erdreich hinabsinkt?

Apg 11,9 Doch zum zweiten Mal kam eine Stimme vom Himmel; sie sagte: Was Gott für rein erklärt hat, nenne du nicht unrein!

Sicher gibt es da auch:

Pt 2:12
hii vero velut inrationabilia pecora naturaliter in captionem et in perniciem in his quae ignorant blasphemantes in corruptione sua et peribunt

Bei pecora (= Schaf) geht es sicher auch um ein Wortspiel mit peccare (= sündigen).

Das Bild vom Guten Hirten und seiner Herde bezieht sich auch auf die Kirche.

TillSchilling

Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von TillSchilling »

Ach so. Interessant.

Und jedes bitte nochmal in Modus II. Für die Schafe unter uns. Die eben naturaliter in stupidiam sunt. Oder so.

Geht noch einen Wein drinken ... Das hilft.

Miserere Nobis Domine
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Miserere Nobis Domine »

Tatsächlich finde ich, dass overkott einen wichtigen Aspekt anspricht. Die Würde der Tiere wird leider im christlichen Diskurs oft vernachlässigt.

Raphael

Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Raphael »

Miserere Nobis Domine hat geschrieben:Tatsächlich finde ich, dass overkott einen wichtigen Aspekt anspricht. Die Würde der Tiere wird leider im christlichen Diskurs oft vernachlässigt.
Stimmt, manche Vergleiche sind eine Beleidigung für die Schafe!

*duckundwech*

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Marion
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Marion »

Wie interpretiert ihr diese Bibelstelle?
„Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist“ (Joh 3,8)
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civilisation
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von civilisation »

noiram hat geschrieben:Wie interpretiert ihr diese Bibelstelle?
„Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist“ (Joh 3,8)
Der Kontext ist das Thema "Wiedergeburt". Der Mensch hat eine doppelte Existenzweise: die natürliche (Geburt "aus dem Fleisch") und die übernatürliche ("von oben her" durch den Geist Gottes) - besser gesagt: ein natürliches und ein übernatürliches Leben. Letzteres ist für den "natürlichen Menschen" unfaßbar, ein Geheimnis.

Auch im natürlichen Bereich gibt es Dinge, die geheimnisvoll sind. So z.B. der Wind. Er ist unserem Einfluß entzogen. Man kennt nicht seine Herkunft und seine Richtung. Genau so entzieht sich auch das neue Leben (= durch den Geist Gottes) hinsichtlich Ursprung und Ziel unserer menschlichen Erfahrung.

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Marion
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Marion »

Danke dir, das leuchtet ein :)
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asderrix
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von asderrix »

Agnosti hat geschrieben:Nein, das stimmt nicht, ich bin sehr gerne für Antworten bereit, aber leider habe ich bisher keine einzige bekommen:
Todesstrafe für Arbeit am Sabbat, für sexuelle Verfehlungen usw., wie soll man das heute als Wort Gottes, d.h. als ethisch normativ verstehen, ohne mit den staatlichen Gesetzen in Konflikt zu geraten? Denn da ist ja auch ein Problem.
Hallo Agnosti, ich habe jetzt erst diesen Beitrag gelesen.
Weißt du, ich hatte mit einigen Passagen, des AT auch meine Probleme, mit manchen habe ich sie auch noch, aber, als mir klar wurde, das dass was uns heute mit Abstand als ungerecht empfunden wird, war für die Zeit, von der es berichtet revolutionär.

An dem Bild Auge für Auge, möchte ich es fest machen, die Umwelt des Volkes Gottes, kannte so eine Bestimmung nicht, es gab maßlose Rache.
Gott gibt ein Maß, die Forderung Räche dich nicht, wäre eine Überforderung in dem damaligen gesellschaftlichen Kontext für die Israeliten gewesen.
Jedes Gedächtnismahl sagt: Das Beste kommt noch!

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Clemens
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Clemens »

Agnosti hat sich heute vom Forum verabschiedet. Er liest wohl unsere Antworten auf seine Fragen nicht mehr.
Schade!
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Nassos
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Nassos »

Trotzdem lohnt es, ueber diese wichtige Frage zu diskutieren bzw. auch mal einen Geistlichen zu fragen.
Ich glaube, der Schluessel zur Antwort liegt in der Rolle Jesu als "Bindeglied" zwischen AT und NT.

Ich hatte diese Frage nach der Verbindung und ihrer Eigenschaften im orthodoxen Forum gestellt. Hat Jesus das AT abgeloest, erfuellt, veraendert... Was ergibt sich fuer uns hieraus? Sollen wir auf andere schauen oder vielleicht doch mehr auf uns selbst?

