Irmgard hat geschrieben: ↑Samstag 18. Juli 2020, 20:35
Protasius hat geschrieben:...es handelt sich um Belletristik eines in der Sowjetunion geborenen Russen für den heutigen russischen Belletristikmarkt.
Was zeichnet denn den russischen Belletristikmarkt aus? Das würde mich wirklich interessieren.
Mein Russisch ist leider genauso verbuddelt wie mein Latein, den Krimi werde ich nicht ohne größere Anstrengungen lesen können.
Gruß
Irmgard
Besonderheit des russischen Belletristikmarktes dürfte vermutlich hauptsächlich sein, daß in Rußland allgemein mehr gelesen wird. Allerdings läßt auch das mit der Zeit nach; 1990 wurden in Rußland noch gut anderthalb Milliarden Bücher verkauft, 2004 war es noch eine gute halbe Milliarde. Eine weitere Besonderheit gegenüber dem deutschen Markt ist, daß die Genre-Grenzen nicht so streng sind; in Rußland und auch anderswo in Osteuropa ist etwa das Einweben von fantastischen Elementen in realistische Gegenwartsliteratur oder umgekehrt von realistischen Elementen in die fantastische Literatur (sowohl Fantasy als auch Science Fiction) recht beliebt (bspw.
Olga Slawnikowa). Durch die großen Entfernungen ist zudem das Internet als Vertriebsmedium wichtiger als im vergleichsweise dicht besiedelten Deutschland.
Es ging aber bei diesem kleinen Scharmützel eigentlich in erster Linie um die Rechtschreibung; die Bolschewiken haben nach der Revolution mehrere Buchstaben des kyrillischen Alphabetes
abgeschafft. Das wurde insbesondere von den Emigranten sehr lange bewußt abgelehnt, die teilweise bis in die 70er Jahre ihre Zeitungen und Bücher in der traditionellen Orthographie verfaßten und druckten. Es gibt eine Strömungen, die heute die zaristische Rechtschreibung wieder einführen wollen, aber bis auf ein paar Texte in extrem kleiner Auflage sind das sichtbarste Ergebnis ein paar Firmenschilder, etwa Bäckereien, die Хлѣбъ verkaufen statt хлеб, oder die Zeitung Kommersant, die ihren Titel nach alter Rechtschreibung als Коммерсантъ schreibt und das Härtezeichen Ъ als Logo führt; nach der Rechtschreibreform ist dieser Buchstabe beinahe aus dem russischen Schriftbild verschwunden.
Der Punkt, auf den ich mit dem zitierten Satz eingehen wollte, war, daß – wie auch immer man zur Reform der Rechtschreibung steht – unter den gegebenen Umständen durch die recht einschneidenden Änderungen im Schriftbild und die Gewöhnung der russischen Leser an die reformierte Rechtschreibung es schlicht eine pragmatisches Erfordernis für einen Autor ist die reformierte Rechtschreibung zu verwenden.
Allerdings wird ein Text durch die Rechtschreibung offensichtlich nicht an sich besser oder schlechter. So ist einer der verstörendsten und schockierendsten Texte, die ich je in russischer Sprache gelesen habe, in traditioneller Rechtschreibung geschrieben; es handelte sich um den im
Gulag-Museum in Moskau ausgestellten Beschluß des Rats der Volkskommissare vom 5. September 1918
Совѣтъ народныхъ комиссаровъ, заслушавъ докладъ предсѣдателя Чрезвычайной Комиссiи по борьбѣ с контръ-революцiей о дѣятельности этой Комиссiи, находитъ, что при данной ситуацiи обезпеченiе тыла путемъ террора является прямой необходимостью; […]
Der Rat der Volkskommissare stellt nach dem Referat das Vorsitzenden der Außerordentlichen Kommission für den Kampf mit der Konterrevolution über die Tätigkeit dieser Kommission fest, daß in der gegebenen Situation die Sicherung der Heimatfront auf dem Wege des Terrors eine direkte Notwendigkeit darstellt; […]
Der so genannte ‚Geist’ des Konzils ist keine autoritative Interpretation. Er ist ein Geist oder Dämon, der exorziert werden muss, wenn wir mit der Arbeit des Herrn weiter machen wollen. – Ralph Walker Nickless, Bischof von Sioux City, Iowa, 2009