Robert Ketelhohn hat geschrieben:Sachlich ist diese Unterstellung natürlich Unsinn. Daß freilich auch in Brasilien auf katholischem Boden neben allerhand Freikirchen, Pfingstlern etc. mittenmang auch neuheidnisches Unkraut emporschießt, kann ich mir ohne weiteres vorstellen. Ich sehe ja auch, was bei uns alles möglich ist. – Kennt sich jemand da drüben aus und kann Näheres berichten?
Na, dann will ich mal loslegen:
Ja Robert, gerade in Lateinamerika ist diese Unterstellung leider nicht so ganz unbegründet. Auf dem Boden Lateinamerikas wurde zwar einstmals katholisch gesät, aber die Saat dann in der Folgezeit nicht mehr anständig gepflegt und gejätet. Historisch gesehen haben sich die Spanier und Portugiesen jahrhundertelang begnügt, die Leute zu sakramentieren. In manche Gegenden kam der Pfarrer nur alle heilige Zeit, da wurde dann - oft noch am Bahnhof - getauft, gefirmt, und kommuniziert, dann zog der Pfarrer schon am nächsten Tag weiter und das war's dann meist für einige Jahre. Nur in den wenigen Städten konnte sich so etwas wie Seelsorge und Katechese entwickeln. Im weiten Hinterland war's - und ist's heute noch weitgehend - zappenduster. Da blüht der Aberglaube, der Synkretismus und die Sektiererei. Gerade im Nordosten gab es da Gestalten wie einersets der Ex-Pfarrer und Revoluzzer Antonio Conselheiro von
Canudos oder andererseits der zeitweilig suspendierte und exkommunizierte Pfarrer und "Volksheilige" von Ceará,
Padre Cícero. Da die offizielle Kirche bis heute nur wenig Präsenz in der Fläche zeigt, können solche charismatische Volks(ver)führer viel Einfluss gewinnen (frei nach dem bekannten russischen Sprichwort gilt hier: "Der Bischof ist mächtig, aber bis in die Stadt ist's weit").
Auch in den dichter und seit Jahrhunderten besiedelten Gebieten um Salvador de Bahia war es früher ausreichend, die schwarzen Sklaven nur zu taufen. Weitergehende Katechesen und Glaubensunterweisungen war selten. Entsprechend viel Einfluss behielt das aus Nigeria stammende Candomblé-Heidentum. Den Göttern wurden einfach katholische Heilige zugewiesen, so wurde die sich fortsetzende Vielgötterei lediglich äußerlich kaschiert. Diese Vorstellungen gelangten im Laufe der Zeit in weite Kreise der Bevölkerung und sitzen dort bis heute.
Ein weiterer Grund für die Schwäche der katholischen Kirche war schon die Vertreibung der für die Großgrundbesitzer und Sklavenjäger lästigen Jesuiten. Es war zu Beginn der Kolonialzeit nicht unüblich, dass sich die Kolonisten recht freizügig an den Frauen der Einheimischen und der Sklaven bedienten. (Ultra æquinoctialem non est peccatur). Da waren die Moralpredigten der Jesuiten natürlich lästig. Ausserdem forderten diese so etwas wie Menschenrechte für die "Wilden" und bauten in den Missionsstationen im heutigen Paraguay, Nordargentinien, Ostbolivien und Südbrasilien blühende Siedlungen, die für Sklavenjäger tabu waren und sich notfalls auch mit Waffengewalt zu verteidigen wussten. Die Latifundiarios und Sklavenjäger hatten Interesse an den Besitzungen (Land und Menschen) der Jesuiten und hatten gute Lobbyisten in Rom, Madrid und Lissabon und erreichten so, dass die Jesuiten vertrieben wurden und die Kirche sich auf die reine Sakramentenverwaltung in den Städten beschränkten musste und die Weiten des Hinterlands der Gnade der Latifundiarios überlassen mussten. Diese hielten sich gewöhnlich einen "Hauspfarrer", der sich aber nicht unterstehen durfte, zu viel Zeit mit den gewöhnlichen Leuten zu verbringen, da ja der Patrão/Patrón ihn schließlich bezahlt. Im Zuge der von Freimaurern getragenen Aufklärung im 18. Jhd. (Marquês de Pombal!) wurden die Klöster weitgehend enteignet und aufgelöst, weitere Wellen des Kirchenkampfes waren zu Beginn der Unabhängigkeit (viele Geistlich hielten noch zu Portugal) sowie zu Beginn der Republik (ca. 1890) und weiter bis in die jüngste Vergangenheit. Es wurde zwar der Schein der Religionsfreiheit gewahrt, aber de facto war die Kirche mehr oder weniger kaltgestellt.
Das war jetzt zwar etwas vereinfacht Schwarz-Weiss-Malerei, aber im Grunde eine Erklärung dafür, daß hier in diesem verwilderten katholischen Garten die Sekten wuchern, blühen und gedeihen. Wer nie von seinen Geistlichen zu Gebet, Bibellesung und Studium des Glauben angehalten wurde, sondern einfach - wenn überhaupt - ein paar mal im Jahr zur Messe und auch zu den Terreiros des
Macumba oder die Casa Espírita der
Kardecisten geht, der wird, wenn er die Botschaft Jesu von Protestanten und Sekten hört, ersteinmal überrascht sein und folglich die katholische Kirche dafür verantwortlich machen, dass sie die Botschaft von Jesus nicht lehrte, sondern irgendwelche Häresien verbreiten würde.
In den letzten Jahrzehnten hat die Kirche in Brasilien aber auch viel dazugelernt, die Pastoral wurde enorm gestärkt und es wird großer Wert auf die ordentliche Schulung von Katechisten und Gemeindeleitern gelegt. Überhaupt ist bei dem großen Priestermangel dort (Pfarreien mit 100.000 und mehr Katholiken sind nicht selten und in den großen Städten eher die Regel!) der Einsatz der Laien unerläßlich, will man nicht in die Fehler der vergangenen Zeit zurückfallen. Es gäbe dazu noch viel zu schreiben und noch viel mehr zu sagen, aber das würde einen eignen Strang erfordern, und selbst dann wären wohl noch viele Erklärungen und Anmerkungen notwendig.
Ich war übrigens am Rande der Bundesversammlung des Deutschen Kolpingwerks im Oktober 2008 in Essen in der Geschäftsstelle von Adveniat. Dort hat deren wissenschaftlicher Mitarbeiter, Herr Huhn, ein Historiker, uns, die wir mit Kolping internationale Projektarbeit betreiben, etliches an zusätzlichem Hintergrundwissen über die Lage der Kirche in Lateinamerika und deren historische Grundlagen vermittelt. Höchst interessant! Den Mann kann ich nur empfehlen. Er hält übrigens im Raum des Ruhrgebiets bis Köln und darum herum gerne Vorträge und Referate darüber, Anfragen über die Adveniat-Geschäftsstelle in Essen.
So, das war jetzt aber ein wenig ausführlicher als sonst, es muss aber sein, sonst versteht man die Hintergründe nicht.