Auch wenn ich mich damit verdamme: nie werde ich die Todesstrafe tolerieren. Behinderte Kinder toeten? Hallo, gehts noch? Is this Sparta?
Ich glaube; hilf meinem Unglauben

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overkott
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von overkott »

overkott hat geschrieben:Bei pecora (= Schaf) geht es sicher auch um ein Wortspiel mit peccare (= sündigen).
Auch wir kennen ja Ausdrücke wie bockig sein oder etwas verbocken.

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Robert Ketelhohn
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Robert Ketelhohn »

overkott hat geschrieben:Im Original steht brutaliter viventium, was im Hinblick auf das Gesetz mit sehr hart oder sehr streng übersetzt werden kann.
Nein, keinesfalls. Das heißt: „unvernünftig wie die Tiere“.
overkott hat geschrieben:Bei pecora (= Schaf) geht es sicher auch um ein Wortspiel mit peccare (= sündigen).
Nein, ebensowenig. Das ist vollständig auszuschließen.
(Pecora ist übrigens ein Plural.)
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overkott
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von overkott »

Robert Ketelhohn hat geschrieben:
overkott hat geschrieben:Im Original steht brutaliter viventium, was im Hinblick auf das Gesetz mit sehr hart oder sehr streng übersetzt werden kann.
Nein, keinesfalls. Das heißt: „unvernünftig wie die Tiere“.
overkott hat geschrieben:Bei pecora (= Schaf) geht es sicher auch um ein Wortspiel mit peccare (= sündigen).
Nein, ebensowenig. Das ist vollständig auszuschließen.
(Pecora ist übrigens ein Plural.)
Hugh, ich, Robert, habe gesprochen.

Der heilige Bonaventura hat nicht bestialiter geschrieben, sondern brutaliter. Das findet sich auch im späteren Wortgebrauch: http://www.zeno.org/Zeno//Suche?q=brut ... lla-search

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Robert Ketelhohn
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Ich habe oben auch auf dein brutaliter geantwortet. Ich bin nicht
völlig bekloppt, glaub mir.

Eine Lehre kannst du annehmen oder nicht. Bist ein freier Mann.
Sie nicht anzunehmen wäre allerdings ziemlich bekloppt.

Dein referenzierter »späterer Wortgebrauch« geht auch nirgends
in die Richtung „hart, streng“, sondern vielmehr „stumpfsinnig“.
Im übrigen schlag besser hier nach:
http://www.zeno.org/Zeno//Suche?q=brut ... Bibliothek
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overkott
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von overkott »

Ach, du meinst unvernünftig: http://albertmartin.de/latein/?q=brutus ... lla-search Da kommen wir der Sache schon näher. Man kann sich in der Tat fragen, ob es gemessen am zweiten Gebot vernünftig ist, unter Berufung auf das dritte Gebot einem Hilfsbedürftigen an einem Feiertag nicht zu helfen. Das wäre auch nach heutigem Verständnis brutal. Entsprechend sollten wir brutaliter mit brutal übersetzen. Der Wortsinn scheint sich vom Lateinischen zum Deutschen nicht grundlegend geändert zu haben. Die Synagoge wie die Kirche als Herde zu betrachten, finde ich - auch mit der brutalen Last des 2. Jahrhunderts - nicht anstößig.

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Marion
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Marion »

Bei der Messe gestern in Rom wurde aus einer uralten Heiligen Schrift vorgelesen.
Lucas 2.14 sprach der Übersetzer: "Menschen mit Gottes Gnade"
In meiner Allioli steht da "Menschen..., die eines guten Willens sind"

Gibt es dafür eine Erklärung?
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Clemens
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Clemens »

Die klassische Übersetzung "und den Menschen ein Wohlgefallen" beruht auf einem Missverständnis der frühjüdischen Formulierung.
Durch die Qumran-Funde weiß man nun aus anderen Texten, dass gemeint ist: den Menschen, die guten Willens sind.
Von allen Gottesgaben ist die Intelligenz am gerechtesten verteilt. Jeder ist zufrieden mit dem, was er hat und freut sich sogar, dass er mehr hat, als die anderen.

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Bernado
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Bernado »

Clemens hat geschrieben:Die klassische Übersetzung "und den Menschen ein Wohlgefallen" beruht auf einem Missverständnis der frühjüdischen Formulierung.
Durch die Qumran-Funde weiß man nun aus anderen Texten, dass gemeint ist: den Menschen, die guten Willens sind.
Da ist noch ein wenig mehr dahinter als nur philologisches: "Den Menschen in Gottes Gnade" gilt allgemein als Ausfluß des protestantischen "sola gratia-Denkens", während "den Mensche, die guten Willens sind" die klassische katholische Übersetzung darstellt. Sprachlich möglich sind - mal vom bonae voluntatis der Vulgata ausgehend, wohl beide Lesarten, wobei es mir immer viel überzeugender war, hier anzunehmen, daß vom (stets wankelmütigen) guten Willen der Menschen die Rede ist und nicht von der voraussetzungsfrei gewährten Gnade Gottes.

