Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Schriftexegese. Theologische & philosophische Disputationen. Die etwas spezielleren Fragen.
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overkott
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Re: Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Beitrag von overkott »

Samuel hat geschrieben:Derzeit liegt die ECM für die Katholischen Briefe vor; die Ergebnisse sind in NA28 übernommen worden. Gegenüber NA 27 ergeben sich 34 Unterschiede, davon (soweit ich das beurteilen kann) ganze drei, die den Sinn verändern.
Vorsichtiger wäre zu schreiben: die sinnverändernd oder sinnrelevant sind. Auch wenn Origenes als Begründer der griechischen Tradition der Exegese nach dem mehrfachen Schriftsinn gilt, kann schon Jesus als Vorläufer angesehen werden. Von "dem Sinn" zu sprechen, ist jedenfalls mehrdeutig und birgt die Gefahr, eine Eindeutigkeit zu behaupten, die fundamentalistischem Wortglauben Vorschub leistet und der textimmanenten Methode zumindest des Neuen Testaments widerspricht.

Lilaimmerdieselbe
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Re: Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Beitrag von Lilaimmerdieselbe »

Es geht doch oft nur um die Frage, ob ein kai noch zum Text gehört, ob ein verdeutlichendes Pronomen im Text oder besser im Apparat aufgehoben ist.

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Hubertus
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Re: Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Beitrag von Hubertus »

Pelikan hat geschrieben:
Hubertus hat geschrieben: ... in Deo, salutare meo ...

salutari
:patsch: freilitsch!
Der Kult ist immer wichtiger als jede noch so gescheite Predigt. Die Objektivität des Kultes ist das Größte und das Wichtigste, was unsere Zeit braucht. Der Alte Ritus ist der größte Schatz der Kirche, ihr Notgepäck, ihre Arche Noah. (M. Mosebach)

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Samuel
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Re: Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Beitrag von Samuel »

Gerade entdeckt: http://ntvmr.uni-muenster.de/de/home

Haufenweise Papyri, Majuskel... online - der Hammer!
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overkott
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Re: Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Beitrag von overkott »

Das Projekt, einen Originalurtext zu konstruieren, wird so erfolgreich sein wie der Nachbau einer niemals dagewesenen idealen Kathedrale: Es bleibt ein Modell. Und auch die lückenhaften biblischen Fragmente lassen darauf schließen, dass das Markusevangelium nicht schon das ganze neue Testament war.

Vermissen wir heute noch bei Markus die Kindheitsgeschichte? Nein. Die Kanonbildung ist abgeschlossen und wird auch durch das wissenschaftlich reizvolle protestantische Projekt nicht wieder aufgerollt. Schließlich ist die Kanonbildung eine traditionelle Lehrentscheidung und kein Forschungsergebnis.

Was nun die pericope adulterae anbelangt, hat schon Augustinus das Fehlen in einigen Texten kritisiert. Kann man vom Fehlen auf eine Einfügung in späteren Handschriften schließen?

Zunächst einmal ist die Datierung der Fragmente eine Einschätzung und damit eine Wertungsfrage. Schließlich klafft zwischen der vermuteten Abfassung des Johannes-Evangeliums und der Datierung der ältesten Fragmente eine Lücke von etwa 60 Jahren. Was geschah in der Zwischenzeit? Wie wurde das Evangelium verbreitet? Wer nutzte es? Offensichtlich fehlt die Perikope im Süden in alexandrinischen Texten, während sie im Norden überliefert ist. Könnte das mit der Nutzung in Klöstern oder in Gemeinden zusammenhängen? War der Süden aufgrund gnostischer Konkurrenz sittenstrenger? Aus welchen Gründen hat sich Origenes selbst verschnitten? Wie bewertete die Kirche Entmannung weiter nördlich? Das 1. Konzil von Nicäa jedenfalls hat Verschneidung verurteilt.

Gnostische Sittenstrenge des Südens als Grundlage für den vermeintlichen Originaltext zu machen, dürfte jedenfalls eine steile These sein.

