Ich sehe im Wesentlichen drei Konzeptionen von Kirche: die römisch-katholische Konzeption mit dem Primat des Papstes, die orthodoxe Konzeption mit der Bindung autokephaler Kirchen an die Tradition der Sieben Ökumenischen Konzilien und die Lehren der Heiligen Väter und schließlich die evangelische mit den Prinzipien "allein die Gnade, allein Christus, allein der Glaube, allein die Heilige Schrift". Dies als grober, holzschnittartiger Entwurf, bei dem etwas stark vereinfachend im evangelischen Bereich nicht zwischen lutherisch, reformiert und sonstigen freikirchlichen Traditionen unterschieden wird (und dies auch mit gutem Grund, wie ich noch ausführen will).
Mir fällt auf, dass alle drei Konzeptionen ihre Vor- und Nachteile haben. Für Vorteile müsste man vielleicht besser "geistlicher Reichtum" sagen.
Der Reichtum bzw. die Vorteile: In der Orthodoxie das gottesdienstliche Leben, die persönliche Spiritualität, die Ikonen, das Mönchtum und vieles mehr. Im evangelischen Bereich die persönliche Bibelfrömmigkeit, der Reichtum der Kirchenmusik nebst Gemeindegesang/Kirchenlied (J.S. Bach, Paul Gerhardt, Mendelssohn-Bartholdy etc.). Im römisch-katholischen Bereich die kirchliche Organisation, die scholastische Theologie, der Primat des Papstes, der gegebenenfalls Entscheidungen fällt und endlose Debatten dadurch verhindert. Außerdem ist die römische Kirche die einzige Weltkirche, die dieses Wort verdient.
Nun die Nachteile bzw. die Gefährdungen:
Folgende Gefährdungen sehe ich bei der Orthodoxie: Erstarrung und Neigung zum Nationalismus und zur Staatsdienerei. Damit zusammenhängend eine Hemmung in echter ökumenischer Begegnung.
Die Gefährdungen des Protestantismus sind längst nicht nur Gefährdungen: Endlose Zerspaltung in immer noch bibeltreuere Kirchen und Gruppen. Die Reformation hat eine Spaltungsbewegung eingeläutet, die in der Kirchengeschichte ohne Gleichen ist. Man fühlt sich an den Rat des Gamaliel erinnert... Damit zusammen hängt die Anbiederung der evangelischen Kirchen an Staat und Gesellschaft. Man fürchtet das Urteil der Öffentlichkeit mehr als das Urteil Gottes. Deshalb macht es auch Sinn, von einem evangelischen Bereich zu sprechen und die verschiedenen Traditionen zusammenzufassen, weil eben die Zerspaltung leider zum Wesensmerkmal einer Bewegung gehört, die sich das "allein" auf die Fahnen geschrieben hat.
Die Gefährdung der römischen Kirche ist natürlich die, in einem blind gewordenem Gehorsam gegen den Papst die Wahrheit nicht mehr zu erkennen. Außerdem haben verweltlichte und machtgierige Päpste (vor allem während der Reformationszeit) wesentlich zur Zerspaltung der Kirche beigetragen.
Trotzdem muss ich in der Summe sagen: Während die Orthodoxie in der Gefahr ist, auf der einen Seite vom Pferd zu fallen, und die evangelischen Kirchen in der Gefahr stehen, auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen, scheint mir die römische Kirche in einer beeindruckenden Weise "via media" zu sein: einerseits ganz mit der Tradition der Kirche verbunden zu bleiben und andererseits doch in die Zukunft schreiten zu können. Sie erliegt weder dem Liberalsimus, wie dies ohne Zweifel die evangelischen Kirchen tun (und als Reaktion sich deshalb mehr und mehr zerspalten), noch erliegt sie einer Erstarrung in der Tradition, wie dies viele Orthodoxe für ihre Tradition beklagen. Und - und dies scheint mir im Blick auf das Papstamt ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt zu sein - sie hat sich am erfolgreichsten aller Traditionen dem Zugriff durch den Staat bzw. die Nation, das Volk widersetzt. (Übrigens hat das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes von 1870 dort einen ganz wichtigen historischen Kontext, nämlich der Kulturkampf in Preußen bzw. im Deutschen Reich unter Bismarck. Die katholische Kirche in Deutschland stand damals vor der genau gleichen Versuchung, der die evangelische Kirche dann erlegen ist: nämlich aus dem Kontext der Weltkirche herausgelöst und zur Nationalkirche zu werden, letztlich staatsdienerisch. Diese Linie führte in Deutschland evangelischerseits sechzig Jahre später dann zur Kirche der Deutschen Christen. Aber dies nur als historische Fußnote.)
So, jetzt könnt Ihr ja die Schwerter und Spieße auspacken...