Von daher würde es mich sehr interessieren, was die Qumran-Forschung nun auhc philologisch zu diesem Thema beizutragen hat.
„DIE SORGE DER PÄPSTE ist es bis zur heutigen Zeit stets gewesen, dass die Kirche Christi der Göttlichen Majestät einen würdigen Kult darbringt.“ Summorum Pontificum 2007 (http://www.summorum-pontificum.de/)

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Robert Ketelhohn
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Robert Ketelhohn hat geschrieben:Das „Wohlgefallen“ in Lc 2,14 kommt ja von Luther, der freilich nach dem textus receptus die varia lectio δόξα ἐν ὑψίστοις Θεῷ καὶ ἐπὶ γῆς εἰρήνη ἐν ἀνϑρώποις εὐδοκία übersetzt hat; wohl nicht ganz treffend, denn passender wäre „Wohlwollen, Gunst, Huld“ (so beispielshalber auch kirchenslawisch благоволєніє).

Wenn die Einheitsübersetzung heute „den Menschen seiner Gnade“ übersetzt, nimmt sie diesen Begriff „Wohlwollen, Gunst, Huld“ auf, jedoch nicht ganz korrekt, denn Gnade ist ein sehr spezifischer theologischer Terminus, den man nicht mal so einfach hernehmen kann, um εὐδοκία wiederzugeben.

Doch schlimmer noch, sie fügt „seiner“ ein, so daß also konkret Gottes Gnade gemeint ist. Das steht aber in keiner griechischen Lesart. Ob Gottes Huld oder aber das Wohlwollen der Menschen untereinander gemeint ist, läßt der griechische Text dieser Lesart unbestimmt.

Schließlich macht die Einheitsübersetzung noch einen weiteren Fehler: Sie transponiert diese Interpretation des Begriffs, die von der oben zitierten varia lectio ausgeht, in die offizielle Lesart der lateinischen Versionen (Vetus Latina und Vulgata) und der kritischen Ausgaben des griechischen Texts, die gegen den textus receptus alle δόξα ἐν ὑψίστοις Θεῷ καὶ ἐπὶ γῆς εἰρήνη ἐν ἀνϑρώποις εὐδοκίας lesen.

Diese Fassung wird von den alten Übersetzern durchweg mit „bei Menschen guten Willens wiedergegeben“, so in den lateinischen Übersetzungen in hominibus bonæ voluntatis oder in Wulfilas gotischer Übersetzung in mannam godis wiljins (aus dem Gedächtnis, müßte aber in etwa stimmen). Meinetwegen könnte man auch sagen: „bei Menschen von Wohlwollen“, oder etwas in der Art. Mit Sicherheit verfehlt ist es, den Genitiv εὐδοκίας als Wohlwollen Gottes gegenüber Menschen zu interpretieren. Theologisch mag das ja möglich sein, keine Frage. Philologisch ist es grober Unfug.

Welcher der beiden griechischen lectiones nun der Vorzug zu geben sei, dessen bin ich hier selber nicht ganz sicher. Der Überlieferungsgeschichte nach sind beide sehr alt und verbreitet. Die lateinische Kirche liest heute εὐδοκίας, die byzantinische εὐδοκία.
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Clemens
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Clemens »

Leider kann ich die Argumente für die neue Fassung nur noch der Spur nach - wie ich es im Studium gelernt habe - , aber nicht mehr mit Belegen, präsentieren:
Demnach sei jedenfalls die von Robert angesprochene Unklarheit bzgl. der Lesart (eudokia[-s]) durch die Qumranfunde nun geklärt. Dort sei eine entsprechende Redensart aus der Zeit Jesu belegt, deren Zusammenhang eindeutig klar mache, dass gemeint sei: "den Menschen seines Wohlgefallens". Seither sind auch die evangelischen Bibelübersetzungen an dieser Stelle korrigiert.

Vielleicht kriegt mal jemand heraus, wo die Begründung nachlesbar ist?
Von allen Gottesgaben ist die Intelligenz am gerechtesten verteilt. Jeder ist zufrieden mit dem, was er hat und freut sich sogar, dass er mehr hat, als die anderen.

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Bernado
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Bernado »

Clemens hat geschrieben:Leider kann ich die Argumente für die neue Fassung nur noch der Spur nach - wie ich es im Studium gelernt habe - , aber nicht mehr mit Belegen, präsentieren:
Demnach sei jedenfalls die von Robert angesprochene Unklarheit bzgl. der Lesart (eudokia[-s]) durch die Qumranfunde nun geklärt. Dort sei eine entsprechende Redensart aus der Zeit Jesu belegt, deren Zusammenhang eindeutig klar mache, dass gemeint sei: "den Menschen seines Wohlgefallens". Seither sind auch die evangelischen Bibelübersetzungen an dieser Stelle korrigiert.

