Hallo Elmar, deine leicht allergische Reaktion auf den Begriff „Dogma“ hilft nicht allzu sehr bei der Klärung des Problems. Eigentlich ist das Dogma nichts anderes als die Lehre, die wir von den Aposteln her empfangen haben: also der Glaube der Kirche. Da gab es dann im Laufe der Jahrhunderte auch zweifelhafte Fragen, die das Lehramt der Apostelnachfolger durch förmliche Definitionen geklärt hat, im Vertrauen auf den zugesagten Beistand des Heiligen Geistes.
Für große Teile des Dogmas bedurfte es solcher Definitionen jedoch bis heute nicht. So auch nicht für die Frage, ob die selige Jungfrau außer Jesus weitere leibliche Kinder gehabt oder ob Jesus selbst leibliche Brüder gehabt habe.
Du glaubst, in der Schrift selbst Argumente dafür zu finden, diese Fragen bejahen zu können – entgegen der Tradition schon der Urkirche, die, nebenbei bemerkt, dieselben Heiligen Schriften hatte wie wir, ihnen allerdings zeitlich und sprachlich bedeutend näher stand. – Laß mich kurz begründen, weshalb du irrst, zunächst anhand der alttestamentlichen Zitate. Sie belegten, so meinst du, das Hebräische (oder Aramäische) habe durchaus die Begriffe „Bruder“ und „Vetter“ unterscheiden können. Das ist falsch. Für beides gibt es nur ein Wort: 'ach.
Das Griechische dagegen könnte durchaus unterscheiden: ἀδελϕός – „Bruder“, ἀνεψιός – „Vetter“, συγγενής – „Verwandter“. Wie verwenden nun die von dir zitierten Texte diese Begriffe? – Im Buch Leviticus (25,49) steht in der griechischen LXX für den Begriff „Vetter“, den deine Übersetzung bringt, nicht ein einziges Wort, sondern drei: υἱὸς ἀδελϕοῦ πατρὸς – „Sohn des Bruders des Vaters“. Das hebräische Original hat hier zwei Wörter, nämlich: „Sohn des Onkels“.
Hebräisch sind beide Begriffe für sich durchaus mehrdeutig. Das Wort für „Onkel“ kann auch so viel wie „Geliebter“ bedeuten, „Sohn“ auch ganz allgemein „Abkömmling“, „Enkel“, „junger Mann“. In der konkreten, etwas komplizierten Formulierung (erst recht auf griechisch) wird aber deutlich, daß hier eine konkrete Verwandtschaftsbeziehung beschrieben werden soll, genauer als es mit dem sonst gebrauchten Wort 'ach möglich wäre. Das findet sich in dieser Konkretheit jedoch selten in der Schrift.
So etwa auch nicht im zweiten Maccabæer-Buch. Deine Stellenangabe (II Mcc 4,26) ist übrigens falsch, dort steht was ganz anderes. Dein exaktes Zitat finde ich auch anderswo nicht, wohl aber zwei sehr ähnliche Stellen: II Mcc 11,1.35. Dort ist aber nirgends von Lysias als einem „Vetter“ des Königs die Rede, sondern bloß allgemein als von einem Verwandten (συγγενής). Der „Vetter“ deiner Version dürfte also auf das Konto des Übersetzers gehen. Vielleicht kannst du ja die genaue Stelle noch mal angeben, die du meintest. Nebenbei bemerkt: II Mcc ist im Original griechisch verfaßt.
Ein hübsches Beispiel ist dagegen die dritte Stelle, die du anführst (Tb 7,2). Hier sind uns zwei deutlich voneinander abweichende griechische Fassungen überliefert, eine durch die Codices Alexandrinus und Vaticanus, die andere durch den Codex Sinaiticus.
Cdd. Alex. Vat.: καὶ εἶπεν Ραγουηλ Εδνα τῇ γυναικὶ αὐτοῦ Ὡς ὅμοιος ὁ νεανίσκος Τωβιτ τῷ ἀνεψιῷ μου.
Cd. Sin.: καὶ εἶπεν Εδνα τῇ γυναικὶ αὐτοῦ Ὡς ὅμοιος ὁ νεανίσκος οὗτος Τωβει τῷ ἀδελϕῷ μου.
Die erste Variante übersetzt hier – dem Sinn des Kontexts entsprechend – eindeutig „Vetter“, während der Sinaiticus – jenen unbestimmten Begriff „Bruder“ bringt, welcher in der LXX auch sonst fast immer das hebräische 'ach wiedergibt.