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Samuel
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Re: Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Beitrag von Samuel »

Ich habe jetzt von Kurt und Barbara Aland "Der Text des Neuen Testamentes" (Stuttgart 2,1989) gekauft und gelesen.
Ich will einige der wichtigsten Aussagen niederlegen, hauptsächlich, um sie mir auf diese Weise selbst besser einzuprägen.
Sollte jemand daraus Nutzen ziehen, so soll mir das recht sein.

1. Die Entstehung der neutestamentlichen Manuskripte kann man sich so vorstellen, dass wo eine neue Gemeinde gegründet wurde auch ein Manuskript benötigt wurde und deswegen eines abgeschrieben wurde, entweder direkt vom Missionar oder das nächste erreichbare.

2. Beim Abschreiben der Manuskripte kam es zu Veränderungen: absichtliche oder unabsichtliche
a) Vor allem in der Frühzeit, als der Text des NT noch nicht so heilig war und die Christen sich noch mehr im Geistbesitz wussten, haben die Abschreiber ihren Text oft verbessert: Stilistisch, erläuternd (z.B. Joh 5,3b-4) oder aus den Paralleltexten (hier hat insbesondere der schwächere Mk von Mt empfangen)
b) Das Auge des Abschreibers kann versehentlich von einem Wortende zum gleich aussehenden anderen springen (Homoioteleuton) und das Dazwischenliegende auslassen; Buchstaben können verwechselt werden, wenn sie ähnlich aussehen oder (beim Diktat) ähnlich klingen ("wir" und "ihr" klingt jeweils "himeis")

3. Bis zum vierten Jahrhundert wurde auf Papyrus geschrieben, danach auf Pergament (Tierhäute; für ein NT braucht man etwa 60 Schafe.) Papyri sind ab dem 2. Jh erhalten, allerdings nur in Ägypten, wo sie der heiße Wüstensand konservierte.

4. Ab ca. 200 n.Chr., als das Griechische nicht mehr verstanden wurde, begannen Übersetzungen in die Volkssprachen (Latein, Syrisch, Koptisch...), welche jeweils den griechischen Text zurückdrängten.

5. Ab dem 4.Jh gab es Zentralgewalten (Alexandrien; v.a. Byzanz), die mächtig genug waren, ihren Text durchzusetzen. Abweichende Texte konnten sich nur dort halten, wo der Einfluss der Zentralgewalt schwächer war oder wo sich die Kirche ganz abgespalten hatte (Kopten...).

6. Die Handschriften sind oft aus verschiedenen Vorlagen mit verschiedener Qualität zusammengestellt worden; z.B. ist der Wert des Codex Alexandrinus (A) niedrig in den Evangelien, hoch in den übrigen Schriften, hervorragend in der Apokalypse.

7. Der Text der Handschriften zeigt eine große Tenazität: Was einmal vorhanden war, wird auch weitergegeben. Deshalb geht Aland davon aus, dass es immer möglich ist, den ursprünglichen Text zu rekonstruieren.
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overkott
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Re: Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Beitrag von overkott »

Samuel hat geschrieben:4. Ab ca. 200 n.Chr., als das Griechische nicht mehr verstanden wurde, begannen Übersetzungen in die Volkssprachen (Latein, Syrisch, Koptisch...), welche jeweils den griechischen Text zurückdrängten.
Das ist gelinde gesagt: Quatsch.

Robert Weemeyer
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Re: Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Beitrag von Robert Weemeyer »

Wenn das Quatsch ist, wie war es denn wirklich?

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Samuel
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Re: Gibt es einen kanonischen Text der Bibel?

Beitrag von Samuel »

Vielleicht hätte ich präziser schreiben sollen: "Als das Griechische nicht mehr überall verstanden wurde" - in Griechenland wurde es weiterhin verstanden. Aber in Rom etwa verstand man (zumal in der wachsenden Kirche immer mehr einfaches Volk war) kein Griechisch mehr, so dass eine Übersetzung in die Volkssprache Latein nötig wurde.

Diesen Übergang vom Griechischen zum Lateinischen kann man übrigens recht genau datieren: Der erste Clemensbrief (ca. 95 n.Chr) und der Hirt des Hermas (ca. 150 n.Chr) sind auf griechisch verfasst; Tertullian (vor 200) schreibt auf Latein, obwohl er des Griechischen nachweislich mächtig war.
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