Vielleicht kriegt mal jemand heraus, wo die Begründung nachlesbar ist?
Danke. Wieder mal ein schöner Beleg dafür, wie gut es ist, auf die Tradition zu bauen.
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Robert Ketelhohn
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Clemens hat geschrieben:Demnach sei jedenfalls die von Robert angesprochene Unklarheit bzgl. der Lesart (eudokia[-s]) durch die Qumranfunde nun geklärt. Dort sei eine entsprechende Redensart aus der Zeit Jesu belegt, deren Zusammenhang eindeutig klar mache, dass gemeint sei: "den Menschen seines Wohlgefallens". Seither sind auch die evangelischen Bibelübersetzungen an dieser Stelle korrigiert.

Vielleicht kriegt mal jemand heraus, wo die Begründung nachlesbar ist?
Ja, das wäre in der Tat schön, wenn das jemand beisteuern könnte, denn dann
könnte ich diesen Unfug noch krachender zertrümmern.

Erstens ist es methodisch völlig verfehlt, aus „Qumranfunden“ irgendeine grie-
chische „Redensart“ belegen zu wollen¹. Dazu sind die Qumrantexte ihrer Gat-
tung nach nicht geeignet. Allenfalls könnte eine anderweitig hinreichend beleg-
te griechische Redensart der Zeit auch einmal in einem Qumrantext auftauchen.
Eine Wendung eines oder vielleicht mehrerer Quumrantexte, die sonst nicht be-
legt ist, kann allenfalls als Qumranspezifische Formulierung angesehen werden.
Da müßte man nun erst wieder die Verbindung von Qumran zu Lucas herstel-
len. Bei Lucas findet sich die Wendung aber nicht – man will ihn ja gerade an-
hand von Qumran „korrigieren“ –, so daß das ganze sich als klassischer Zirkel-
schluß entpuppt.

Zweitens gibt es in Qumran kein Exemplar des Lucasevangeliums. Schon darum
ist es grotesker methodischer Unfug, anhand von Qumranfunden unterschiedliche
Lesarten des Lucasevangeliums „klären“ zu wollen. Selbst wenn sich aber in Qum-
ran das Lucasevangelium fände, wäre damit noch kein „Urtext“ sicher festgestelt,
sondern nur die dort belegte Lesart als sehr alt und ursprungsnah erwiesen. Man
könnte jedoch nicht behaupten, es könne keine ebenso alte Redaktion mit der an-
dern Lesart geben. – Das ist aber bloß theoretisch gesagt, denn in Qumran gab’s
kein Lucasevangelium (und konnte es aus chronologischen Gründen auch kaum
geben).

Drittens ist, wie oben erklärt, völlig einerlei, welche Lesart die „richtige“ oder „origi-
nale“ ist: Keine gibt die Interpretation der Übersetzungen mit auf Gott rückbezoge-
nem Possessivum her. Nullo modo.

___________________________________________________
¹ Derselbe Unsinn wird z. B. auch bezüglich des ἁρπαγμὸν im Philipperhmynus betrieben,
vgl. http://kreuzgang.org/viewtopic.php?p=48132#p48132 .
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Niels
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Niels »

Quelle hat geschrieben:Wie die Qumrantexte gelegentlich direkt helfen können, einzelne Dinge im Neuen Testament besser zu verstehen, soll an der vertraute Weihnachtsbotschaft des Evangelisten Lukas, die wir alle am Heilig Abend wieder hören, illustriert werden. Der Lobgesang der Engel beginnt in Lukas 2,14 mit den Worten: "Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden ..." - bis hierher stimmen die verschiedenen Bibelausgaben alle überein. In der alten Lutherausgabe heißt es weiter: "... Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen". In der neuen revidierten Lutherbibel heißt es hingegen: "Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens". In katholischen Übersetzungen kann man sogar noch eine dritte Version lesen: "Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen guten Willens". Wie erklären sich diese unterschiedlichen Wiedergaben? Es fängt damit an, dass die griechischen Handschriften des Neuen Testamentes an dieser Stelle von einander abweichen - zwar nur in einem Buchstaben - aber der bewirkt einen gewaltigen Unterschied. "... bei den Menschen des Wohlgefallens" heißt auf Griechisch: '...en antropois eudokias'. Fehlt der letzte Buchstabe - das 's' von eudokia (Wohlgefallen) muß man übersetzen: "...und den (allen) Menschen ein Wohlgefallen". Einen solchen griechischen Text benutzte Luther bei seiner Übersetzung. Heute liegen aber viel ältere Handschriften vor, als seinerzeit Luther. Von diesen alten Handschriften her sind sich die Forscher eigentlich alle einig, dass der ursprüngliche Text lautet: "Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen des Wohlgefallens" . Damit ist man sich über den Text einig - aber was heißt das nun eigentlich?