Doch wie fahren Vaticanus und Alexandrinus fort? – Tb 7,3 par.: Πόϑεν ἐστέ, ἀδελϕοί; – Und Tb 7,4 par.: Γινώσκετε Τωβιτ τὸν ἀδελϕὸν ἡμῶν; – In den beiden unmittelbar folgenden Versen wird also auch hier der Begriff Bruder (ἀδελϕός) in allgemeiner Weise gebraucht, nicht den leiblichen Bruder bezeichnend.
Dasselbe wirst du durchgängig im Alten Testament immer wieder finden. Oder frag heutige Orientalen. Oder mich. Ich kann dir nämlich erzählen, wie ich lange Zeit Schwierigkeiten hatte zu verstehen, wen meine Frau – die aus Odessa stammt – meinte, wenn sie von ihrer „Schwester“ sprach. Manchmal meinte sie tatsächlich ihre leibliche Schwester, häufiger aber sogar ihre Cousine.
Deine neutestamentlichen Stellen geben auch nicht mehr für deine These her. Daß Paulus im Colosserbrief einmal den konkreten Begriff für Vetter (ἀνεψιός) gebraucht, besagt nicht viel für die Verwendung des Begriffs ἀδελϕός – „Bruder“. Vielmehr zeigt sich, wenn man die Stellen durchgeht (nicht nur die von dir angeführten), daß das griechische Neue Testament den Brauch der griechisch-jüdischen LXX fortsetzt, ἀδελϕὸς bald im konkreten Sinne, bald im allgemeinen zu gebrauchen.
Die Stellen, die von Jesu „Brüdern“ reden, sind bereits, wenn man sie für sich nimmt, sehr allgemein gehalten und erinnern rein sprachlich an die unbestimmte Verwendung im oben beschriebenen Sinne. Das ist jedoch sehr vage und berechtigt nicht zu weiteren Schlüssen. Gewichtiger ist, was ich gestern bereits dargestellt habe: daß gerade dort, wo man eine Erwähnung leiblicher Geschwister Jesu (oder auch leiblicher Kinder Josephs) erwarten würde, sich keinerlei Andeutung auf ihre Existenz findet.
Es kommt aber noch eines hinzu. Mt 13,55 macht ja einige „Brüder Jesu“ namhaft. Zwei davon – Jacobus und Joses (oder Joseph) –identifiziert Matthæus selber: als Söhne einer der „anderen Marien“ (Mt 27,55-56); entsprechend auch Mc 15,40-41.47; 16,1; Lc 24,10. Die andern, Judas (Thaddæus) und Simon (vermutlich der „Zelot“) lassen sich durch Hegesipps Berichte identifizieren. Simon (oder Simeon) war jener Emmausjünger, der später als Nachfolger des Jacobus (des Herrenbruders, wahrscheinlich identisch mit dem „Kleinen“) zweiter Bischof von Jerusalem wurde.
Ihr Vater war ausweislich der Schrift jener Cleophas oder Clopas (vgl. Jo 19,25), Mann der „anderen Maria“, den die urkirchliche Tradition als zweiten Emmausjünger und Bruder (oder engen Verwandten) Josephs kennt, des Nährvaters Jesu.
Dein abschließendes Argument endlich, Matthæus (Mt 1,25) berichte »explizit, daß Joseph Maria lediglich während der Zeit ihrer Schwangerschaft nicht berührte«, habe ich kürzlich schon in einem Nachbarstrang besprochen; dort hatte Platon-Carlos ähnliche Schwierigkeiten mit der Stelle Mt 1,25.
Kurz gesagt, steht dein »lediglich« an der falschen Stelle. Nicht etwa berichtet Matthæus »explizit, daß Joseph Maria lediglich während der Zeit ihrer Schwangerschaft nicht berührte«, sondern Matthæus berichtet lediglich, daß Joseph Maria vor der Geburt Jesu nicht erkannte. Über die Zeit hernach sagt der Evangelist an dieser Stelle nichts.
Was sei denn, so fragst du zum Schluß, »Verwerfliches an einer Maria, die mehre Kinder hatte«? – Davon redet doch keiner, Elmar. Aber Gottes Plan für Seine Mutter war offenbar ein anderer. Darum möchte ich zurückfragen: Weshalb versuchst du »mit so enormem Aufwand« hinwegzuerklären, was die Kirche von Anfang an überliefert hat? Wäre es nicht angemessener zu fragen, welche zeichenhafte Bedeutung es für mich hat, daß es dem Herrn gefiel, aus der Jungfrau Fleisch anzunehmen? Daß Seine Mutter immerwährend Jungfrau bleibt?