Die Wendung "Menschen des Wohlgefallens" hört sich im Deutschen ungewöhnlich an. Man fragt doch, wessen Wohlgefallen es denn sei? Auch schon sehr viele frühe griechische Abschreiber hatten ebenso Mühe, den zu Grunde liegenden - völlig ungriechischen (!) Ausdruck - ' en anthropois eudokias' zu verstehen. Sehr beliebt ist jedoch eine solche Wendung in den semitischen Sprachen, im Hebräischen des Alten Testaments so gut wie heute noch etwa im Arabischen. Ein Sechzigjähriger heißt ein "Sohn von 60 Jahren", ein Soldat ein "Mann des Krieges" und ein Lügner ein "Mensch der Lüge" (im Deutschen kennen wir in gehobener Sprache den Ausdruck: "Er ist ein Kind des Todes"). Eine genaue Parallele zu der Wendung "Menschen des Wohlgefallens" gab es aber weder im Alten Testament noch sonst irgendwo in einem hebräischen oder aramäischen Text. In den Qumrantexten taucht diese Wendung aber nun fast wörtlich auf. In den Lobliedern aus Höhle 1 ist zweimal von den "Söhnen seines - nämlich Gottes - Wohlgefallens" die Rede . Gemeint sind nach dem dortigen Zusammenhang ganz eindeutig Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat, die Er erwählt und berufen hat. Die Lutherübersetzung übersetzt also sinngemäß sehr richtig: "Frieden auf Erden bei den Menschen seines - also Gottes - Wohlgefallens". In diesem Sinne gibt auch die Brunsbibel diese Stelle ganz hervorragend wieder: "Herrlichkeit ist bei Gott in den Höhen der Himmel, und Friede auf Erden unter den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat".

Das ist auch inhaltlich eine sehr wichtige Erkenntnis, denn es geht bei dem Lobgesang der Engel nicht um einen allgemeinen Weltfrieden. Den gab es weder zur Zeit Jesu (man denke nur an den Kindermord des Herodes in Bethlehem) noch heute. Der Friede Gottes wird bei allem Haß und Streit in der Welt denen verheißen, auf denen Gottes Wohlgefallen ruht. Im Gegensatz zu den Qumranleuten, die das Wohlgefallen nur auf ihre Gemeinschaft bezogen, meint der Lobpreis der Engel aber alle Menschen!! Denn nun ist ja Jesus in Bethlehem gerade Mensch geworden, wie alle Menschen.
Iúdica me, Deus, et discérne causam meam de gente non sancta

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Robert Ketelhohn
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Kurze Bemerkung vorab: Ich habe meinen vorigen Beitrag korrigiert. War da –
dank Constantin neben, unter, auf und in meinem Schreibtisch – im zweiten Teil
nach meiner Anmerkung zu „Redensart“-Argumentationen bezüglich des Philip-
perbrief aufs falsche Gleis geraten und redete fortan dauernd vom Philipperbrief
statt vom Lucasevangelium. Ändert aber substantiell nichts. – Damit weiter im
Text:

Danke, Niels. Leider mutet der Autor deines Zitats dem vermeintlich unbedarften
Leser nur deutsche Übersetzungen zu. Und da liegt der Hase bereits im Pfeffer.
Er setzt für εὐδοκία die Bedeutung „Wohlgefallen“ voraus. Das ist Unsinn. Die
Originalsprache des ominösen Qumrantexts gibt er gar nicht erst an. Mutmaßlich
hebräisch, aber griechische und aramäische Texte gab es dort auch. Aber nehmen
wir an, es handele sich um Hebräisch.

Es bleibt jedenfalls dabei, daß ein mutmaßlich hebräischer Text zur Entsprechung
unseres bei Lucas vorliegenden griechischen Wortlauts erklärt wird, um damit dann
die Bedeutung des griechischen Worts εὐδοκία zu erklären. Wie oben bereits fest-
gestellt: ein klassischer Zirkelschluß.

Welche Lesart die „ursprüngliche sei, ist keineswegs geklärt, denn die heute bei den
Byzantinern übliche ohne Genitiv-Sigma hat ebenfalls eine sehr alte und breite Tradi-
tion für sich, darunter auch die koptischen, äthiopischen, syrischen und armenischen
Zeugen.

Schließlich gibt der Text – anders als der Qumrantext – das Possessivum „sein“, wie
oben gesagt, nicht her. Allenfalls in Verbindung mit der byzantinischen Mehrheitsles-
art läge nahe zu verstehen, daß das „Wohlwollen“, um das es geht, Gottes Wohlwollen
sei, also etwa: „Ehre ‹sei› Gott in den höchsten Höhen, auf Erden Friede und den Men-
schen Wohlwollen (Huld)“.

Aber gerade diese Lesart wird ja hier bekämpft. Steht aber εὐδοκία im Genitiv, dann
ist das nicht möglich. Von „seinem Wohlwollen“ ist nicht die Rede, und es läßt sich
auch nicht hineininterpretieren: „Ehre ‹sei› Gott in den höchsten Höhen, auf Erden
Friede bei den Menschen von Wohlwollen“.
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Clemens
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Clemens »

Der Autor jenes Artikels ist Alexander Schick, den ich für einen vertrauenswürdigen und renommierten Fachmann halte.
1QH (Qumran, Höhle 1, Rolle "Hodajot" (Loblieder)) ist m.W. hebräisch.
Die Textzeugen, die für eudokias sprechen, sind deutlich älter, als die für eudokia (was zugegebenermaßen nur ein Indiz ist, kein Beweis für tatsächlich höheres Alter der Überlieferung).

Wenn man aber zur Zeit Jesu den Ausdruck "Söhne des Wohlgefallens" nachweislich im Sinne von "Menschen, die Gott wohl gefallen" benutzte, dann halte ich das für eine ausreichende Basis, um - bis zum Erhalt von besserem Wissen - auch Lk 2,14 entsprechend zu übersetzen.
Das "seines" ist eine Hinzufügung in der Übersetzung, die den Sinn verdeutlicht. Das ist gerechtfertigt, da im Deutschen die Formulierung "bei den Menschen der Huld" nicht gerade allgemeinverständlich ist. Eine darüber aufkärende Notiz wäre aber in diesem Falle wünschenswert gewesen.

Das Ganze ist aber kein Zirkelschluss:

A Die Bedeutung von "e.a.e." ist unbekannt und war es schon zur Zeit der Spätantike, weshalb damals die abweichende Schreibweise entstand.
B 1QH belegt: die Formulierung ist ein Hebraismus, der wie erläutert zu übersetzen ist.
C Aus B wird A erklärt. Da aber B auch ohne A (vermutlich) wahr ist, ist C kein Zirkelschluss.

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Robert Ketelhohn
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Clemens hat geschrieben:1QH (Qumran, Höhle 1, Rolle "Hodajot" (Loblieder)) ist m.W. hebräisch.
Danke, Clemens. Aber die Hirten werden kaum Hebräisch verstanden haben, oder? Der Engel mußte wohl schon aramäisch reden … Und Spezialausausdrücke aus Qumran werden den Schäfern auch eher weniger geläufig gewesen sein, möchte man meinen.
Clemens hat geschrieben:Die Textzeugen, die für eudokias sprechen, sind deutlich älter, als die für eudokia (was zugegebenermaßen nur ein Indiz ist, kein Beweis für tatsächlich höheres Alter der Überlieferung).
Du kannst hier nicht von den Handschriften ausgehen, sondern mußt die Traditionen unterscheiden. Wenn koptisch, äthiopisch, syrisch und armenisch, dazu Origenes und Irenæus den Nominativ haben, dann sagte das hinsichtlich größeren Alters mehr als Vaticanus, Sinaiticus und Alexandrinus zusammen. Mit Verlaub.
Clemens hat geschrieben:Wenn man aber zur Zeit Jesu den Ausdruck "Söhne des Wohlgefallens" nachweislich im Sinne von "Menschen, die Gott wohl gefallen" benutzte, dann halte ich das für eine ausreichende Basis, um - bis zum Erhalt von besserem Wissen - auch Lk 2,14 entsprechend zu übersetzen.
Ein abgelegenes Vorkommen in einem Qumrantext lehrt überhaupt nichts darüber, was „man“ damals in Palästina als idiomatische Wendung benutzte.
Clemens hat geschrieben:Das "seines" ist eine Hinzufügung in der Übersetzung, die den Sinn verdeutlicht. Das ist gerechtfertigt, da im Deutschen die Formulierung "bei den Menschen der Huld" nicht gerade allgemeinverständlich ist.
Du setzt schon wieder ein Textverständnis voraus, das wir erst noch feststellen müssen. Nicht nur wegen der Ergänzung, sondern auch wegen der im Deutschen sehr spezifisch herrscherbezogenen Vokabel „Huld“. Sag statt dessen: „bei den Menschen von Wohlwollen“ (oder mit der variæ lectioni„und den Menschen Wohlwollen“; NB: nur hier liegt die Vermutung nahe, jenes Wohlwollen komme von Gott).

Beachte auch, daß ich in der Variante „bei den Menschen von Wohlwollen“ die Übersetzung mit präpositionaler Umschreibung gewählt habe, weil der Genitiv sich mit unbestimmtem (oder ohne) Artikel im Deutschen schlecht ausdrücken läßt – und der bestimmte Artikel im Griechischen nicht steht. Der müßte aber stehen, wenn das Wohlwollen Gottes gemeint wäre (wohlgemerkt: in der Genitiv-Variante, weil dort eine bestimmte Menschengruppe durch ein bestimmtes Wohlwollen Gottes abgegrenzt wäre; in der Nominativ-Variante nicht, weil da ohne weiteres vom allgemeinen Wohlwollen Gottes für die Menschen überhaupt die Rede sein kann).

„Menschen von Wohlwollen“ aber sind griechisch durchaus als „Menschen guten Willens“ zu verstehen, wie die lateinischen und gotischen Übersetzungen zeigen.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

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Bernado
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Bernado »

Robert Ketelhohn hat geschrieben:„Menschen von Wohlwollen“ aber sind griechisch durchaus als „Menschen guten Willens“ zu verstehen, wie die lateinischen und gotischen Übersetzungen zeigen.
Das ist einer der wenigen Sätze in dieser langen Debatte, die mir einleuchten.

Ich weiß nicht, ob das redliche philologische Bemühen am unbekanntn Urtext uns hier weiterhilft. Wie haben denn die Väter die fragliche Stelle in ihren Predigten behandelt? Auch wenn Weihnachten damals nicht die Rolle spielte wie heute, sollte es doch solche frühen "Weihnachtspredigten" geben, oder?
„DIE SORGE DER PÄPSTE ist es bis zur heutigen Zeit stets gewesen, dass die Kirche Christi der Göttlichen Majestät einen würdigen Kult darbringt.“ Summorum Pontificum 2007 (http://www.summorum-pontificum.de/)

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Marion
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Marion »

So etwas?
Hieronymus († 42)
Homilie über die Geburt des Herrn
Im Himmel, wo keine Unstimmigkeit besteht, herrscht Ehre; auf der Erde, wo es täglich Kriege gibt, ist Friede. Und Friede auf Erden! Bei wem ist Friede? In den Menschen. Doch warum haben die Heiden keinen Frieden? Warum haben die Juden keinen Frieden? Weil es heißt: "Friede den Menschen, die eines guten Willens sind", mit anderen Worten, den Menschen, die den neugeborenen Christus aufnehmen.
http://www.unifr.ch/bkv/kapitel2143.htm-Weihnacht
Zuletzt geändert von Marion am Sonntag 27. Dezember 2009, 16:37, insgesamt 1-mal geändert.
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Marion
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Marion »

Leo der Grosse († 461)
Sermo XXIX. 9. Predigt auf Weihnachten.
Auf Erden aber wird jener Friede verliehen, durch den die Menschen "guten Willens" werden. Durch denselben Geist nämlich, durch welchen Christus aus dem Leibe seiner unbefleckten Mutter geboren wird, wird auch der Christ aus dem Schoße der heiligen Kirche wiedergeboren. Für diesen aber besteht der wahre Friede darin, daß er sich nicht vom Willen Gottes abbringen läßt und sich nur um das freut, was Gott liebt.
http://www.unifr.ch/bkv/kapitel325.htm-%5C
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Bernado »

Marion hat geschrieben:So etwas?
Hieronymus († 420)
Danke - diese beiden Zitate geben doch schon einmal einen Eindruck, warum man damals "bonae voluntatis" übersetzt hat.
„DIE SORGE DER PÄPSTE ist es bis zur heutigen Zeit stets gewesen, dass die Kirche Christi der Göttlichen Majestät einen würdigen Kult darbringt.“ Summorum Pontificum 2007 (http://www.summorum-pontificum.de/)

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Robert Ketelhohn
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Re: Problematische Bibelstellen

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Bernado hat geschrieben:
Robert Ketelhohn hat geschrieben:„Menschen von Wohlwollen“ aber sind griechisch durchaus als „Men-
schen guten Willens“ zu verstehen, wie die lateinischen und gotischen
Übersetzungen zeigen.
Das ist einer der wenigen Sätze in dieser langen Debatte, die mir einleuchten.
Ich weiß nicht, ob das redliche philologische Bemühen am unbekannten Ur-
text uns hier weiterhilft.
Ohne philologisches Bemühen am Schrifttext zu mißachten, ist es ja genau
das, worauf ich mit meinen länglichen Ausführungen hinauswollte: Daß näm-
lich jene philologisch-exegetischen Versuche, die oben von Clemens und Niels
zitiert wurden, methodisch verfehlt sind und ins Leere gehen, während die un-
voreingenommene Betrachtung des Texts allein dahin führt, was uns die Väter-
tradition immer schon lehrt – wobei es allerdings zwei voneinander abweichen-
de Traditionen entsprechend den beiden für diese Stelle hauptsächlich überlie-
ferten Redaktionen gibt: Für deren eine mögen die von Marion angeführten la-
teinischen Väterzitate stehen, für die andere möchte ich beispielhaft Irenæus
von Lyon zu Wort kommen lassen:
Irenæus Lugdunensis (adv. hær. iii,10,4) hat geschrieben:Apparuit, inquit, et pastoribus angelus Domini annuntians gaudium eis,
«quoniam generatus est in domo David salvator, qui est Christus Dominus.
deinde multitudo exercitus cælestis laudantium Deum et dicentium: ‹Gloria
in excelsis Deo
, et in terra pax hominibus bonæ voluntatis›.» […]
Hoc idem autem et angeli. in eo enim quod dicunt: «Gloria in altissimis Deo,
et in terra pax», eum qui sit altissimorum, hoc est, supercælestium factor, et
eorum quæ super terram omnium conditor, his sermonibus glorificaverunt:
qui suo plasmati, hoc est, hominibus suam benignitatem salutis de cælo mi-
sit.
Man wird vielleicht überrascht sein, wenn wir hier ausgerechnet Irenæus brin-
gen, und einen Irrtum vermuten, steht bei dem Lugdunenser Bischof doch aus-
drücklich hominibus bonæ voluntatis, also dieselbe Genitivvariante, die wir von
den lateinischen Vätern kennen.

Doch Vorsicht. Irenæus schrieb griechisch. Sein Werk ist freilich in der Original-
sprache nur fragmentarisch überliefert. Die oben zitierte Passage kennen wir nur
durch eine lateinische Übersetzung. Da steht nun als Übersetzung des wörtlichen,
zusammenhängenden Lucastexts in der Tat die Lesart mit Genitiv, welche ein ori-
ginales εὐδοκίας voraussetzt.

Aber Irenæus erklärt die Schriftstelle und zitiert dabei nochmals, jedoch in einzel-
nen Abschnitten und syntaktisch in die eigenen Perioden eingefügt. Es fällt auf,
daß der lateinische Übersetzer jetzt teils andere Vokabeln verwendet, ja in einem
Fall dem Schriftwort sogar einen anderen Sinn zu geben scheint. So steht statt ex-
celsis
nun altissimis, statt hominibus bonæ voluntatis aber sogar (qui) hominibus suam
benignitatem (misit)
.

Der Kontext, also diese Formulierung als Erklärung des eben zitierten Schriftworts,
macht klar, daß benignitas an dieser Stelle ebenso εὐδοκία wiedergibt wie zuvor
im wörtlichen Zitat bona voluntas.

Wie das? – Es gibt nur eine vernünftige Erklärung. Der lateinische Übersetzer hat
das komplette wörtliche Schriftzitat nicht übersetzt, sondern der ihm geläufigen la-
teinischen Bibel entnommen. Beim zweiten Mal jedoch, der Erläuterung, mußte er
wegen der geänderten Syntax und der Einschübe des Irenæi wirklich übersetzen –
und da übersetzt er, was tatsächlich im Original des Lyonnesers steht.

Von der Genitiv-Lesart εὐδοκίας kann man nun aber schlechterdings nicht zu der
Interpretation gelangen, daß Gott hominibus suam benignitatem mitgeteilt habe (selbst
der Verfechter der oben erwähnten Qumranparallelen-These kann das nicht behaup-
ten, denn dieser zufolge liefert die angebliche hebräische Qumranparallele den Ver-
ständnisschlüssel für den angeblich rechten, sonst unverständlichen Sinn; Irenæus
aber kannte jedenfalls keinerlei Qumrantexte). Irenæus hätte also irgendwie vom gu-
ten Willen, Wohlmeinen o. ä. der Menschen reden müssen. Daß er das nicht tut, son-
dern aus Lucas versteht, daß Gott den Menschen seine Huld sende, setzt zwingend
voraus, daß sein Lucastext die Nominativ-Lesart enthielt, also [καὶ / ἐν – da gibt es
noch einmal Varianten, aber wir wollen’s jetzt nicht verkomplizieren] ἀνϑρώποις
εὐδοκία. Damit ist erwiesen, daß Irenæus hinsichtlich Lc 2,14 zur Redaktionsgrup-
pe des byzantinischen Mehrheitstexts gehört, wie ferner auch die koptischen, äthi-
opische, syrischen und armenischen Übersetzungen, und daß er die Stelle mit den
griechischen Vätern anders versteht als die lateinischen.

Ich fasse zusammen: Es gibt zwei parallele Textüberlieferungen, über welche hin-
sichtlich der Prioritätsfrage keine Entscheidung möglich ist. Die eine hat εὐδοκίας
und verkündet die Ehre Gottes und den Frieden auf Erden für Menschen von Wohl-
wollen; die andere verkündet die Ehre Gottes, Frieden auf Erden und Wohlwollen
für die Menschen.

Die derzeit üblichen, modernen volkssprachlichen Übersetzungen gehen syntak-
tisch von jener aus, unterlegen sie aber mit dem Sinn dieser. Das ist verfehlt.

Um dies festzustellen, brauchen wir den griechischen Schrifttext, die alten Über-
setzungen und die Väterzitate der fraglichen Stelle. Die angebliche Qumranparalle-
le tut dabei nichts zur Sache.
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